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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bitte um Bestand jüdischer Einrichtungen

Die Jüdische Zentralstelle Stuttgart bittet die Gestapo am 21. November 1938 um den Erhalt jüdischer Einrichtungen zur Vorbereitung der Auswanderung:

Betrifft: Freigabe des Gebäudes Gartenstrasse 30.

Die Geheime Staatspolizei, Staatspolizeistelle Stuttgart, ersucht mich, ihr in verstärktem Masse für bestimmte Aufgaben zur Verfügung zu stehen. Sie machten mir die Auflage, die notwendigen jüdischen Einricht[ung]en schnellstens wieder in Gang zu bringen und für beschleunigte Auswanderung der hiezu fähigen jüdischen Bevölkerung Sorge zu tragen. In Durchführung dieser Forderungen tragen wir folgendes vor:

Das Gebäude Gartenstrasse 30 musste am Donnerstag, 10. ds. Mts., in kürzester Zeit von jüdischen Stellen und Personen geräumt werden. Gleichzeitig wurde das Gebäude anderweitig in Verwendung genommen.

Die einzelnen Stockwerke wurden seither folgendermassen benützt:

a. Im Erdgeschoss befinden sich der Betsaal der Israelitischen Religionsgesellschaft, der vor kurzer Zeit mit erheblichen Mitteln eingerichtet wurde, nachdem dort vorher ein Postamt untergebracht war. Dieser Raum sollte nach dem Wegfall der Synagoge wieder für Gebetszwecke verwendet werden können, sei es auch nur in vorläufiger Weise durch Aufstellung von Stühlen.

b. Im I. Stock sind die Geschäftsstellen der Stuttgarter Jüdischen Kunstgemeinschaft, des Jüdischen Lehrhauses und der von der Geheimen Staatspolizei geforderten Unterzeichneten Zentralstelle untergebracht.

Ausserdem werden die Räume für die Auswanderersprachkurse des Jüdischen Lehrhauses verwendet. Diese sowie die sogn. Intensivkurse, die in verhältnismässig kurzer Zeit zur sprachlichen Auswanderervorbereitung führen sollten, fanden dort täglich vornachmit-tags und abends statt. Die Räume dieses Stockwerks werden auch zur Jugendbetreuung verwendet.

[c.] Im II. Stockwerk ist das 9. Schuljahr, die Haushaltklasse der jüdischen Schule, untergebracht. Junge Mädchen werden für den Beruf der Hausangestellten vorbereitet. Eine Lehr-küche wurde für diesen Zweck im vorigen Jahr mit beträchtlichen Mitteln eingerichtet. Weiterhin wird noch eine Schulklasse in einem Zimmer unterrichtet.

In diesem Stockwerk befindet sich auch der Uebungsraum der Kunstgemeinschaft. Ausserdem sind dort die für die Arbeit notwendigen Instrumente, Noten, Pulte etc. untergebracht. Auch ein Teil der unter Ziffer b genannten Lehrhauskurse findet in diesem Stockwerk statt.

d. Im dritten Stockwerk befindet sich das Jüdische Lehrlingsheim. Es handelt sich hierbei um eine Wohngemeinschaft von derzeit 27 jungen Leuten, die sich in Stuttgart und Umgebung auf Umschichtung befinden, d.h. die sich hier für handwerkliche und landwirtschaftliche Berufe vorbereiten. Als Ausbildungsland für diese jungen Leute kommt in erster Linie Palästina in Frage, wofür eine besondere geistige und sprachliche Vorbereitung erforderlich ist.

Im Hinblick auf die Bedürftigkeit der Insassen ist eine Unterbringung in einzelnen Zimmern bei Familien nicht möglich.

e. Im Dachstock ist die Hausverwalterin untergebracht. Es befinden sich dort auch noch einzelne Kammern des Lehrlingsheims.

Aus dieser Aufstellung ist ersichtlich, dass das Gebäude Gartenstrasse 30 in erster Linie für solche Zwecke in Anspruch genommen ist, die in unmittelbarer Weise zur Auswanderung vorbereiten. Eine Verlegung dieser Stellen und Einrichtungen in andere jüdische Häuser ist ausgeschlossen, denn für die genannten Zwecke ist eine zentrale Lage erforderlich. Ausserdem hängen auch diese Einrichtungen unter sich und mit benachbarten Stellen aufs engste zusammen. In der letzten Zeit wurde verschiedentlich angeregt, in das Haus Gartenstr. 30 Wohnungen einzubauen, um solche Juden aufzunehmen, die mit Wohnschwierigkeiten zu kämpfen haben. Dieser Anregung wurde jedoch nicht stattgegeben, weil die Arbeit der genannten Einrichtungen nicht beeinträchtigt werden durfte, zumal sie teilweise Anordnungen, die von Reichsbehörden und der Geheimen Staatspolizei ausgingen, entsprach.

Die Notwendigkeit des Hauses Gartenstrasse 30 wird durch folgende Umstände noch dringlicher: Derzeit sind in einem Privathaus der Gartenstrasse die Geschäftsräume der Auswanderungsberatungsstelle, des Hilfsvereins der Juden in Deutschland sowie der Jüdischen Winterhilfe in Württemberg untergebracht. Dieses Gebäude dürfte in absehbarer Zeit in arischen Besitz übergehen. Infolgedessen muss man auch für die Unterbringung dieser Stellen Sorge tragen. Ausserdem ist der Isr. Oberrat genötigt, am 1. April 1939 seine Räume in der Königstr. 82 aufgeben zu müssen. Für seine Unterbringung kommt nur das Haus Gartenstrasse 30 in Frage.

Schon aus diesen kurzen Darlegungen dürfte hervorgehen, dass das Gebäude Gartenstrasse 30 derzeit für die genannten jüdischen Stellen lebenswichtig ist, wenn die von ihnen verlangten Gegenwartsaufgaben geleistet werden sollen. Da ein anderes jüdisches Anwesen für diese Zwecke nicht vorhanden ist und eine Verteilung aller dieser Stellen auf Häuser nichtjüdischer Besitzer unerwünscht und auch unmöglich ist, bitten wir, das Gebäude wieder seiner Bestimmung zuzuführen.

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