Einzelaktionen sind verboten - jetzt wird die Bevölkerung „aufgeklärt“. Streicher hat am 23. Jan. auf einer Führertagung der HJ erklärt, die Judenfrage sei mit den Nürnberger Gesetzen noch nicht gelöst, es müsse unablässig fortgefahren werden, das Volk über die Judenfrage aufzuklären. Das eingangs zitierte Rednermaterial der NSDAP beklagt sich über „das Verhalten vieler Volksgenossen“, das „dieses Treiben der Juden erst ermöglicht oder begünstigt“ und fährt fort:
„Solange der einzelne Volksgenosse nicht selbst in seinem Tun dem Sinn und Geist dieser Maßnahmen (des Staates) gemäß handelt . . . werden auch die besten Gesetze und Maßnahmen immer zu einem Teil wirkungslos bleiben müssen.“
Über die Kampfmittel der NSDAP heißt es im Rednermaterial:
„Man kann den Juden nicht mit der Feinheit arischen Seelenadels bekämpfen, da er hierfür kein Verständnis hat. Im gleichen Maß ist selbstverständlich auch das . . . Mitleid . . . auszumerzen.“
Deshalb versteht man, was gemeint ist, wenn auch das Rednermaterial Aufklärung verlangt:
„Die Frage der Bedeutung oder Nichtbedeutung der Stellung des jüdischen Elements in Deutschland findet somit ihre Beantwortung darin, inwieweit eine planmäßige Erziehung und Aufklärung des Volkes . . . schon fortgeschritten ist.“
Die nachstehenden Berichte über die Wirkungen dieser nationalsozialistischen Aufklärungsarbeit sind nicht ganz einheitlich. Immerhin stimmt die Mehrzahl in der Feststellung überein, daß zwar die Methoden Streichers allgemeine Ablehnung erfahren, daß aber doch die antisemitische Propaganda nicht ohne Einfluß auf die Einstellung der Bevölkerung zu den Juden bleibt. Daß es eine „Judenfrage“ gibt, ist allgemeine Auffassung.
Sachsen, 1. Bericht: Von seiten der Partei wird aber die Judenhetze nach wie vor mit höchster Energie und Gehässigkeit fortgesetzt. Die Behörden und die Schulen sind in der gleichen Richtung unermüdlich tätig und eine Stelle sucht die andere mit immer neuen judenfeindlichen Einfällen zu übertrumpfen, um damit ihre Tüchtigkeit nach oben darzutun. Es wird aber auch berichtet, daß ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung heute schon von der Richtigkeit der nationalsozialistischen Rassenlehre überzeugt ist und ihre Anwendung auf das deutsche Volk für eine geschichtliche Notwendigkeit hält, so bedauerlich die harten Folgen für den jüdischen und arischen Einzelmenschen leider auch seien.
2. Bericht: Der Antisemitismus hat zweifellos in breiten Kreisen des Volkes Wurzel gefaßt. Wenn die Leute trotzdem beim Juden kaufen, dann tun sie es nicht, um den Juden zu helfen, sondern um die Nazis zu ärgern. Die allgemeine antisemitische Psychose wirkt auch auf denkende Menschen, auch auf unsere Genossen. Alle sind entschiedene Gegner der Ausschreitungen, man ist aber dafür, daß die jüdische Vormachtstellung ein für alle Mal gebrochen und den Juden ein bestimmtes Betätigungsfeld zugewiesen wird. Streicher wird überall abgelehnt, aber im Grunde gibt man doch Hitler zum großen Teil recht, daß er die Juden aus den wichtigsten Positionen herausdrängt. Die Arbeiter sagen: in der Republik und auch in der Partei sind die Juden groß geworden.
3. Bericht: Die Meinung der Bevölkerung zur Judenfrage ist: daß die Juden zwar in Zukunft in Deutschland leben dürfen, daß sie aber keine führenden Staatsstellungen mehr einnehmen sollen. Das deutsche Volk soll von Deutschen regiert werden. Bei der Haltung der Juden in der Arbeiterbewegung dagegen ist es etwas anderes. Dagegen, daß auch Juden in der Arbeiterbewegung führende Stellen einnehmen, hat man nichts. Der Jude ist schließlich auch Mensch. Mit dem Judenboykott ist der größte Teil der Bevölkerung nicht einverstanden und die Nazis haben das auch selbst eingesehen und diese Form der Judenbekämpfung jetzt eingestellt.
4. Bericht: Die meisten Menschen bezeichnen die Judengesetze als Unsinn. Das Mitleid mit den Juden ist viel häufiger als die Zustimmung zu den Gesetzen anzutreffen. In den breiten Volksschichten hat der Antisemitismus keine Wurzeln gefaßt, vielleicht gerade, weil man in Leipzig mehr als in anderen Städten Juden als Arbeitgeber erlebt und keine schlechten Erinnerungen daran hat. Die Leute beginnen zu merken, was mit dem Antisemitismus beabsichtigt wird. Eine bürgerliche Lehrerin sah sich den schwedischen Antisemitenfilm an und meinte: „Wenn man sich aller Züge einzelner mieser Oberlehrer erinnert und diese Züge zusammensetzt und verallgemeinert, kann man den Oberlehrer genau so anprangern wie den Juden.“ Das kritische Nachdenken über den Rassenwahn nimmt sichtbar zu.
Mitteldeutschland: Ein jüdischer Geschäftsreisender berichtet: Bei meinen vielen Reisen sind mir noch keine Schwierigkeiten gemacht worden. Die Bevölkerung beteiligt sich an den Hetzereien entweder überhaupt nicht oder nur dem Zwang gehorchend. Auch die Geschäftsleute stehen dem Judenboykott innerlich ablehnend gegenüber. Dafür einige Beispiele:
In X. betrat ich mit einigen jüdischen Freunden ein Hotel. Wir wurden freundlichst empfangen und nach unseren Wünschen gefragt.
Wir antworteten, daß wir frühstücken wollen, wir hätten aber leider das Schild „Juden nicht erwünscht“ übersehen und bitten deshalb vielmals um Entschuldigung. „Aber bitte meine Herren, lassen Sie sich nicht beirren, das Schild hat gar nichts zu sagen, wir müssen es ja heraushängen“, bekamen wir zur Antwort. Wir verließen natürlich das Lokal.
In Y. ging ich in ein bekanntes Restaurant. Ich bestellte ein Glas Bier und die Speisekarte. Plötzlich entdeckte ich das ominöse Schild: „Juden nicht erwünscht“. Ich rief sofort den Kellner, bat höflichst um Entschuldigung, daß ich das Schild übersehen hätte. Der Ober, sichtlich erstaunt, erklärte, daß das Schild gar nichts zu sagen hätte, ich könnte ruhig hier verkehren, sie könnten ja gar nicht anders. Ich erklärte jedoch, daß für mich das Schild schon maßgebend ist, bezahlte mein Glas Bier und verließ das Lokal.
Solche Sachen habe ich schon öfters erlebt. Auch eingeschworene Nationalsozialisten richten sich oft nicht nach der Parteilosung.
Schlesien, 1. Bericht: Die Judenhetze wird weiterbetrieben, aber ohne besonderen Erfolg in der Bevölkerung. Nur die lautesten Nazischreier halten sich an die Aufforderung, nicht beim Juden zu kaufen. Es gibt Leute, die den Stürmerkasten sich ansehen und dann in ein jüdisches Geschäft kaufen gehen.
2. Bericht: Neben einem größeren Steinbruch in X. ist eine Schankwirtschaft, deren Besitzerin Jüdin ist. Fast die ganze Belegschaft verkehrt hier. Vor kurzem hat der Vertrauensmann der Fachschaft „Steine und Erde“ einen Anschlag angebracht, der den Verkehr in diesem Lokal untersagt. Die Arbeiterschaft geht trotzdem hin, da sie einmütig auf dem Standpunkt steht, daß das ihre Privatsache ist.
Bayern: Der Kampf gegen Juden und Katholiken hat wieder nachgelassen. Hier ist die Meinung der Leute auch sehr verschieden. Es gibt nicht wenige, die, obwohl keine Nationalsozialisten, dennoch in gewissen Grenzen damit einverstanden sind, daß man den Juden die Rechte beschneidet, sie vom deutschen Volke trennt. Diese Meinung vertreten auch sehr viele Sozialisten. Sie sind zwar nicht mit den harten Methoden einverstanden, die die Nazis anwenden, aber sie sagen doch: „Dem Großteil der Juden schadet’s nicht.“
Hessen: Die Bevölkerung dieses Landstrichs ist nicht antisemitisch. Allerdings muß man bedenken, daß in Süddeutschland die Juden von altersher eine andere Stellung einnahmen als in anderen Landesteilen. Dort gibt es auch keine Diskussion unter den Arbeitern über die Stellung der Juden in der Politik. Im allgemeinen sind allerdings die Leute so verroht, daß sie das menschlich-niedrige des Antisemitismus nicht empfinden. Nur die bürgerlichen Kreise, die über eine geistige Tradition verfügen, machen davon eine Ausnahme.
Berlin, 1. Bericht: Auch die Judenhetze bleibt nicht ohne Einfluß auf die Volksmeinung. Ganz langsam werden da Anschauungen hineinfiltriert, die früher abgelehnt wurden. Zunächst liest man den „Stürmer“ nur aus Neugier, dann aber bleibt schließlich doch etwas hängen. Gleichwohl muß man sagen: es spricht viel für das deutsche Volk, daß trotz der jahrelangen Judenhetze es überhaupt noch möglich ist, daß Juden in Deutschland leben können. Wenn nicht das deutsche Volk von Natur aus gutartig wäre, müßte die Propaganda dahin geführt haben, daß die Juden einfach auf der Straße totgeschlagen würden.
2. Bericht: Im allgemeinen kann man sagen, daß die Rassenfrage als Weltanschauungsfrage sich nicht durchgesetzt hat. Der „Stürmer“ wird von niemandem ernst genommen. Gewisse psychologische Wirkungen hat die Judenhetze allerdings gehabt, aber nicht allein für die Juden nachteilige. Es gibt auch Fälle, in denen die Juden unter den Gebildeten als Märtyrer erscheinen, so daß neben dem allgemeinen Antisemitismus hie und da sich Ansätze für einen deutlichen Philosemitismus zeigen. Dabei muß man berücksichtigen, daß der Antisemitismus im ganzen unter den Intellektuellen nicht mehr aktuell ist; einerseits weil die Polemik gegen die Juden zu grobschlächtig und plump ist, und dann, weil der Antisemitismus überhaupt eine zu wenig problemreiche Sache ist, als daß sie länger die Aufmerksamkeit und das Interesse der Intellektuellen beanspruchen könnte.
3. Bericht: Ich habe den Eindruck, daß der Höhepunkt des Antisemitismus erreicht ist. Gewiß kann es noch zu weiteren gesetzgeberischen Maßnahmen in Ausführung der Nürnberger Gesetze kommen, aber der reine Radau-Antisemitismus hat seinen Höhepunkt überschritten. Wenn man bedenkt, daß das Volk trotz jahrelanger Judenhetze auch heute noch diese Hetze nur in seinem kleinen Teil mitmacht, daß die meisten sogar den Judenboykott selbst boykottieren, dann muß man geradezu Achtung davor haben, wie wenig die antisemitischen Parolen im Volke verfangen haben. Andererseits muß man bedenken, daß das deutsche Volk innerlich immer antisemitisch gewesen ist. Dieser gemäßigte Antisemitismus hat auch heute noch Boden in den Kreisen, die den Radau-Antisemitismus ablehnen. Die Deutschnationalen z. B., die zum Regime in Opposition stehen, lehnen zwar den Antisemitismus des „Stürmers“ ab, haben aber im Grunde gegen die Nürnberger Rassengesetze nichts einzuwenden. Wenn man mit ihnen über die Judenfrage spricht, dann halten sie eine „Lösung“ dieser Frage ebenfalls für nötig, wenn auch mit anderen Methoden, als die Nazis sie anwenden. Ganz allgemein kann man feststellen, daß es die Nationalsozialisten tatsächlich fertiggebracht haben, die Kluft zwischen dem Volk und den Juden zu vertiefen. Das Empfinden dafür, daß die Juden eine andere Rasse sind, ist heute allgemein.
Inwieweit in den Kreisen der Nationalsozialisten selbst die antisemitischen Ausschreitungen verurteilt werden, läßt sich schwer feststellen. Es ist bei dieser Frage ebenso, wie bei allen anderen. Die radikalen Schreier geben den Ton an und die Ruhigen merkt man nicht. Sie trauen sich unter den heutigen Umständen wohl auch kaum, etwas zu sagen. Immerhin kann man auch heute noch von jüdischen Ärzten hören, daß sich nach wie vor Pgs. von ihnen behandeln lassen.
Über die Terroraktionen gegen die Juden liegen u. a. nachstehende Berichte vor. Sie zeigen insbesondere, daß der wirtschaftliche Terror durch Einzelaktionen unvermindert fortgesetzt wird.
Südwestdeutschland, 1. Bericht: In Frankfurt/Main hängt an jedem arischen Geschäft das Plakat „Deutsches Geschäft“ mit dem Hakenkreuz. Darüber ist jetzt bei einem Viertel aller Geschäfte eine andere Tafel angebracht, auf der in nachgeahmter hebräischer Schrift steht: »Juden sind hier unerwünscht“. Bei Woolworth steht außerdem eine Tafel: „Dieses Geschäft ist ein rein arisches Unternehmen“.
In den jüdischen Kreisen ist die Stimmung außerordentlich niedergedrückt und pessimistisch. Man hat sich innerlich vollständig darauf eingestellt, daß man in Deutschland eine minderwertige Rasse ist und zieht sich freiwillig in ein Ghetto zurück, auch wo man es gar nicht nötig hat. Man geht in kein Café und Theater, auch wenn man gar nicht jüdisch aussieht. Es wird nie anders werden, sagen die Juden. Alles ist in eine völlige Dumpfheit und Hoffnungslosigkeit verfallen. Es wird überhaupt nicht mehr über etwas anderes gesprochen als darüber, ob der und der Volljude oder Mischling ist, ob man drin bleiben oder herausgehen solle, ob die und die Heirat noch möglich ist oder nicht. Es ist erschreckend, mit anzusehen, wie früher lebenslustige junge Leute überhaupt keinen anderen Gesprächsstoff mehr kennen.
Diese Abgeschlossenheit der Juden und der Nichtarier hat merkwürdige Folgen. So gibt es z. B. einen Verband christlicher Nichtarier, der eine wirkliche Daseinsberechtigung hat. Denn bei den Ariern haben diese Leute nichts zu suchen, zu den Juden wollen sie nicht gehen, weil sie Christen sind. Infolgedessen hat dieser Verband die Aufgabe, die einfachsten gesellschaftlichen Beziehungen (gemeinsame Ausflüge, gemeinsames Turnen usw.) herzustellen. Politisch nimmt er eine katastrophale Haltung ein und wenn diese Leute in die NSDAP eintreten könnten, würden sie es mit Wonne tun.
Die Einzelaktionen haben nach den Nürnberger Gesetzen aufgehört. Aber man rechnet damit, daß der Judenterror nur mit Rücksicht auf die Olympiade vorübergehend gemildert sei und daß auch die Nürnberger Gesetze nach der Olympiade in voller Schärfe durchgeführt werden, insbesondere der Wirtschaftsboykott. Der Verkauf von Geschäften, die Versteigerung von Wohnungseinrichtungen usw. hat etwas nachgelassen, ist aber immer noch sehr groß. Die in den Nürnberger Gesetzen vorgesehene Genehmigung bei Ehen mit Nichtariern mit Ariern wird praktisch nicht erteilt. Es werden Schwierigkeiten über Schwierigkeiten gemacht.
Ein jüdischer Buchhändler erzählt, daß er dauernd Zuschriften von der Schrifttumskammer erhielt, in denen man ihn zur Aufgabe seines Geschäftes veranlassen wollte. Anfang dieses Jahres hieß es in einer solchen Zuschrift etwa: „Da Juden nicht in der Lage sind, deutsches Kulturgut zu verwalten, bitten wir um baldigste Mitteilung, wann Sie Ihr Geschäft zu liquidieren gedenken.“ Schon 1935 hat man ihm die Buchhändlerkarte abgenommen. Jetzt haben die jüdischen Buchhändler gemeinsame Schritte unternommen, um diese Frage zu klären. Aber insgeheim kaufen nach wie vor alle in jüdischen Buchhandlungen und dieser Buchhändler liefert sogar an staatliche Stellen, nur darf das eben niemand wissen. Ein nicht unbekannter halbjüdischer Schriftsteller, dessen Bücher bisher noch in Deutschland erlaubt waren, hat vor kurzem von der Schrifttumskammer die Mitteilung bekommen, daß sein neues Buch in Deutschland verboten ist.
2. Bericht: Die Judenhetze in X. begann damit, daß große Stürmer-kästen ausgehängt wurden. Die SA mußte jede Woche in geschlossenen Zügen hinmarschieren und dann wurde die neue Zeitung ausgehängt.
Am 24. September wurde ein Volkssturm inszeniert. Abends um halb neun Uhr wurden SA., HJ und Jungvolk vor dem Haus des Antiquitäten-Händlers Levi zusammengezogen. Sie riefen: „Der Jude muß raus“. „Er muß nach Kislau“, „Hängt ihn auf“!
Schließlich kletterten zwei SA-Leute über das Tor. Das war der richtige Augenblick für die Gestapo, einzugreifen. Der Jude wurde ins Gefängnis gebracht, den brüllenden Volksgenossen sagte man, er komme nach Kislau. Er spazierte aber kurze Zeit darauf wieder in X. herum, denn schließlich hat er ja doch kein Geld, um seine Haftkosten zu bezahlen.
In der nächsten Nacht wurde auf dem Marktplatz ein Galgen erstellt und ein Strohmann, der Levi ähnelte, darangehängt. Diese Aktion hat den Leutchen aber mehr Feinde zugezogen als Freunde geschafft. Überall wurde diese Aktion auf das Schärfste mißbilligt.
3. Bericht: Die bei den Reichsbehörden in X., Post, Telegraph, Zoll, Justiz und Reichsbank, noch im Dienst befindlichen jüdischen Kriegsbeschädigten erhielten in den ersten Tagen des November ein Schreiben ihrer Vorgesetzten Behörde, daß sie mit sofortiger Wirkung beurlaubt sind. Eine Begründung wurde nicht gegeben.
In der Stadt Eppingen in Baden verstarb eine jüdische Witwe. Die Nazi-Partei verbot dem Totengräber, das Grab auszuheben. Jüdische Bürger schaufelten daraufhin selbst das Grab. Die Partei verbot nun den Leichenträgern die Beisetzungshilfe. Auf Beschwerde beim Ministerium wurde die Beerdigung der Leiche, die mehrere Tage über die zulässige Zeit hinaus stand, für eine andere Gemeinde angeordnet.
Trotz des Verbots der Einzelaktionen werden in einzelnen Städten, auch da durchaus nicht einheitlich, die Geschäfts- und Lokalinhaber gezwungen, anti-jüdische Plakate auszuhängen. Im Weigerungsfälle erfolgen zum Teil Arretierungen und ganz allgemein werden die Geschäfte boykottiert. Das gleiche Vorgehen kann auch in kleinen Landgemeinden festgestellt werden. Die Firmenschilder der Ärzte haben durch sanften Druck der Partei eine Verzierung insofern erhalten, als durch besonders grelle Aufmachung in roter Schrift die Worte „Arischer Arzt“ angebracht werden mußten.
Der jüdische Viehhändler Lehmann in Speyer, Kriegsbeschädigter, einstmals geachtet und angesehen, wurde trotz seiner 59 Jahre schimpflich mißhandelt. Seine beiden Söhne, 17 und 18 Jahre wurden bei jeder Gelegenheit als Reklamejuden durch die Straßen von Speyer geschleppt. Dabei mußten sie sich als Schänder arischer Mädchen, Volksverräter und anderes mehr bezeichnen lassen. Um dieser Erniedrigung zu entgehen, flüchteten die beiden Söhne nach Frankreich. Vater und Tochter bekamen aber keine Ruhe. Mit Pflastersteinen wurde das Geschäft Lehmanns in einen Trümmerhaufen verwandelt. In der dritten Novemberwoche wurde Lehmann verboten, weiter als Viehhändler tätig zu sein. Das hat er nicht überlebt. Er erlitt einen Herzschlag und wurde am 22. 11. beerdigt.
4. Bericht: Der große Warenhauskonzern Kander in Mannheim beschäftigt in drei Häusern über 1200 Angestellte. Der Betriebsführer Levinski darf ab 1. Oktober den Betrieb nicht mehr betreten. Er bekam zunächst 8 Tage Hausarrest. In dieser Zeit wurde die Geschäftsführung abgesetzt und allen jüdischen Angestellten gekündigt. Nach 14 Tagen prangte ein neues Firmenschild mit der Aufschrift „Anker“ am Hause und über den Türen las man: „Dieses Geschäft ist rein arisch.“
Am 1. November wurde auch der Inhaber des Kaufhauses Rothschild in Mannheim gezwungen, aus dem Geschäft auszuscheiden. Man geht besonders gegen die kleinen jüdischen Gewerbetreibenden, vor allem gegen die Metzger, rücksichtslos vor. Man stellt den Leuten bei den Schlachttagen einfach kein Vieh zur Verfügung oder nur schlechtes, zum Verkauf nicht verwendbares. So sahen sich am 1. November drei alte eingesessene Metzgerfamilien, Paul Hamburger, Otto Mannheimer und Fritz Schott gezwungen, ihre Geschäfte zu schließen. Arische Geschäftsleute: Bäcker, Metzger, Milchhändler werden gezwungen, nicht mehr an Juden zu liefern. Man erklärt diesen Geschäftsleuten, daß die christliche Kundschaft vor der Ladentür abgefangen würde, wenn sie noch weiterhin an Juden Waren verabreichen. Was wollten diese kleinen Geschäftsleute machen? Sie baten die Juden, daß sie ihrer eigenen Sicherheit wegen das Geschäft nicht mehr besuchen mögen.
Auch Wirte haben vielfach darunter zu leiden, daß durch Bekanntgabe in der Arbeitsfront, SA und SS den Leuten verboten wird, diese und jene Wirtschaft zu besuchen, da dort Juden verkehren oder aber der betreffende Wirt Marxist sei.
3. Bericht: In Mannheim fand im Oktober ein Schulungskurs sämtlicher städtischer Angestellten, Beamten und Arbeiter statt. Thema: Die Judenfrage. Den Leuten wurde erklärt, daß jeder entlassen wird, dem man nachweisen kann, daß er oder seine Frau in einem jüdischen Geschäft gekauft hat.
Die NS-Frauenschaft hat ebenfalls in einer ihrer Versammlungen festgelegt, daß nicht in Warenhäusern gekauft werden dürfe, auch wenn der Inhaber arisch ist, weil diese Warenhäuser noch mit jüdischem Kapital arbeiten. Die Mitglieder der NS-Frauenschaft wurden verpflichtet, ihre Brosche zu tragen, damit jede erkenntlich ist, falls sie in einem solchen Geschäft kaufen sollte.
Bei der Firma X. war schon seit vielen Jahren der Jude Y. als Werkzeug- und Härtekontrolleur beschäftigt, eine sehr tüchtige Kraft. Dieser Jude wurde nach dem Umbruch 33 von dem eingesetzten Kreisamtsleiter des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes aus dem Verband ausgeschlossen. Man war aber so nobel, ihm verschiedene Jahresbeiträge zurückzuzahlen. Gleichzeitig wurde auch damals von der Direktion die Entlassung verlangt. Die Direktion lehnte das ab, da sie diesen tüchtigen Arbeiter nicht entbehren könne. Im September 1935 wurde erneut Antrag auf Entlassung gestellt. Nachdem sich die Direktion wiederum ablehnend verhielt, trat man persönlich an den jüdischen Arbeiter heran: er solle freiwillig aufhören, andernfalls die Betriebszeile keine Garantie übernehme, daß er eines Tages den Betrieb nicht mehr lebend verlasse. Daraufhin ist der Mann „freiwillig“ ausgeschieden.
6. Bericht: Die Judenhetze wird zum großen Teil von oben kommandiert und die unteren Instanzen müssen die Sache einfach mitmachen, obgleich sie ihnen oft selbst gegen den Strich geht. So wurde in X. eines Tages auf Veranlassung des Kreisleiters eine Tafel auf dem Marktplatz aufgestellt: „Juden laufen hier auf eigene Gefahr“. Als sich daraufhin ein jüdischer Einwohner, der mit dem Ortsgruppenleiter der NSDAP gut bekannt ist, bei diesem darüber erkundigte, antwortete der Ortsgruppenleiter: „Ich habe doch die Tafel nicht aufgestellt, das können Sie sich doch denken. Aber was soll ich denn machen, wenn die Anweisung von oben kommt.“
7. Bericht: Ein sozialdemokratischer jüdischer Arzt berichtet: Ich habe seit 1930 eine ärztliche Praxis in Ketsch bei Schwetzingen i. Baden ausgeübt. Ketsch ist ein kleiner Ort mit 3600 Einwohnern, der früher eine sozialdemokratisch-kommunistische Mehrheit hatte. 1933 wurde mir als Nichtarier die Kassenpraxis entzogen und einige Zeit hindurch wurde in der Presse zum Boykott gegen mich aufgerufen. Die Beamten, die meine Patienten waren, wurden in der Presse mit Namen genannt und verwarnt; den Kleingewerbetreibenden wurde von der NS-Hago mit Ausschluß gedroht usw. Als Nachfolger wurde vom Ärztebund ein Dr. Schmidt aus Thüringen in die Praxis gesetzt. Mir selbst wurde durch das Treiben der Nazis zunächst jede ärztliche Betätigung unmöglich gemacht. Nachdem ich eine Nebenbeschäftigung verloren hatte, war ich eine Zeit hindurch Fürsorgeempfänger. Im September 1934 wurde ich auf das Arbeitsamt Schwetzingen geladen, wo man von mir einen formellen Verzicht auf die Praxis verlangte, anderenfalls die Unterstützung gesperrt werden sollte.
Inzwischen stellte sich aber heraus, daß mein Nachfolger Dr. Schmidt den Anforderungen, die an einen Landarzt gestellt werden, in keiner Weise gewachsen war. Von allen Kreisen der Bevölkerung, sogar von Nationalsozialisten wie dem Ortsgruppenleiter und Bürgermeister wurde ich zur Wiederaufnahme meiner Praxis aufgefordert. Als ich mich dann endlich entschloß, durch eine kleine Anzeige in der Schwetzinger Zeitung die Wiederaufnahme meiner Privatpraxis anzukündigen, setzte ein wahnsinniges Kesseltreiben des Dr. Schmidt gegen mich ein.
Er verband sich dazu mit dem Amtswalter für Presse und Propaganda der NSDAP, einem „Märzgefallenen“, Emil Stratthaus, der abgebauter Bankbeamter war und den ich selbst 9 Monate lang in meinem Hause aufgenommen hatte. Wir waren dann mit Krach auseinandergegangen und schon Ende 1932 drohte er mir mit einer Anzeige wegen Verstoß gegen § 218. Der zweite Verbündete des Dr. Schmidt war der Vertrauensmann des „Stürmers“, ein Pg. Ludwig Lacher aus Schwetzingen, der wegen Kopfschuß 100%ig kriegsbeschädigt ist und unter der Vormundschaft des Bezirksfürsorgeamtes Mannheim-Land steht. Als dritter Bundesgenosse gehörte der SA-Mann Müller dazu, der als Ortsgruppenleiter in Heppenheim abgesetzt wurde und auch aus Dühren bei Sinsheim wegen hoher Schulden verschwinden mußte. Diese vier brachten es im Verein mit dem Gendarmeriewachtmeister Siefert im November 1934 schließlich dahin, daß auf eine Denunziation an die Staatsanwaltschaft gegen mich Haftbefehl erlassen wurde. Nach 8 Tagen wurde ich jedoch wieder freigelassen. Aber am 4. Januar 1935 kam ich erneut in Untersuchungshaft, weil wegen Vergehens gegen § 218 in 16 Fällen gegen mich Anzeige erhoben war. Alle diese Fälle wurden in der Voruntersuchung bis auf einen Fall entkräftet und in diesem einen Fall handelte es sich um eine Frau, deren Mann geisteskrank ist. Wegen dieses einen Falles erging ein Strafbefehl über 3 Monate Gefängnis, in den anderen Fällen wurde die Anklage niedergeschlagen. Diese 3 Monate habe ich im Landesgefängnis Mannheim abgesessen.
Am Tage meiner Entlassung wurde mir eröffnet, daß ein neuer Haftbefehl gegen mich erlassen worden sei. Einen der 16 Fälle, die schon einmal untersucht worden waren, hatte man wieder aufgegriffen und ich wurde der Bekämpfung der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik und des Versuchs der Nötigung einer wegen einer Schwangerschaft bei mir in Behandlung befindlichen Frau angeklagt. Schon wenige Tage darauf fand vor der Großen Strafkammer in Mannheim die Verhandlung statt, die mit einem Freispruch endete. Bei meiner Rückkehr nach Ketsch brachte mir die Bevölkerung einen überaus herzlichen Empfang dar. Meine ganze Wohnung war voller Blumen und auf der Straße hatten sich trotz strömenden Regens 150 bis 200 Menschen eingefunden, die mir Bravo- und Hochrufe darbrachten. Als ich am nächsten Tag wieder meine Praxis aufnahm, kamen Patienten aus allen Kreisen der Bevölkerung zu mir, sogar Arbeiter, obgleich ich doch keine Kassenpraxis mehr ausüben durfte, und selbst NSDAP-Mitglieder gehörten zu meinen Patienten.
Jetzt versuchte Dr. Schmidt, mich mit anderen Mitteln loszuwerden. Schon bald nach meiner Rückkehr versuchte eines Tages ein Trupp Mannheimer SA, der schon in Speyer einen Volksauflauf inszeniert hatte, auch vor meiner Wohnung zu demonstrieren. Aber ich war zufällig nicht zu Hause. Im Juli 1935 teilte dann der Kreisbauernführer Treiber aus Plankstadt unserem Ortsbauernführer brieflich mit, daß allen Bauern, die weiterhin zu dem jüdischen Arzt Dr. St. gehen würden, 10 Hektar am Tabak-Kontingent abgezogen werden würden. Aber auch das half nichts und auf meinen Einspruch wurde von der Regierung in Karlsruhe sogar anerkannt, daß sich hier der Kreisbauernführer einen unzulässigen Übergriff erlaubt habe.
Eines Tages, es war der 31. Juli, kam ich abends gegen 10 Uhr von einem späten Krankenbesuch nach Hause und ging noch in das gegenüberliegende Lokal. Nachdem ich dort einige Zeit gesessen hatte, kamen 26 SA-Leute aus Schwetzingen, Plankstadt und Bühl in das Lokal und versuchten dort, gegen mich zu demonstrieren. Ich mußte schließlich das Lokal verlassen, worauf die SA-Leute ihre Demonstration vor meiner Wohnung fortsetzten. Es wurde gerufen: „Raus mit dem Juden Stern“, „Raus mit dem Rassenschänder“ (meine Frau ist Arierin). Aus Ketsch selbst hat nur ein Mann, der schon erwähnte SA-Mann Müller, an dieser Demonstration teilgenommen. Die übrige Bevölkerung dagegen war einmütig gegen diese Methoden. Ich floh nach Heidelberg, wurde aber dort gewarnt, daß man mich weiter suche, so daß ich es schließlich, nachdem ich nach Monaten in Berlin eine neue Warnung erhielt, vorzog, ins Ausland zu gehen.
Bayern, 1. Bericht: Die Judenverfolgung ist hier sehr schlimm geworden. Wiederholt sind Juden in Gastwirtschaften angepöbelt und beschimpft worden. Die Juden trauen sich nicht mehr auf die Straße. Man merkt ihnen an, daß sie sehr verängstigt sind. Gastwirtschaften, die den Juden Zutritt in ihr Lokal gewährten, wurden mit Boykott bestraft.
2. Bericht: Die Judenverfolgungen nehmen immer schärfere Formen an. SA in Zivil kontrolliert die Geschäfte und in kleineren Ortschaften getraut sich die Bevölkerung überhaupt nicht mehr, bei Juden einzukaufen, weil sie annimmt, daß sie Gefahr läuft, auf die „Schwarzen Listen“ gesetzt zu werden, die die SA sammelt und die dann in Zeitungen veröffentlicht werden sollen. Dann ist aber auch festzustellen, daß die Hetze gegen die Juden tatsächlich einen gewissen Erfolg im Volke hat: man will mit dem Juden nichts mehr zu tun haben.
In der Dienstbotenfrage hat sich ergeben, daß in München Hunderte von Gesuchen der betroffenen Mädchen eingereicht wurden, worin sie zum Ausdruck bringen, daß sie gern weiterhin bei ihrem jüdischen Dienstgeber bleiben möchten, da sie infolge ihrer langen Dienstzeit bei Juden in christlichen Familien sehr schwer Unterkommen können.
Die Juden sind jetzt bestrebt, ihre Geschäfte zu verkaufen und sich ganz zurückzuziehen. Sie verkehren nur in jüdischen Lokalen und meiden es vielfach, auf die Straße zu gehen, wenn sie nicht dazu gezwungen sind.
3. Bericht: In der Gartenstadt von Nürnberg hat man drei jüdische Köpfe als Karikaturen in gemein-ordinärer Art hingestellt mit dem Text: „Juden betreten auf eigene Gefahr die Gartenstadt!“ Juden werden in Nürnberg, Fürth usw. in den Friseurläden nicht mehr bedient, in vielen Lokalen erhalten sie weder zu essen noch zu trinken, man verweigert Reparaturarbeiten für sie. Wer noch halbwegs Mensch ist, empfindet das selbst als schwere Schmach und schämt sich, weil so etwas in Deutschland möglich ist. Noch dazu in Nürnberg-Fürth, wo man einiges von dem Privatleben Streichers weiß.
4. Bericht: Jetzt kommt man mit der Judenhetze auch in das Grenzgebiet, wo man bisher zurückhaltender war. In Eschenbach (Oberpfalz) wurde am Ortseingang die Tafel aufgestellt: „Jedermann ist uns willkommen, nur der Jud ist ausgenommen!“ In Tirschenreuth müssen jetzt die seit urdenklichen Zeiten bestehenden Bierzeigl der Kommunebrauer verschwinden, weil sie dem Davidstern gleichen.
Rheinland: Das Kaufhaus Joseph in Eschweiler war eins der bestgehenden Geschäfte. Mit der steigenden Not mehrte sich der Kundenkreis. Das rief den Zorn der arischen Geschäftsleute wach und gemeinsam mit der NSDAP entfesselten sie ein Kesseltreiben. Die Käufer wurden fotografiert, aber die Arbeiter kauften nach wie vor. Darauf veranstaltete man Versammlungen vor dem Geschäft, so daß niemand das Geschäft betreten konnte. Die Wände wurden bemalt, die Schaufenster mit Unrat beschmiert, so daß von den Auslagen nichts zu sehen war. Ein neuer Anstrich des Hauses war in wenigen Tagen wieder total beschädigt. Die Polizei sah dem Treiben tatenlos zu. Schließlich machte man sogar ein Begräbnis für Joseph, indem man eine Puppe im Sarge herumtrug und eine Leichenrede hielt.
Diese Vorgänge wurden gefilmt. Als eine Beschwerde des Einzelhandels nichts nützte, ging eine Beschwerde an den Minister des Innern, unter Nennung der Namen der Übeltäter. Die mit der Beschwerde entsandte Kommission von drei Mann kam unverrichteter Dinge zurück. Da wurde die Sache dem Joseph zu bunt; er nahm alles Bargeld zusammen und floh mit seiner Familie ins Ausland. Darauf wurden Steckbriefe erlassen und die vier Flüchtlinge an Abwesenheit wegen Vergehens gegen das Reichsfluchtsteuergesetz zu 1 Jahr bezw. 10 Monaten Gefängnis und zu 35 000,- bezw. 17 000,- RMark Geldstrafe verurteilt.
In M.-Gladbach wollte das Herrenartikel-Geschäft von Unger einen Ausverkauf wegen Geschäftsaufgabe veranstalten. Darauf stellte man SS und SA vor das Geschäft und es wurde niemand hineingelassen. Die Polizei stand dabei und sagte nichts. Es entstand ein riesiger Menschen-auflauf. Das ging so tagelang.
Nordwestdeutschland, 1. Bericht: In einer nordwestdeutschen Mittelstadt hatte ein jüdischer Zahnarzt eine Praxis, die sich noch um die Mitte des Jahres 1935 herum des größten Zuspruchs erfreute. Die Bevölkerung reagierte nicht auf die Parole des Judenboykotts und selbst „die Damen der Gesellschaft“ wie die Frau des Bürgermeisters, des Landrats usw. ließen sich von ihm behandeln. Das änderte sich im Herbst und wurde nach der Verkündung der Nürnberger Judengesetze immer schlimmer. Es wurden SA-Posten vor das Haus, das Eigentum des Zahnarztes war, gestellt, die die Patienten anhielten und sie mit Fragen, wie: „Wissen Sie nicht, daß dieser Zahnarzt ein Jude ist?“ vom Besuch dieses Zahnarztes abhielten. Das Verfahren hatte Erfolg, denn die Menschen ließen sich einschüchtern und nur ganz Tapfere wagten es noch, in dunklen Abendstunden zu diesem Zahnarzt zu gehen. Schließlich kam es so weit, daß der Zahnarzt Schritte zum Verkauf des Hauses und seiner Wohnungseinrichtung tun mußte. Das war jedoch leichter gesagt als getan, denn keine Zeitung war zur Aufnahme entsprechender Inserate bereit. Nur durch „mündliche Überlieferung“ wurde es möglich, Käufer zu finden. Bis jetzt hat er aber noch keine Möglichkeit gefunden, mit dem Erlös ins Ausland zu gehen.
2. Bericht: In einer westfälischen Stadt von 30 000 Einwohnern setzten unmittelbar nach dem Parteitag pogromartige Angriffe gegen die Juden ein. Schaufenster jüdischer Geschäfte und Fenster der Privatwohnungen wurden mit Kot beschmiert und eingeworfen. In mehreren Fällen wurde nachts bei jüdischen Familien geschellt und auf die Frage, wer da sei, geantwortet, ein verfolgter jüdischer Flüchtling bitte um Unterkunft. Dabei wurde beobachtet, daß sich in den Türrahmen und Ecken SA-Leute postiert hatten, in der Hoffnung, mit dem „Flüchtling“ in die Wohnung eindringen zu können. In keinem Fall ist das Manöver gelungen. Die um Unterkunft Gefragten verwiesen die Bittsteller an die Polizei. Einem jüdischen Arzt, Kriegsteilnehmer und Inhaber des Eisernen Kreuzes I. Kl. hat man verboten, ein Taxi für seine Krankenbesuche zu benutzen. Außerdem wurde ihm eine Hypothek bei der Sparkasse entgegen den Kündigungsfristen innerhalb acht Tagen gekündigt, um seine Besitzung zu ruinieren.
Wasserkante, 1. Bericht: Ein Arzt aus X., früher Chefarzt eines Krankenhauses, Jude, Kriegsteilnehmer, hat uns Einblick in zwei Dutzend Briefe von arischen Patienten gewährt, die ihm nach dem Erlaß der Judengesetze mitteilen, daß sie bedauern, ihn nicht mehr konsultieren zu können und ihm für seine bisherige Hilfe danken. Die Briefe sind teils so klagend gehalten, daß der Arzt die Patienten getröstet hat. Ein SA-Mann wurde aus der SA ausgeschlossen, weil er den ihm persönlich bekannten Arzt weiter besucht hat. Er ist pensionierter Beamter und erhielt jetzt die Streichung seiner Pension angekündigt, falls er auf den privaten Verkehr mit dem jüdischen Arzt nicht verzichte. Ein Polizeibeamter, dessen schwerkrankes Kind in der Behandlung jenes Arztes ist, wurde mit der Entlassung bedroht, falls er die Behandlung nicht einem arischen Arzt überläßt. Der Beamte, der großes Vertrauen zu dem jüdischen Arzt hat, erklärte, daß ihm an der Gesundheit seines Kindes mehr läge als an seiner Stellung. Die Behörde hat ihm darauf erklärt, er könne die Behandlung doch nicht bezahlen und die Beamtenkasse würde einem Juden kein Geld überweisen. Wenn der Arzt das Kind kostenlos behandele, würde sich die Behörde damit abfinden. Der Arzt behandelt jetzt das Kind des Beamten kostenlos.
3. Bericht: Im Haushalt des Direktors X. waren zwei arische Dienstmädchen beschäftigt, von denen die eine Hausangestellte seit 19 Jahren ununterbrochen in dieser Stellung war. Auf keinen Fall wollte das Mädchen aus dem Hause und versuchte alles Mögliche, um bleiben zu können. Gesuche und persönlich vorgebrachte Bitten des Mädchens bei den Behörden hatten keinen Erfolg. Zuletzt wollte es den jüdischen Glauben annehmen, um in der Stellung bleiben zu können. Das wurde von den Behörden untersagt. Es durfte nicht bleiben und ging weinend aus dem Hause.
Das zweite Mädchen, welches 7 Jahre in der Stellung war, wollte auch nicht gehen. Es blieb ihm nichts übrig, als arbeitslos zu werden, denn eine neue Stellung war trotz aller eifrigen Versuche nicht zu finden. Das Mädchen kommt nun noch täglich, um sich satt zu essen, zu seiner alten jüdischen Herrschaft ins Haus, die beide Mädchen gegen die größte Not unterstützt.
4. Bericht: In einer Straße Hamburgs hatten SA-Leute Aufschriften angemalt wie: „Hängt die Juden, stellt den Stahlhelm an die Wand“. Straßenfeger mußten unter Polizeiaufsicht die Aufschriften wieder beseitigen.
Das Hamburger Warenhaus Tietz, jetzt Alsterhaus, hat kürzlich die letzten 40 jüdischen Angestellten entlassen.
Berlin, 1. Bericht: Die Ausführungsverordnungen zu den Nürnberger Judengesetzen haben gewisse Milderungen gebracht. Obwohl Frick kurz vorher angekündigt hatte, daß diese Verordnungen auch wirtschaftliche Einschränkungen gegen die Juden bringen würden, ist bis jetzt davon nicht die Rede. Im Gegenteil kann eine Vorschrift so ausgelegt werden, daß man auf diesem Gebiete mindestens sehr vorsichtig zu Werke gehen will. - Die deutschen Gerichte sind in der Wahrnehmung jüdischer Interessen im allgemeinen ziemlich objektiv. Bei Zwangsversteigerungen z. B., bei denen dem richterlichen Ermessen ein ziemlich weiter Spielraum gelassen ist, zeigte sich das wiederholt deutlich. Auch gewisse Spannungen zwischen den einzelnen Wirtschaftsgliederungen und der NSDAP und ihren Nebenorganisationen wie etwa der Arbeitsfront, wirken sich oft zugunsten der Juden aus. Wenn etwa die Arbeitsfront einen judenfeindlichen Vorstoß macht, dann machen sich manche Wirtschaftsorganisationen ein Vergnügen daraus, ihn abzubiegen. So ein Kleinkrieg spielt sich z. B. zur Zeit zwischen der Fachgruppe der Grundstücks- und Hypothekenmakler und der Arbeitsfront wegen der Tätigkeit nichtarischer Grundstücksmakler ab.
2. Bericht: Im Kampf gegen die Juden sind in letzter Zeit keine weiteren Exzesse zu verzeichnen. In Berlin, wo dieser Kampf nie ganz so schlimme Formen angenommen hat wie in anderen Landesteilen, ist es jetzt ganz still darüber geworden. In jüdischen Geschäften wird nach wie vor lebhaft gekauft. Es gibt viele Leute, die es sich geradezu zum Prinzip machen, in jüdischen Geschäften und insbesondere in Warenhäusern zu kaufen.
Mitteldeutschland: Der Landesverkehrsverband Harz, als zuständige Organisation für den Fremdenverkehr, hat folgende Anordnung, welche die Unterschrift des Vorsitzenden, des Ministerpräsidenten Klagges-Braunschweig, trägt, an die in Frage kommenden Stellen gegeben:
1. Die Anweisung des zuständigen politischen Leiters der NSDAFJ ist in jeder Beziehung, daher auch in der Judenfrage, zu befolgen und zu unterstützen, insbesondere auch die Entschließung bekanntzugeben, daß Juden in den betreffenden Orten unerwünscht sind.
2. Jede Propaganda irgendwelcher Art von jüdischen Hotels, Gaststätten und Fremdenheimen ist nicht zu dulden.
3. Die Aufnahme von Inseraten jüdischer Häuser in Werbeschriften oder Wohnungsanzeigen ist grundsätzlich abzulehnen. Hierunter fallen die in letzter Zeit besonders stark in Anspruch genommenen Zeilenanzeigen in Wohnungsnachweisen. Ich werde veranlassen, daß jedem Prospekt und Wohnungsnachweis die Genehmigung zur Herausgabe versagt wird, falls dem nationalsozialistischen Wollen zuwidergehandelt werden sollte. Darüber hinaus wird die Verteilung durch die Reisebüros unterbunden.
4. Den verantwortlichen Leitern der Kurverwaltungen mache ich es zur Pflicht, die in ihrem Orte erscheinenden Hausprospekte in erwähntem Sinne zu überprüfen.