Kindertransport nach Großbritannien
Jugendliche aus einem Kindertransport berichten am 25. Dezember 1938 über ihre Aufnahme in Großbritannien:
Anfang Dezember wurden die Kinder und Jugendlichen in verschiedenen deutschen Städten verständigt, dass sie sich für einen Transport nach England schnellstens bereit machen sollten. Es waren Kinder aus Wien (etwa 600), Berlin (200), Hamburg (200) und verschiedenen kleineren Städten. Jedes Kind sollte nur, soviel es selbst tragen konnte, mitnehmen. Es erwies sich bald, dass sehr viele sich unzweckmässig ausgerüstet hatten, zumindest im Hinblick auf das kalte und nasse Lager Lowestoff, das etwa 600 von ihnen aufnahm.
Die Grenzkontrolle war zum Teil sehr scharf, zum Teil harmlos. In Holland gab es einen sehr warmen Empfang, der allen Kindern noch in guter Erinnerung ist. In England wurden die aus verschiedenen Gegenden des Reiches kommenden Kinder vereint. Das hat anfangs gewisse Schwierigkeiten gemacht, die Kinder waren voll von Vorurteilen gegen die aus anderen Gegenden stammenden, andere wieder behaupten, dass sie erst nach Kennenlernen ihrer Kameraden ihre ungünstigen Eindrücke gewannen.
Die Kinder, die in Lowestoff untergebracht wurden, fanden dort recht ungünstige Bedingungen vor. Die Gegend ist zwar sehr schön, ein idealer Badestrand für den Sommer, aber es war in den ersten Tagen dort sehr nass, in den späteren Tagen ungewöhnlich kalt. Gegen Nässe und Kälte bot das Lager wenig Schutz. Die Kinder schliefen in Holzhütten, eigentlich Badehütten, die Tagräume waren sehr gross und nur durch verschwindend kleine Ofenanlagen zu heizen.
Zudem waren anfangs keine Gruppenleiter vorhanden, sodass es nur wenig Organisation und Ordnung gab. Im Laufe der ersten Woche erschienen allmählich Gruppenleiter, aber es blieben Organisation und Ordnung mangelhaft; alle Anstrengungen dieser Leiter gingen fast nur dahin, ihren Leuten ein wenig Schutz gegen Kälte und Hunger zu verschaffen. Der etwas chaotische Zustand hatte manche unerwünschte spontane Gruppenbildung zur Folge. Ausser dem oben genannten regionalen Gegensatz bildeten sich einige andere: z. B. zwischen „Juden“ und „Christen“, zwischen den einzelnen Gruppen und zwischen einzelnen Leuten.
Besonders unangenehme Folgen des Wetters waren in Lowestoft das Einfrieren der Wasserleitungen und das Demolieren der Hüttentüren durch den Sturm. Das erste hatte das Unbrauchbarwerden der Klosets, Waschräume etc. zur Folge. Das zweite das Unbrauchbarwerden vieler Wohnstätten. Die Gruppenleiter mussten fast vollständig auf hygienische und Reinlichkeitsforderungen verzichten.
Die Verpflegung in Lowestoff war ungleichmässig, aber auch durch Organisations-, Verteilungs- und Disziplinmangel gestört. Es konnte keine rechte Tageseinteilung gemacht werden. Man war froh, wenn man wenigstens einen Teil des Tages nicht fror. Es waren aber gute Programme zur Beschäftigung und Belehrung der Jungen und Mädchen bereit.
Nach wenigen Tagen wurden fast alle Mädchen des Lagers an andere Plätze geschickt. Es war dies unter den schwierigen lokalen Umständen eine notwendige Massnahme. Ebenso begann bald die Räumung des Lagers, beginnend mit den jüngeren Jahrgängen. Am Montag, den 12.XII., waren die Kinder in Lowestoft angekommen, am 21.XII. war das Lager wieder annähernd geräumt. Es ist immerhin bemerkenswert, dass keine ernsten Erkrankungen vorgefallen sind.
Die Gruppe, die diesen Bericht schreibt, wurde nach Broadstairs, Kent, geschickt. Andere Gruppen wurden nach Southwald, Leeds u.a. Orten gesandt.
Unsere Gruppe besteht aus 90 Jungen im Alter von 14-17 Jahren. Sie sind augenblicklich in 4 etwa gleich grosse Untergruppen und ebensoviele Häuser aufgeteilt.
Die Fahrt von Lowestoft nach Broadstairs führte über London, wo das Komitee einen Imbiss vorbereitet hatte. Am aufregendsten war aber die Autobusfahrt von einem Bahnhof (Liverpoolstreet) zum anderen (Victoria). Spät nachts kamen wir in Broadstairs an.
Wir hatten hier einen sehr freundlichen ersten Eindruck. Das Klima schien uns viel milder und ruhiger zu sein als in Lowestoft. Wohl lag auch Schnee, aber kein scharfer Wind blies um uns. Wir fuhren und gingen zum Rekonvaleszentenheim St. Mary, wo wir für den ersten Tag und die erste Nacht alle Quartier bekamen. Dieses Heim wird von Nonnen der anglikanischen Kirche geführt, die uns sehr freundlich empfingen und bis heute ausserordentlich durch Rat und Tat helfen.
Am anderen Tag suchten wir unsere jetzigen Quartiere auf. Wir wohnen:
1. Gruppe Dr. Paul Bergmann, 17 Stone Road, Tel. 124
2. Gruppe Dr. Willi Pollak, Stone Road, Tel. 85
3. Gruppe Mr. David Harland, Henley Lawn, Crow Bill, Tel. 117
5. Gruppe Nurse Paopworth und Nurse Jameson, St. Marys Home, Tel. 639.
Die 4. Gruppe wird in einigen Tagen auch, wie die anderen, in ein privates Quartier übersiedeln. Die Häuser sind nette Quartiere mit Tagräumen, die gut geheizt sind und Radio, Klavier, Gesellschaftsspiele haben. Die Schlafräume enthalten zwischen 1 und vier Betten. Sie sind nicht warm, aber wir sind - nach Lowestoft - mit ihnen sehr zufrieden. Es gibt heisses Wasser nach Belieben; das Essen ist in jedem Quartier verschieden, augenblicklich sind Bemühungen im Gange, den Standard in den schlechteren Häusern auf den der besseren zu bringen.
Broadstairs liegt an der Nordsee, wir sehen von unseren Fenstern unmittelbar auf das Meer. Es ist ein Kur- und Badeort von etwa 16 000 Einwohnern, wirkt jedoch als tief friedliche wohlhabende Kleinstadt. Ein einziger Strassenzug sammelt alle Geschäfte und Kinos, alles andere sind Villen, Rekonvaleszentenheime, Hotels und dgl. m. Das Land ist hügelig, böte bei dem gegenwärtigen Wetter, das aber ganz ungewöhnlich ist, gute Gelegenheit zum Skifahren.
Wir suchen nach Arbeit für die Jungen. Wir langweilen uns nicht, aber wir wollen doch lieber durch nützliche Betätigung uns den Engländern dankbar erweisen und dabei etwas selbst lernen. Einige haben zwar ständig Küchendienst, andere helfen dies und jenes, aber wir hoffen, dass richtige handwerkliche und andere Arbeiten uns bald ermöglicht werden. 8 Jungen werden ab morgen tagsüber im Hospital von Margate zu Hilfsdiensten Verwendung finden, einer wird bei einem Elektrotechniker Unterkommen, aber für die meisten haben wir noch nichts. Allerdings soll ja der hiesige Aufenthalt für alle nur ein Provisorium vor ihrer Unterbringung in Familien und Arbeitsplätzen sein. Aber trotzdem wäre nützliche Arbeit schon jetzt notwendig. Es ist übrigens nicht jede Arbeit willkommen, wie wir erfahren haben. Wir haben angeboten, an der Schneereinigung mitzuwirken, aber wurden mit Dank abgelehnt, da es im Ort unbeschäftigte Arbeitslose gibt, die uns Gratisarbeit übelnehmen könnten.
Unsere Beziehungen zur Bevölkerung des Ortes, Komitees und Einzelpersonen, sind die denkbar besten. Wir sind immer wieder gerührt von der uns unwahrscheinlich scheinenden Freundlichkeit der Leute aller Bevölkerungsklassen, die uns, da es gerade Weihnachten ist, auch in Form von vielen und vielerlei Geschenken entgegentritt. Wir wurden ins Kino, zu sportlichen Veranstaltungen usw. eingeladen und hoffen, bisher nicht allzuviel Anstoss durch Unkenntnis der englischen Höflichkeitsregeln erregt zu haben. Unsere englischen Mitarbeiter helfen uns natürlich gerade dabei besonders.
Unsere Stimmung ist ausgezeichnet, wir sind gewiss oft am Tage in vollkommenem Vergessen der deutschen Dinge und auch unserer eigenen unklaren Zukunftsaussichten. Der Zusammenhalt der Jungen ist ausgezeichnet, die Leiter der Gruppen arbeiten ohne Reibung und gern miteinander, es bleibt fast nichts an Arbeit für die zentrale Leitung der Gruppen in Broadstairs. Denn die Anzahl der Gruppen und die der Jungen in jeder Gruppe ist nicht so gross, dass sie leicht zu handhabende menschliche Kontakte unmöglich machte.