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Chronik und Quellen
1939
September 1939

Prognose zum Kriegsbeginn

Der nach Jerusalem ausgewanderte Historiker Arnold Berney hält am 2. und 3. September 1939 in seinem Tagebuch düstere Prognosen zum Kriegsbeginn fest:

2. 9.1939

Der reichsdeutsche nationalsozialistische Kurzwellensender berichtete von zahlreichen Grenzzwischenfällen und fügte hinzu: aus alledem wurde die innere Auflösung und Demoralisation der polnischen Armee sichtbar.

Wenn Ihr so tapfer, so soldatisch, so ritterlich seid: warum dann diese schwache, erbärmliche, überdies dumme und verhängnisvolle Verkleinerung des Feindes? Aber so seid Ihr: Ihr habt auch Eure inneren Feinde nicht in männlicher Weise geschlagen und dann ihnen in ritterlicher Weise dieses oder jenes Existenzrecht belassen; sondern Ihr habt sie gequält, geschunden, gefoltert, verleumdet, beraubt und über die Grenze gesetzt. „Die Juden sind schuld“ gellen auch jetzt die (erschreckend hysterisch[en]) Stimmen Eurer Ansager im Mikrophon. Auch darin seid Ihr blind und feige. Ihr würdet besser daran tun zu zeigen, daß nichts anderes als der Rumpf der alten Entente [sich] gegen das sich gewaltsam in die Höhe schraubende - aber auch gegen das mit tiefem Recht des Wachstums bedürftige Deutschland auflehnt. Warum lenkt Ihr Euer Volk ab (und womöglich zu neuen Pogromen hin)? Wo bleibt Eure off betonte staatspolitische Klugheit, Euer politischsoldatisches Empfinden, Eure germanische Sauberkeit? Man kämpft mit dem Feind, aber man achtet in ihm das eigene zum Kampf gezwungene Mannestum, wenn man ihn zu beschimpfen oder zu verleumden unterläßt.

Durch die Rede Chamberlains von gestern nachmittag wird es klar, daß England und Frankreich kämpfen werden. Ich wage nicht mehr daran zu zweifeln, daß dieser Kampf nicht etwa durch eine Blockade Deutschlands ersetzt werden kann, sondern daß sich England und Frankreich anschicken, in den Krieg einzutreten, das bedeutet im günstigen Fall systematische Luftangriffe und Bindung erheblicher Kräfte am West[...] bedeutet im ungünstigsten Fall den französisch-englischen Angriff im Westen, den Eintritt Italiens in den Krieg, die Eröffnung der Mittelmeerschauplätze. Dann wird auch die Türkei nicht mehr neutral bleiben können. Man sieht hier der türkischen Entscheidung nur dann ohne Besorgnis entgegen, wenn sie Neutralität bedeutet.

3.9.1939

England hat dem Deutschen Reich den Krieg erklärt.

Wenn ein geliebter Mensch nach langem Leiden und langer brennender Ungewißheit der Angehörigen verscheidet, so verspürt auch der Nächststehende zunächst ein Gefühl der Befreiung. Schmerz, Leid, Kummer, Alleinsein, hoffnungsloses Heimweh - das alles beginnt erst nachher. Der Krieg ist des Friedens Tod - und das maßlose Leid, das nun über das Abendland heraufbeschworen wird, beginnt - von hier aus gesehen - mit einer geradezu furchtbaren Lautlosigkeit seinen wilden, unaufhaltsamen Eroberungszug. Der Riese Unheil, kaum geweckt, räkelt sich grollend aus seinem off gestörten Schlaf. Unfaßlich, Lärm der Straße zu hören, Rufe spielender Kinder zu hören, das Üben einer Bach’schen Fuge im sechsten Stock wahrzunehmen, am weiß gedeckten Tisch die (wie lange noch reich bestellte) Mahlzeit einzunehmen und zu wissen: schon liegen Tausende, verwundet, verstümmelt oder still in ihrem Blut - schon stürzen wieder die Häuser zusammen, ragen die Mauern schwelend in die Luft - schreien gequälte Weiber und verängstigte Kinder, fliehen Bauern auf überfüllten Wagen über die Landstraßen.

Ich habe keine Partei in diesem Krieg, so sehr ich den Nationalsozialismus von Blutschuld, Lüge und Betrug überladen weiß. 1914 und auch noch 1916, als ich Soldat wurde, hatte ich ein Vaterland, dem ich gleich den anderen 70000 deutschen Juden, welche kämpfend dienten, gleich den 10 000 Juden, welche fielen, bedenkenlos und begeistert zur Verfügung stand. Jetzt bin ich verjagt ans äußerste Ende der abendländischen Welt, lebe inmitten einer kaum begonnenen jüdischen Lebensgemeinschaft. Ich blicke zurück: ich weine keinem vergangenen „Glücke“ nach, ich trage niemand [em] etwas nach, ich bin frei von Ressentiments, ich spüre keinen Menschenhaß. „Selig der sich vor der Welt ohne Haß verschließt.“ Das Sich-Verschließen ist freilich erlaubt - und das Seligsein keinem möglich. Aber das „Ohne-Haß-Sein“ (und aller fanatischen Parteinahme widerstehen) - das will ich mir, obwohl ich mich wie zugedeckt und verschüttet fühle, obwohl ich nichts „habe“, obwohl ich für mich weder Weg noch Anwendung sehe, ausbauen wie eine seelische Wohnung.

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