Rückblick auf Pogrom in Beuthen
Ein Vater aus Beuthen schreibt seiner im Ausland lebenden Tochter am 19. November 1938 über die Ereignisse in den Tagen des Novemberpogroms:
Mein geliebtes Susel!
Dieser Brief geht von Polen ab, da es unmöglich ist, ihn so von hier aus zu schreiben. Jede Wahrheit von hier aus ist ein Greuel, u. da sind sie dahinter mit drakonischen Strafen. Also, wenn ich heut an Dich schreiben kann, so ist es ein Glück u. eine Gnade von Gott, wenn es noch einen gibt. Man muß aber wirklich daran zweifeln, daß es einen gibt, der so etwas zuläßt. Rührt sich nicht das Weltgewissen? Können die Staaten teilnahmslos zusehen, wie 100 oooe drangsaliert, gequält und gemartert werden? Rührt sich kein Finger, um die armen Juden von hier fort zu bringen? Weiß denn noch immer nicht die Welt, daß wir hier fort müssen u. so schnell als möglich, sonst schlachten sie uns alle ab? Bei der geringsten Kleinigkeit müssen es die Juden entgelten, wer oder was etwas machte, oder wer oder was gesagt wird, der Jude wird hoch genommen. Nun zum eigentlichen. Dein letzter Brief kam an, u. kann ich Dir nur sagen, daß wir gar nicht in der Lage waren, Dir zu schreiben. Es ist besser, ich schreibe der Reihe nach. Am 10. November wollte ich wieder früh wegfahren, um wenigstens einige Pfennige zu verdienen, natürlich illegal, denn jede Arbeit ist für Juden verboten. Unterwegs nach der Garage, ich bin nicht mehr in der Silesia, man hat mir p. 1.10. gekündigt, bin bei Martin Fröhlich, Ostland-str., natürlich Jude, klopft mir einer auf die Schulter, es war Josef Freund, Flolzhändler, Bruder von Friedr. Freund. Wissen Sie schon, sagt er, die Synagogen brennen seit heut nacht. Daß ich überrascht u. erschüttert war, kannst Du Dir denken. Was wollen Sie denn machen, frug er, ich fahre auf Tour, meine Antwort. Das würde ich nicht machen, sagt er, ich sage, für mich ist Arbeitstag, ich muß wenigstens etwas verdienen, damit wir leben können, kommen Sie doch mit, ich fahre aufs Land, er wollte nicht. Bei Fröhlich war Schlesinger, Arbeiter-Konfektion, Krakauerstr., der berichtete, daß man in der Wohnung von Heinz Badrian alles kurz u. klein geschlagen habe u. geraubt von Wertsachen u. Geld, was sie fanden. Man wollte mich wieder zurückhalten, ich fuhr aber doch, was ich mir vornehme, führe ich aus. Das war mein Glück. Bis 1 Uhr mittags habe ich gearbeitet, eine innere Unruhe ließ mich nicht los, u. so fuhr ich auf nach Hause zu los, auf Umwegen. Um lA 3 Uhr kam ich in den Hof von Fröhlich u. sah schon Glasscherben. Herr F. kam gerade leichenblaß herunter, er war verunglückt u. geht an Stöcken. Ich frug ihn, er sagte, die Aktion wird wohl noch nicht zu Ende sein. Sofort setzte ich mich wieder in den Wagen u. irrte umher. Schließlich mußte ich doch einmal aufhören u. riskierte eben alles, ließ den Wagen am Ringe stehen u. schlich mich die Langestr. nach Hause. Als ich auf der 3. Treppe schon nach oben sah, blieb mir das Herz stehen, es kam aber noch schlimmer. Die Fenster der Tür eingeschlagen, die Tür aufgebrochen u. ein umgestürztes Kleiderspind dagegen gelehnt, daß die Tür zu blieb. Ich wollte gerade wieder umkehren, da wurde ich von Frau Krause aus dem Hause leise angerufen. Auf jeden Fall wollte ich wissen, wo Mutti u. Frau Friedländer, die bei uns wohnt, seien. Da kein Deutscher mit einem Juden stehen oder sprechen darf, hatte sie natürlich Angst, u. ich erfuhr nur, daß sie beide, auch zum Glück, weggegangen waren. Wie ich gerade herunter gehen wollte, kam Ruth Marcus herauf, die man auch früh verhaftet u. eingesperrt hatte, um 2 Uhr aber entließ. Wir versuchten dann beide, in die Wohnung zu kommen, u. es gelang mit vieler Mühe durch die kniehohen Scherben u. Fetzen durchzukommen. Susel, ich dachte, der Schlag rührt mich sofort, u. dann habe ich bitterlich geweint wie ein kleines Kind. Das haben noch keine Augen gesehen, das waren auch keine Menschen, wilde Tiere, Bestien sind vernünftiger, ich glaube auch, das hätten noch nicht einmal Vandalen gemacht. Nie konnte ich verstehen, daß man auf die Deutschen im Kriege Barbaren gesagt hat u. legte mich s. Zt. dafür kreuz u. quer, aber j etzt..., der Ausdruck ist zu gelinde. Die ganze Wohnung war ein Trümmerhaufen. Alles Glas, Porzellan, Kristall, Bilder, Uhren, Dokumente, ein Matsch. Das Klavier zerhackt, das Harmonium zerhackt, meine schöne alte Geige zerschlagen u. zertrampelt, die Lampen heruntergerissen. Das Buffet aufgehackt u. zerhackt, Kredenz ebenso, alle Stühle kurz u. ldein geschlagen u.s.w., u.s.w., es läßt sich nicht schildern. Natürlich die wenigen Schmucksachen, die wir hatten, geraubt, ich hatte für meine Bilderfabrikanten MK 160.- liegen, die ich Sonnabend mit Abrechnung absenden sollte, geraubt, Muttis letzte paar Pfennige, damit wir leben können, geraubt, es waren 15 oder 18 Mk, Frau Friedländer hatte 30 Mk, vom Bruder unterstützt, sollte den ganzen Monat davon leben, arme Witwe, geraubt, natürlich auch Kleinigkeiten an Schmucksachen, die sie noch hatte, alles weg. Wir stehen alle als Bettler da u. wissen nicht, was mit uns werden soll. RM nahm mich mit in ihre Wohnung, u. dort verbarg ich mich bis gestern. Mutti u. Frau Friedländer führte man abends auch dorthin, u. wir übernachteten alle 3 dort, zu Hause war es unmöglich. Du kannst Dir Mutti denken, sie hat herzzerreißend geweint u. Fr. Friedländer auch. Kein Mensch kann uns helfen, denn alle Männer u. Frauen haben sie verhaftet u. eingesperrt. Die Frauen u. Kinder entließ man abends, die Männer wurden ins Konzentrationslager gebracht. Nur wer Glück zufällig hatte, u. man ihn nicht auch unterwegs schnappte, kam davon. Jeder Christ, der einen Juden bedauerte, wurde verhaftet u. abgeführt. Ein Volk kann das unmöglich machen, es war seit langem vorbereitet, es wußten es eine Menge. Man schätzt, daß ungefähr 30-40 tausend Männer weggeschafft wurden. In einer Menge Städte gibt es fast gar keine Männer mehr. Erwin hat man natürlich auch mit fortgeführt, wahrscheinlich beide Jungen von Tante Bertha auch, ich werde sie in den nächsten Tagen in Breslau sprechen. Beide Synagogen u. das Haus, wo Totscheks als Kastellan wohnte, mit allem, Möbel etc., ist abgebrannt, T. sind nackt u. bloß heraus geflüchtet, u. ihn hat man mitgenommen, die Frau hat man im Nachthemd u. Überrock draußen stehen lassen. Die Feuerwehr hat gut aufgepaßt, daß alles gut brannte u. keine ändern Häuser anbrannten. Männer u. Frauen hat man brutal geschlagen, gleichviel ob alt oder jung, speziell alte Männer u. Frauen. Ein Fall von einer alten Dame ist uns bekannt, die man geschlagen u. gewürgt hat, daß sie beinahe umgekommen wäre. Ich könnte Dir noch unendlich viel erzählen, aber ich kann nicht mehr, es steigt mir immer wieder hoch, wenn ich daran denke. Es gibt nur eins für uns hier, so schnell wie möglich weg, u. jetzt ist es nicht nur eine Gefälligkeit, sondern allerdringendste Pflicht für die Onkels u. Günther in Amerika, uns hin zu nehmen. Das muß sogar ganz schnell gehen, denn lange halten wir es nicht mehr aus. Keinen Tag ist man mehr sicher, wir sind ja Freiwild, wir dürfen nicht mehr arbeiten u. verdienen, damit wir leben können, wir sollen verhungern, oder eingesperrt werden. Es gibt schon eine ganze Menge edle, ritterliche Deutsche, die Juden nichts mehr verkaufen. Na, was soll ich noch schreiben, Du kannst Dir ja vorstellen. Sende diesen Brief an Günther, Du kannst Dir ja eine Abschrift machen. Hoffentlich kommt dieser Brief gut in Deine Hände, denn sonst gnade uns Gott, wir sind verloren. Schreibe uns sofort, wenn Du ihn erhalten hast u. deute uns an, daß es dieser war. Wir wollen in Breslau besprechen u. ein Kabeltelegramm nach Amerika senden. Hoffentlich leiten die alles auf schnellstem Wege ein u. beschleunigen, denn jeder Tag ist kostbar. Bloß hier raus, raus u. nochmals raus. In solcher Umgebung stirbt man 1000 Tode, davon kann sich kein Mensch einen Begriff machen. - Wenn ich heut wenig von Dir u. allem ändern schreibe, so wirst Du das verstehen, ich wollte Dich aber orientieren u. haben, daß der Brief weiter an Günther geht. Ruth hat jetzt die Papiere aus Argentinien bekommen, u. der arme Erwin ist eingesperrt. Wer weiss, ob die Argentinier nicht gesperrt haben. Alle südamerikanischen Staaten sind Unmenschen, wenn sie die armen Juden nicht hereinlassen. Wenn Nordamerika nicht schnell hilft, dann sind wir verloren. Es kommt jetzt nur auf die an, wenn sie wollen, können alle untergebracht werden, schadlos kann man sich später halten, erst alles raus, aber schnell. Die Welt wird sowieso durch die hier keine Ruhe mehr haben, kein Mensch sieht das ein, erst wenn es zu spät sein wird. England u. Frankreich sollen sich nur in acht nehmen. Euer Lord Chamberlin10 hat alles verkorkst, die Engländer werden es noch tief bedauern, daß sie diesem Manne folgten, hätten sie nur Eden u. Churchill gelassen, Europa wäre gerettet worden. - Nun aber Schluß. Mache alles so, wie ich schrieb, bleibe gesund, u. sei vielmals innigst u. herzlichst gegrüßt u. geküßt von Deinem Dich immer liebhabenden u. treuen Vati.
Geliebtes Susele! Er hat Dir nun alles geschrieben, man könnte Bücher schreiben, aber der Mut fehlt. Du kannst Dir von allem keinen Begriff machen. Gebe nur Gott, daß Du diesen Brief erhälst. Schicke ihn sofort an G. Für heute, geliebtes Kind, sei herzlichst gegrüßt und geküsst von Deiner tr. M.
Bin bloß froh, daß ihr beide nicht mehr hier seid.