Morde während des Pogroms
SA-Männer aus Lesum erschießen in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 drei Juden in ihren Wohnungen. Das gegen sie eingeleitete Verfahren wird mit folgender Begründung eingestellt:
Im Namen des Führers Geschäfts-Nr. Sondersenat Nr. 6
In Sachen des SA- Scharführers u. Pg. August Frühling in Lesum und des SA-Rottenführers Bruno Mahlstedt, Mitglieds-Nummer
hat der Sondersenat des Obersten Parteigerichtes der NSDAP in der Sitzung vom 20. Januar 1939 unter Mitwirkung des Richters
Pg. Schneider als Vorsitzenden
und der Richter Pg. Koch-Schweisfurth
Pg. v. Wauck als Beisitzer
Pg. Lohse, Gauleiter,
Pg. Damian, SA-Gruppenführer als Schöffen Für Recht erkannt:
Das Verfahren wird eingestellt.
Begründung:
I. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 wurden in Lesum bzw. Platjenwerbe das jüdische Ehepaar Goldberg und der jüdische Elektriker Sinasohn in ihren Wohnungen erschossen. Sinasohn wurde nach der Erschießung vergraben. Die Handlungen geschahen anlässlich der Massnahmen gegen die Juden nach dem Tod des Gesandtschaftsrates vom Rath. Die Ausführenden waren im Falle Goldberg der SA-Scharführer Frühling, im Falle Sinasohn der SA-Rottenführer Mahlstedt. Beide legten, zur Verantwortung gezogen, dar, über den Obersturmführer Jahns bzw. den Obertruppführer Harder von dem Sturmhauptführer Köster den Befehl zur Erschießung der Juden Goldberg und Sinasohn und zur Beiseiteschaffung des Sinasohn empfangen zu haben. Köster bestätigte in seiner Vernehmung die Richtigkeit der Darlegungen der SA-Männer. Zu seiner Rechtfertigung führte er aus, dass er den an sie bzw. ihre Führer Jahns und Harder in ihrer Anwesenheit gegebenen Befehl zur Beseitigung der Juden seinerseits von der Standarte 411 durch den Truppführer Seggermann erhalten habe. Dieser Befehl sei wiederum auf eine telefonische Anfrage seines von ihm in der Nacht geweckten Sturmbannführers Roeschmann von der Gruppe bestätigt worden.
Zu den Darlegungen Kösters ist auf Grund der Beweisaufnahme folgender Sachverhalt erwiesen:
Sturmhauptführer Köster, Bürgermeister der Stadt Lesum, wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 um etwa V2 4 Uhr durch das Telefon geweckt. Sein Hausmeister, der ihn angerufen, teilte ihm mit, dass die Standarte 411 ihn zu sprechen wünsche. Auf der Standarte meldete sich ein Truppführer Seggermann. Es entwickelte sich folgendes Gespräch:
„Hier Standarte 411. Am Telefon Truppführer Seggermann. Haben Sie schon Befehl?“ Köster: „Nein“.
Seggermann: „Grossalarm der SA. In ganz Deutschland. Vergeltungsmassnahmen für den Tod vom Rath. Wenn der Abend kommt, darf es keine Juden mehr in Deutschland geben. Auch die Judengeschäfte sind zu vernichten. Sturmbannführer Roeschmann ist zu benachrichtigen.“
Köster hat den ganzen Befehl wiederholt und, überrascht durch den Inhalt des Mitgeteilten, nach der Wiederholung des Befehls noch einmal gefragt: „Was soll denn tatsächlich mit den Juden geschehen?“, worauf ihm von Seggermann die Antwort [erteilt] wurde: „Vernichten!“ Auf die weitere Frage von Köster, ob Sturmbannführer Roeschmann sich noch eine Bestätigung des Befehls holen solle, gab Seggermann die weitere Antwort: „Nein, handeln!“
Köster begab sich darauf zu dem Haus von Roeschmann, weckte ihn und teilte ihm den von der Standarte durch Seggermann erhaltenen Befehl mit. Wegen der Bedeutung des Befehls wurden beide sich einig, sich eine Bestätigung bei der Gruppe zu holen. Roeschmann telefonierte deshalb in Gegenwart von Köster auf der SA-Dienststelle mit der Gruppe. Dort meldete sich in vorübergehender, durch die Ereignisse bedingter Abwesenheit des Stabsführers Oberführer Römpagel der Sturmführer vom Dienst Gross. Roeschmann, der den erhaltenen Befehl am Fernsprecher nicht durchgeben wollte, sagte, als Gross sich meldete, lediglich: „Ich habe hier so einen verrückten Befehl; hat das mit dem seine Richtigkeit?“, worauf ihm Gross antwortete: „Jawohl, in Bremen ist schon die Nacht der langen Messer in Gange. Die Synagoge brennt bereits.“ Auf die Frage Roesch-manns: „Ist das amtlich?“, antwortete Gross: „Das ist amtlich.“
Köster, der Roeschmann bei dem Telefongespräch am Tisch gegenüber sass, wollte Klarheit. Als er diese aus dem, was Roeschmann am Apparat zunächst sprach und fragte, nicht zu ersehen glaubte, schlug er, um sich verständlich zu machen und seiner Frage Nachdruck zu verleihen, während des Gesprächs mit der Faust auf den Tisch und sagte unter Anspielung auf die Worte Seggermanns zu Roeschmann: „Was heißt vernichten?“, worauf ihm Roeschmann wiederholte: „In Bremen ist bereits die Nacht der langen Messer im Gange“ und das Gespräch beendend antwortete: „Ja, Fritz, es ist so, wir müssen handeln.“ Röschmann und Köster haben das von Gross Gesagte als eine Bestätigung des Befehls der Standarte aufgefasst, also die „Nacht der langen Messer“ auf die Beseitigung der Juden bezogen. Sie haben es nach ihren Aussagen um so mehr als eine Bestätigung des Befehls der Standarte angesehen, als kurz vor dem Gespräch mit der Gruppe die Polizeistation Vegesack die SA-Dienststelle angerufen und ihr mitgeteilt hatte, dass ein Sturmführer Weber unterwegs sei, einen von Vegesack nach Blumenthal, einem Nachbarort, geflüchteten Juden abzuholen. Sowohl Roeschmann als auch Köster erteilten sodann an ihre Männer in der Gewissheit, dass ein solcher Befehl nur im Einverständnis mit den höchsten Stellen gegeben werde, im Innern erschüttert, entsprechende Befehle, wobei Köster, als ihn der Obertruppführer Harder im Falle Sinasohn bei der Befehlsausgabe noch einmal fragte, was denn nun getan werden solle, antwortete: „Vernichten, verschwinden lassen“. Die Worte „verschwinden lassen“, die nach der Meinung Kösters nur ein weiterer Ausdruck für vernichten sein sollten, fasste Harder wörtlich auf, so dass nach der Er-schiessung des Sinasohn durch Mahlstedt der Erschossene von Harder und seinen Leuten auf einer Weide begraben wurde. Köster selbst ging mit einem seiner Truppführer zu einer jüdischen Familie, verhaftete sie und fuhr sie mit seinem Wagen auf freies Feld, um sie zu erschiessen. Er brachte die Erschiessung jedoch ebensowenig wie sein Truppführer über sich, sondern liess die Juden auf dem Feld unter Abgabe eines Schreckschusses laufen.
Bei den die Erschiessungen Ausführenden, Frühling und Mahlstedt, handelt es sich um gut beleumundete Männer, die der SA seit 1935 angehören, die nicht vorbestraft sind und denen von ihren zuständigen SA-Führern nach Charakter und Führung ein gutes Zeugnis ausgestellt wird. Irgendwelche selbstsüchtigen Motive waren bei keinem von ihnen festzustellen. Die Erschossenen sind sowohl Mahlstedt als auch Frühling unbekannt gewesen. Beide haben einem erhaltenen Befehl in selbstverständlichem Gehorsam nach schwerem inneren Kampf Folge geleistet.
Dieser Sachverhalt beruht auf den eidlichen Aussagen der Zeugen Roeschmann und Köster sowie auf den Bekundungen der Zeugen Gross und Seggermann.
II. Hinsichtlich der Übermittlung des angeblichen Befehls der Standarte 411 an Köster durch Seggermann konnten folgende Feststellungen getroffen werden:
Der Führer der Standarte 411, Standartenführer Löber war vom Kreisleiter und Zeugen Kühn in der Nacht vom 9. zum 10.11.1938 dahin unterrichtet worden, dass
1.) die jüdischen Geschäfte zu zertrümmern und
2.) die Synagogen in Brand zu setzen seien.
Irgendwelche Befehle von der Gruppe hatte Löber nicht empfangen. Löber versuchte, seine Sturmbannführer in der Nacht von den geplanten Massnahmen in Kenntnis zu setzen. Er versuchte deshalb auch, den Sturmbannführer Roeschmann telefonisch zu erreichen. Als ihm dies nicht gelang, beauftragte er den bei der Standarte hauptamtlich tätigen Truppführer Seggermann, eine Verbindung mit dem Sturmhauptführer Köster herzustellen. Löber lässt die Möglichkeit offen, dass er nach vielen Versuchen, eine Verbindung zu erreichen, dem Truppführer erlaubt habe, sich mit Köster in Verbindung zu setzen und diesem selbst die besprochenen Befehle, nämlich 1.) die jüdischen Geschäfte zu zertrümmern und 2.) die Synagogen in Brand zu setzen, von denen allein die Rede gewesen sei, zu übermitteln. Seggermann teilte nach dem Gespräch mit Köster, an den Tisch des Standartenführers zurückkehrend und Meldung erstattend, diesem auch auf seine Frage, welche Befehle er übermittelt, mit, dass er die obigen 2 Befehle weitergegeben habe. Diese 2 Befehle sind im Bereich der Standarte 411 bis auf den vorliegenden Fall auch nicht überschritten worden.
Die Stimmung, die nach den übereinstimmenden Aussagen aller Beteiligten, und zwar hier der Zeugen Standartenführer Löber, Kreisleiter Kühn und des Truppführers Seggermann in jener Nacht in dem Cafe Wendt, in dem die Zeugen sassen, geherrscht hat, ist die gewesen, dass nun endlich der Zeitpunkt der restlosen Lösung der Judenfrage für gekommen erachtet wurde und dass die wenigen Stunden bis zum nächsten Tage genützt werden müssten. Es hat ferner die Auffassung geherrscht, dass bei dem geringsten Widerstand zu schiessen sei und dass es dabei auf ein Judenleben nicht ankomme. Sämtliche beteiligten Führer waren sich nach der Aussage des Standartenführers Löber jedoch auch darüber klar, dass irgendeine befehlsmässige Unterlage für eine solche Auffassung nicht vorhanden gewesen sei, dass aber dennoch so gegen die Juden vorgegangen werden könne und müsse und dass dies schliesslich auch die Auffassung der höchsten Stellen sei, die deshalb sich nicht deutlich ausdrückten, weil sie nicht eine für die Bewegung ungünstige Rechtslage mit einem eindeutigen Befehl hätten schaffen wollen.
Aus dieser von dem Zeugen Standartenführer Löber bekundeten Auffassung heraus will der Zeuge Seggermann sodann sein Gespräch mit Köster geführt haben, wie es bereits dargelegt ist und wie es von ihm in den wesentlichen Punkten zugegeben wird.
III. Was die von Roeschmann und Köster angeführte Bestätigung des Befehls durch die Gruppe angeht, so bestreitet der Zeuge Sturmführer Gross nicht, auf die Frage Roesch-manns: „Ich habe hier so einen verrückten Befehl, hat das mit dem seine Richtigkeit?“ mit „Jawohl“ geantwortet und zugleich erklärt zu haben, dass in Bremen die Synagoge bereits brenne und die Nacht der langen Messer im Gange sei. Er will aber die „Nacht der langen Messer“ nicht, wie Roeschmann, auf die Umbringung der Juden, sondern im wesentlichen nach dem Inhalt des ihm durch den Oberführer bekannt gewordenen Befehls des Gruppenführers auf die Inbrandsetzung der Synagogen, die Zerstörung der Geschäfte und die Unterbringung der Juden in Konzentrationslagern bezogen haben, zumal er auch habe annehmen können, dass Roeschmann den Befehl des Gruppenführers mit seiner Frage nach der Richtigkeit des von ihm empfangenen Befehls gemeint habe, worin von einer Beseitigung der Juden aber nichts zu lesen gewesen sei. Mit dem Ausdruck „die Nacht der langen Messer“ will Gross ferner lediglich von sich aus der Stimmung Ausdruck gegeben haben, die in der Nacht unter den SA-Führern geherrscht habe, nämlich, dass nunmehr der Zeitpunkt der völligen gewaltsamen Lösung der Judenfrage gekommen sei, bei der es auf das Leben eines Juden nicht ankomme.
Der Befehl des Gruppenführers, der dem Stabsführer der Gruppe, Oberführer Römpagel, in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 telefonisch übermittelt wurde, ist von diesem wie folgt schriftlich zusammengefasst worden:
„Sämtliche jüdischen Geschäfte sind sofort von SA-Männern in Uniform zu zerstören. Nach der Zerstörung hat eine SA-Wache aufzuziehen, die dafür zu sorgen hat, dass keinerlei Wertgegenstände entwendet werden können. Die Verwaltungsführer der SA stellen sämtliche Wertgegenstände, einschliesslich Geld, sicher.
Die Presse ist heranzuziehen.
Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. Es sind nur Wohnhäuser arischer Deutscher zu schützen von der Feuerwehr. Jüdische anliegende Wohnhäuser sind auch von der Feuerwehr zu schützen, allerdings müssen die Juden raus, da Arier in den nächsten Tagen dort einziehen werden.
Die Polizei darf nicht eingreifen. Der Führer wünscht, dass die Polizei nicht eingreift. Die Feststellung der jüdischen Geschäfte, Lager und Lagerhäuser hat im Einvernehmen mit den zuständigen Oberbürgermeistern und Bürgermeistern zu erfolgen, gleichfalls das ambulante Gewerbe.
Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schiessen. An den zerstörten jüdischen Geschäften, Synagogen usw. sind Schilder anzubringen, mit etwa folgendem Text:
‚Rache für Mord an vom Rath
Tod dem internationalen Judentum.
Keine Verständigung mit den Völkern, die judenhörig sind.
Dies kann auch erweitert werden auf die Freimaurerei.‘“
Stabsführer Römpagel hat diesen Befehl den erreichbaren SA-Führern schriftlich ausgehändigt, andere sind telefonisch von seinem Inhalt in Kenntnis gesetzt worden. Römpagel hat als Zeuge bekundet, dass er, nachdem er den Befehl erhalten, sich darüber klar gewesen sei, dass es Tote geben würde. Er habe aber weder den Gruppenführer gefragt, ob Juden umgelegt werde könnten, noch habe der Gruppenführer von sich aus ähnliches gesagt. Erst um 2 Uhr sei ihm vom Gruppenführer durch den Befehl, dass die Juden in ein Konzentrationslager gebracht werden sollten, Klarheit geworden, was mit den Juden zu geschehen habe. Er selbst habe aber auch vor Erhalt des zweiten Befehls den ersten Befehl nicht so aufgefasst, dass einfach bei jedem Juden Widerstand ohne weiteres anzunehmen sei, denn er habe selbst die Besitzer eines jüdischen Hotels ausgehoben, ohne diese irgendwie anzurühren. Allerdings sei die Meinung unter den SA-Führern, die auf der Gruppe erschienen waren, die gewesen, dass es nun auf Judenleben nicht ankomme und dass ruhig der eine oder andere über die Klinge springen könnte.
Bei den vernommenen SA-Führern handelt es sich durchweg um alte SA-Führer. Sie hinterliessen in der Verhandlung den denkbar besten Eindruck, sowohl hinsichtlich ihres ganzen Auftretens, ihrer Haltung und Einsatzbereitschaft, ihrer Wahrheitsliebe, von der auch dort nicht abgegangen wurde, wo sie sich selbst hätten belasten können, als auch hinsichtlich ihres Einstehens für ihre Männer und der diesen gegebenen Befehle.