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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bericht über Juden in Deutschland

Am 15. November 1938 berichtet „The Times“ über die Situation der Juden im Deutschen Reich:

Deutschland und die Juden. Weitere Strafmaßnahmen. Von den Universitäten ausgeschlossen. Beschlagnahme des Kapitals

Von unserem Korrespondenten

Berlin, 14. Nov. Hunderte von Juden standen heute in den Schlangen vor den britischen und amerikanischen Passämtern in der - in nahezu allen Fällen vergeblichen - Hoffnung, man möge ihnen die Einreise in diese Länder gestatten. In vielen Fällen handelte es sich bei den Einlass begehrenden Personen um Frauen, die sich nur um ein Stück Papier bemühten, mit dem sie nachweisen könnten, dass ihre Männer einen Termin bei der Visabehörde hätten. Indem sie so ihre Auswanderungsabsichten unter Beweis stellten, hofften sie, die Freilassung ihrer Angehörigen erwirken bzw. deren Verhaftung verhindern zu können.

Unterdessen haben die deutschen Behörden weitere antijüdische Maßnahmen angekündigt. Obwohl diese weniger drastisch sind als die vom vergangenen Wochenende, so wird damit doch der Last, die die Juden in Deutschland ohnehin schon zu tragen haben, eine weitere hinzugefügt.

Bislang war es einer begrenzten Anzahl von Juden, die in etwa dem jüdischen Bevölkerungsanteil entsprach, erlaubt, an deutschen Universitäten zu studieren. Heute setzte Erziehungsminister Dr. Rust alle Universitätsrektoren telegrafisch davon in Kenntnis, dass zukünftig Juden unter keinen Umständen mehr der Zugang zum Studium bzw. auch nur der Zutritt zu den Hochschulen gestattet ist. Finanzielle Einschränkungen

Der NS-Verband der Privatbankiers setzte seine Mitglieder heute davon in Kenntnis, dass sie ab sofort von Juden keine Aufträge für den Verkauf von Wertpapieren annehmen dürfen. Ferner dürfen die Begrenzungen, die gegenwärtig für derartige Verkäufe im Auftrag von Juden gelten, nicht heraufgesetzt werden. Die Anordnung gilt offenbar sowohl für deutsche als auch für ausländische Juden, und es heißt, dass heute keine Verkaufsaufträge von Letzteren angenommen wurden. Trotzdem ist es einem Juden erlaubt, Wertpapiere zu verkaufen, sofern er den Verkaufserlös dazu benutzt, andere, mindestens gleichwertige Wertpapiere zu erwerben. Infolge dieser Verordnung konnte sich die Aktienbörse, deren Kurse auf Grund der jüdischen Verkäufe um immerhin vier Prozent gesunken waren, am Nachmittag wieder etwas erholen.

Aus München wird berichtet, dass Juden dort nur noch begrenzte Beträge von ihren Bankkonten abheben dürfen. Auch wenn in Berlin solche Maßnahmen nicht grundsätzlich ergriffen worden sind, gingen einzelne Banken trotzdem dazu über, ihre eigenen Beschränkungen einzuführen, wenn es um größere Beträge ging. So heißt es beispielsweise, dass ein Jude, der 25 000 M abheben möchte, am Schalter wahrscheinlich nur 1000 M erhält.

Die „Sühneleistung“

Der Prozess der „Arisierung“ jüdischer Geschäfte schreitet unter dem Einfluss der Schäden und der hohen Geldstrafen, die der Gemeinde auferlegt worden sind, rasch voran. Wie bereits gestern an dieser Stelle angedeutet, scheint es zweifellos übertrieben, das jüdische Gesamtvermögen auf 8000000000 M (672000000 £) zu veranschlagen, so wie gestern von Dr. Goebbels getan. Selbst Parteimitglieder, die nach eigenen Angaben in dieser Hinsicht gut informiert sind, beziffern diesen Betrag kaum höher als 2600000000.

Es ist anzunehmen, dass der höhere Betrag genannt wurde, um die deutsche Bevölkerung mit dem jüdischen Reichtum zu blenden, von dem die Geldstrafe und die Schäden, die sich möglicherweise auf zwei Milliarden Mark belaufen, „nur einen Bruchteil ausmachen“, wie die Zeitungen heute Abend erneut behaupten. Jüdische Betriebe wechseln in kürzester Zeit und zu extrem niedrigen Preisen ihre Besitzer. Mindestens ein Fall ist bekannt, in dem ein großes Industrieunternehmen schließlich zu einem Fünfhundertstel seines Werts verkauft wurde.

Aus hiesigen jüdischen Kreisen wird berichtet, dass gestern Abend und heute Morgen etwa 160 wohlhabende Juden ins Polizeipräsidium zitiert wurden und dass 112 von ihnen erschienen oder, falls sie selbst verhindert waren, Verwandte schickten. Dort überreichte man ihnen Zettel, auf denen die Geldsummen standen, die sie bezahlen sollen, um die Schäden vom vergangenen Donnerstag zu begleichen. Die Beträge, denen Schätzungen des jeweiligen Vermögens des betroffenen Juden zugrunde lagen, sollen sich auf zehn Millionen Mark summieren. Das Geld werden die Behörden verwenden, um die Reparaturkosten der Geschäftsräume jener Juden zu decken, die zu arm sind, um sich diesen Luxus leisten zu können.

Jüdische Autofahrer

Herr Hühnlein, Führer des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps, ordnete heute die Auflösung des „Jüdischen Auto-Club 1927“ an, einer Organisation, die ungeachtet ihres Namens erst 1933 gegründet worden war, um alle jüdischen Autofahrer besonders gründlicher Prüfung unterziehen zu können, wenn sie Zollbescheinigungen für die Grenzüberquerung beantragten. Das genaue Ausmaß von Hühnleins Aktion ist noch nicht bekannt, aber es ist klar, dass die Organisation ihre Schuldigkeit getan hat, jetzt wo Juden unter gar keinen Umständen mehr ihre Autos aus Deutschland herausbringen können.

Soweit zu erfahren ist, gehen die Verhaftungen von Juden weiter, obwohl einige der letzte Woche Verhafteten inzwischen wieder freigelassen worden sind. Viele der Inhaftierten befinden sich mittlerweile in Konzentrationslagern. Berichten zufolge sind 1400 Berliner Juden in den vergangenen Tagen in das Lager in Oranienburg gekommen. Es heißt, dass einige Juden bereits zur Arbeit an Befestigungsanlagen ins Rheinland geschickt worden sind.

Unterdessen versuchen die Behörden, Dr. Goebbels’jüngste Anordnung zu rechtfertigen, die Juden den Besuch „jeder Art von Kulturveranstaltung“ untersagt, einschließlich von Theatern, Kinos und Konzerten. Herr Hinkel vom Propagandaministerium, dessen Aufgabe darin besteht, die jüdischen Kulturorganisationen zu überwachen, teilte deutschen Pressevertretern heute mit, dass die Juden über ein völlig ausreichendes eigenes Kulturleben verfügten, das von der Regierung geschützt und gefördert werde.

Zu diesem Zweck sei 1933 der Jüdische Kulturbund gegründet worden, der sich mittlerweile 184000 Mitgliedern rein jüdischen Bluts rühmen könne. In der Saison 1936/37 sei der Bund für 2211 Theater-, Musik- und Kulturveranstaltungen in ganz Deutschland verantwortlich gewesen, fügte Herr Hinkel hinzu.

Gleichermaßen sei im Propagandaministerium eine Sonderabteilung eingerichtet worden, um alle jüdischen Zeitungen und Zeitschriften unter ihre Fittiche zu nehmen. Diese Journale könnten natürlich nicht öffentlich zum Verkauf angeboten werden, und genauso wenig sei ihnen gestattet, sich mit anderen als rein jüdischen Angelegenheiten wie etwa der Emigration zu befassen. Jüdische Buchhandlungen seien in den meisten deutschen Großstädten zugelassen. (Diejenige in Berlin wurde übrigens am Donnerstag zerstört und geplündert.)

Indessen fristen viele der polnischen Juden, die die deutsche Regierung vor vierzehn Tagen en masse erfolglos nach Polen zu deportieren versuchte, weiterhin ein prekäres Dasein an der deutsch-polnischen Grenze. In Neu-Bentschen werden 6000 heimatlose Juden vom Polnischen Roten Kreuz und von zionistischen Organisationen in provisorischen Lagern versorgt.

Die Verhandlungen zwischen der deutschen und der polnischen Regierung über das Schicksal dieser Juden sind - zumindest vorläufig - zum Stillstand gekommen. Die polnische Delegation hat Vorschläge gemacht, die als Grundlage für neue Verhandlungen dienen könnten; nun ist sie nach Warschau zurückgekehrt und wartet dort auf die deutsche Antwort.

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