Lage der Juden in Breisach
Leopold Breisacher schildert am 30. November 1938 seinem nach Palästina emigrierten Sohn die Situation der Juden nach dem Novemberpogrom:
Lieber Sigmar!
Heute will ich mich mal anstrengen, Dir ebenfalls eine große Litanei zu schreiben, denn nach den letzten Vorkommnissen ist Grund + Ursache dazu genügend vorhanden. [...] Also wie die lb. Mama geschrieben hat, es wird von Tag zu Tag mieser, + ist man froh, wenn man nicht auf die Strasse braucht. Es beelendet einen direkt, wenn man durch die Judengasse läuft, sieht den Trümmerhaufen von Syng. So ist es in ganz Aschkenas [Deutschland]! Nicht eine ist mehr ganz! Was viele sonst noch mitgemacht haben, ist nicht auf das Papier zu bringen. Ohne Makkes [Schläge] kam selten einer weg, oder er sagt eben Schkorem [Lügen]. Ich selbst kann zufrieden sein, + bin ziemlich .glimpflich' geschlüpft. Bernheim6 ist schwer mekeimet [geschlagen] worden, + ist sozusagen gemeimet [getötet] worden. So noch viele andere. Leute bis zu 82 Jahren mußten exercieren, mein Junge, aber genug davon. Heute früh steht vor unserem Hause mit ganz großer Schrift + mit rot [...] geschrieben: Judengeschäft' & dabei ein Pfeil bis direkt an die Treppe. Das kann nur unser Schuchen [Nachbar] gewesen sein. Uns steht es gut, bis die Stadt es wieder wegmachen läßt, denn schaden tut’s ja nichts mehr, es kommt doch kein Goi [Christ] mehr. Nun von Dachles [zur Sache], Warum kannst Du nicht anfordern lassen? Mir scheint, daß Du Dich nicht richtig erkundigt hast. Oder können wir uns dieserhalb in Deutschland wo hinwenden? Wir gingen am liebsten dahin, wo es am raschesten ging. Können wir nach Erez [Land Israel], könntest Du auch dort bleiben, da Du doch nicht gerne fortgehst? Also strenge Dich an! Hier ist auf alle Fälle keines Bleibens mehr, und der Boden wird immer heißer. Wer weiß, was für eine misemishime [scheußlicher Tod] der meiloch [König, gemeint: Adolf Hitler] wieder vorhat, denn wenn er den Dalles [die Armut] wieder hat, sucht er wieder Schikanen und das geganweste mes [das geklaute Geld] hat er sicher in 1-2 Jahren wieder weg. Gibt es bei Euch Tabak und Zigarren zu rauchen oder nur Zigaretten? Nun ist mein Pensum so ziemlich erschöpft. Zu Deinem bevorstehenden Geburtstage wünsch ich Dir [... ] alles Gute und will Dir gleichzeitig herzlich gratulieren. [...] Apropos, es waren hier noch im ganzen 7 Gottesdienstteilnehmer, also kein Minjan [Zahl von zehn Männern, die zur Feier des Gottesdienstes nötig sind]. Jetzt sind wieder etwa 18 gekommen, alle über 60 mit Ausnahme von Herbert Greilsamer, der vorgestern kam. Mit dem Hausverkauf ist es so eine schwierige Sache, wir wollen uns doch vorher erkundigen, bevor man etwas unternimmt. Zum Herschenken langt’s immer noch, und umziehen, bevor man auswandert, ist auch kein Vergnügen. Du kannst Dir beim Hausverkauf lang Wohnungsrecht bis zur Auswanderung, sogar schriftlich, ausbedingen. Sie putzen den Daches [Arsch] mit dem Schriftlichen und werfen Dich doch hinaus. Also meine ich, es ist Zeit, bis man etwas endgültiges in Aussicht hat. Viele verkaufen ihr Haus überhaupt nicht, und zum Herschenken langt’s immer noch.
Also viele Grüße und Küsse
Dein Papa