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Chronik und Quellen
1939
September 1939

Krieg und Zukunft des Judentums

Der „Aufbau“ beschäftigt sich am 15. September 1939 in einem Artikel mit der Bedeutung des Kriegs für die Zukunft des Judentums:

„Auserwählt -“auch in diesem Kampf.
Des ganzen Judentums Schicksal steht auf dem Spiel

Nun hat die Welt ihren Krieg. Den Krieg, den sie verhüten wollte und den zu verhüten sie nichts tat. Egoistisch-soziale Interessen und eine fast unbegreifliche Stupidität im Begreifen der Situation auf der einen Seite, Größenwahn, Blutdurst und ein manischer Imperialismus auf der anderen haben es zuwege gebracht, daß Europa in ein Schlachtfeld verwandelt wurde. Über den ganzen Erdteil spannt sich ein blutiger Himmel. Und er weint blutige Tränen über sein verlorenes Kind Erde.

Zwischen den Völkern stehen wir Juden. So fern stehen wir diesem Geschehen, daß nicht einmal ein Hitler uns mehr als durch ein paar herausgebrüllte Gewohnheitsphrasen in Berührung zu dem gesetzt hat, was an Grauenhaftem nun geschieht. So fern stehen wir und so nah zugleich, daß der Körper unseres Volkes nicht weniger zerrissen und zerschmettert, gequält und geschändet wird von Feuer und Blei als der anderer Nationen. Wenn einer vor diesem Krieg hat zittern müssen, weil er um seine Brüder bangte, so war es der Jude. Es mag ein paar unter uns geben, die aus unbeherrschtem Haß und natürlicher Rachsucht freudig erregt die Weltbrandstifter von Berlin in ihre furchtbarste Probe hineintaumeln sahen, aber wer über sich und die Grenzen seiner unreinen und unklaren Gefühle hinaussah, der wußte von vornherein, daß, wenn auch der Jude nichts mit dem Krieg zu tun hat, er von seinem Ausgang abhängt. Diesem Krieg wird und kann niemand entgehen. Die meisten Menschen stehen erst am Anfang des Begreifens. Er ist des Weltkriegs zweiter Teil und wird in seinen Folgen weiterhin die uns gewohnten Lebensformen zerstören. In unreparierbarer Breite und Tiefe. Was an Scheußlichem bereits geschehen ist, ist ein freundliches Kinderspiel gegen das, was noch kommen wird. Die Plätze, auf denen gekämpft wird, sind kleine und enge Bezirke gegen das Ausmaß der Felder, auf denen das Ende entschieden werden wird. Wer mit biblischen Worten sprechen will, kann ruhig sagen, daß hier eine letzte und äußerste Prüfung von höllischen Ausmaßen gekommen ist und daß auf weiten Strecken der Erde kein Stein auf dem anderen bleiben wird. Niemand von uns weiß, wie die Welt am Ende dessen aussehen wird, was jetzt begonnen hat. Manche Staatsmänner sprechen vom Kampf bis zum „bitteren Ende“. Sie stellen sich darunter noch etwas vor. Alles, was jetzt geschieht, ist vorläufig noch faßbar. Aber bald wird alles unfaßbar sein! Was jetzt in Polen vorgeht, diese Zerstampfung eines ganzen Landes, in dem das Kind im Mutterleib bereits nicht mehr sicher ist und Hospitäler für tuberkulöse Mädchen bereits zum Bombenobjekt entmenschter Flieger werden, was in diesem Land geschieht, dessen Felder und Bewohner in einen roten Saftbrei aus zersplittertem Menschenfleisch und zerwühlter Erde zusammengekocht werden, das ist erst der Anfang. Noch sind die Gase nicht losgelassen, noch brach das Feuer nicht aus den Flammenwerfern, noch hat die Vergiftung der Ströme und die Entfesslung des Bazillentodes nicht begonnen.

Dieser Krieg wird das scheußlichste und umfassendste Morden werden, das die Welt gesehen hat. Er muß es werden, weil er von den scheußlichsten und gründlichsten Mördern begonnen wurde, die sich je zu Volksführern aufgeworfen haben. Nicht umsonst hat Hitler den barbarischen Dschingis Khan zum nordischen Arier ernannt. Er brauchte für sein Vorbild den Rassentitel.

Auf solch einen Krieg müssen wir Juden uns einstellen. Wir sind ohnmächtig und schwächer denn je. Drei Millionen allein von uns in Polen sind im Augenblick vor den Gewehren ihrer Todfeinde. Millionen sind behaftet mit dem Aussatz elenden Flüchtlingstums in aller Welt, nicht wissend, über welche Grenzen sie morgen gejagt werden. Nur ein kleiner Bruchteil lebt unter einem günstigeren Himmel. Ja, auch das Land der Zukunft jüdischer Jugend, Palästina, starrt in Waffen, und diese Waffen werden von Juden getragen.

Und deshalb ist dieser Krieg, zu dem wir nichts getan haben in seinen Ursachen und Zielen, auch unser Krieg. Weil es um unser Leben geht. In diesem Krieg entscheidet sich noch viel gründlicher als das Schicksal anderer Völker das Schicksal des jüdischen. Von dem Ausgang dieses Krieges hängt die Zukunft jedes einzelnen von uns ab. Man kann sich nicht früh und rechtzeitig genug, nicht tief und ernsthaft genug dieser entscheidenden Wahrheit bewußt werden. Denn durch die Kräfte, die diesen Krieg gewinnen werden - und niemand weiß, welche Kräfte das sein werden -, wird wesentlich die gesamte Zukunft des Judentums mitbestimmt werden.

Dieser Krieg ist ja nicht nur ein Krieg der Leiber, sondern auch grundsätzlicher, moralischer Haltungen, so sehr er auch aus den Gasen einer Jauchegrube voll Unmoral in diesen sonnendurchwärmten Herbst hineinexplodiert ist. Und so müssen wir zur Sympathie und zur Tat, die wir im Kampf gegen das Böse stellen, noch eines hinzufügen: den Glauben an den Wert, den wir als ein in einer göttlichen Moral zusammengehaltenes Volk für diese Welt darstellen, in der alle Begriffe schwanken. Wenn der so off töricht ausgelegte Begriff „auserwählt“ einen zeitlichen Sinn in diesen Tagen des beginnenden Chaos hat, so den, daß uns neben dem äußersten Einsatz der Kampfbereitschaft mit allem, was wir sind und haben, noch die tausendfach schwerere Aufgabe zufällt, unseren Menschheitsglauben an Recht und Moral aus dem Tumult zu retten. Nicht nur für uns, sondern für die Welt.

Das ist der Sinn der großen Schicksalsstunde, die mit furchtbar donnerndem Schlag sich für uns angekündigt hat.

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