Verhaftung während des Pogroms
Rabbiner Arthur Bluhm schildert 1940 im Rahmen eins Preisausschreibens der Harvard-University die Pogromnacht in Krefeld und seine Verhaftung:
Ich besaß zwei Telefone. Eins befand sich in meinem Büro im zweiten Stock und das andere in unserer Wohnung im ersten Stock. Bei letzterem handelte es sich um ein tragbares Modell. Ich konnte es in drei Zimmern anschließen, im Salon, im Wohn- und im Schlafzimmer. Nachts stand es auf meinem Nachttisch. In der Nacht auf den 10. November klingelte um zehn nach drei das Telefon. Herr Halperin war dran. Er war Vorbeter und wohnte in einem Haus, das direkt neben unserer Synagoge lag. Er war sehr aufgeregt und sagte: „Sie zerstören unsere Synagoge.“ Ich fragte ihn: „Haben Sie die Polizei und Dr. Alexander angerufen?“ Er antwortete: „Ja. Die Polizei hat erklärt, sie könnte uns nicht helfen.“ Ich antwortete: „Gehen Sie nicht in die Synagoge. Schließen Sie die Verbindungstür sorgfältig ab. Ich werde versuchen, einen der maßgeblichen Beamten zu erreichen. Ich gebe Ihnen Bescheid.“ Zuerst rief ich das Überfallkommando (die Polizeidienststelle, die man bei plötzlichen Überfällen um Hilfe ruft) an. Dort sagte man mir, es wäre in der Stadt zu Unruhen gekommen, und alle Beamten seien beschäftigt, man könne niemanden schicken. Dann rief ich die Gestapo an. Dort teilte man mir mit, dass auch hier alle Beamten eingespannt seien und man nichts tun könne. Danach versuchte ich Dr. Hürter, den Polizeichef unserer Stadt, zu erreichen, als nächsten Major Wittkugel, seinen Vertreter, und schließlich den Chef der Gestapo. Sie alle waren weder zu Hause noch in ihren Büros zu erreichen. Daraufhin rief ich Dr. Alexander an. Er wollte zu mir kommen, aber es gelang ihm nicht, ein Taxi zu finden, das bereit war, einen jüdischen Fahrgast mitzunehmen. Ich sagte: „Ich werde Herrn Beckers, meinen Taxifahrer anrufen. Er wird Sie fahren, ganz bestimmt.“ Herr Beckers erklärte sich einverstanden.
All diese Anrufe tätigte ich von meinem Bett aus. Dann standen Hanna und ich auf. Unsere Schlafzimmerfenster gingen auf die Hintergärten unseres Häuserblocks hinaus. Da wir am Abend zuvor spät zu Bett gegangen waren, hatten wir die Jalousien nicht heruntergelassen, um unsere Nachbarn und die im selben Haus lebenden Angehörigen nicht zu stören. Als ich mich anzog, sah ich einen hellen Schein aus der Richtung unserer Synagoge kommen. Ich rief: „Hanna, schau! Die Synagoge steht in Flammen!“ Hanna antwortete: „Das kann nicht sein.“ In diesem Moment klingelte das Telefon und Herr Halperin sagte, den Tränen nahe: „Die Synagoge brennt. Ich kann nicht aus dem Haus. Die SA versperrt den Weg.“ Ich rief umgehend die Feuerwehr an. Dort teilte man mir mit, dass ihre Männer bereits auf dem Weg zur Synagoge seien. Daraufhin rief ich alle möglichen staatlichen Stellen an. Alle erklärten mir, sie seien außerstande zu helfen. Zwischen all diesen Anrufen versuchte ich, Herrn Kober, den Verwalter unseres schönen neuen Gemeindehauses zu erreichen. Dieses lag in einer anderen Straße. Leider hatten sie dort nur ein Telefon im Esszimmer, und die Hausbewohner hörten es nicht. Schließlich rief ich Herrn Otto Meyer an, eins unserer Vorstandsmitglieder, einen klugen und energiegeladenen Mann. Sein Auto stand bei ihm vor der Tür. Ich bat ihn, zu mir zu kommen. Er hatte von der Unruhe nichts mitbekommen und war sehr überrascht zu hören, was passiert war.
Während ich diese Anrufe tätigte, sah ich, dass die Kuppel der Kathedrale von den Flammen der brennenden Synagoge erleuchtet wurde. Ich hatte gerade den Hörer auf die Gabel zurückgelegt und durch das Fenster in Richtung der Synagoge geblickt, als die jüngste Tochter von Herrn Halperin anrief und sagte: „Das Schlafzimmer steht bereits in Flammen. Wir kommen nicht aus dem Haus.“ Daraufhin rief ich erneut die Feuerwehr an. Sie antworteten mir, dass die Feuerwehrleute bereits an der Synagoge seien und die Bewohner retten würden.
Nachdem ich vom Balkon unseres Salons aus festgestellt hatte, dass sich niemand auf der Straße befand, ging ich hinunter, um die Tür für Dr. Alexander und Herrn Meyer zu öffnen. Ich musste ein paar Minuten warten. Vor mir sah ich den Turm im Hof beleuchtet von den Flammen der brennenden Synagoge. Währenddessen hielt ich weiter Ausschau. Ein Auto hielt an der nächsten Ecke. Dr. Alexander und seine Frau stiegen aus. Als sie ins Haus traten, sah ich ein anderes Auto Vorfahren. Ich vermutete Herrn Meyer darin, und so war es auch. Ich sagte zu ihm: „Ich hatte eigentlich vor, während der Nacht zu Hause zu bleiben, aber Herr Halperin und seine Familie befinden sich in dem brennenden Haus.“ Er antwortete: „Lassen Sie uns zur Synagoge fahren.“ Wir stiegen am Ostwall, eine der Hauptstraßen der Stadt, aus dem Auto und versuchten, die Synagoge auf diesem Weg zu erreichen. Es war unmöglich. Wir sahen, dass die Leute auf der Straße nicht näher als auf eine Entfernung von zwei Blocks an die Synagoge herankamen. Durch eine Seitenstraße näherten wir uns der Synagoge, die an einer Straßenecke lag.
Auf dieser Straße befanden sich nur SA- und SS-Leute mit ihren Freunden, darunter auch einige Frauen. Wir hörten sie lachen und spotten. Die Frauen waren am schlimmsten. Sie bedauerten, dass Herr Halperin und seine Familie gerettet wurden. Dies war klar ersichtlich, ohne jemanden fragen zu müssen. Wir sahen das Gewölbe der Kuppel einstürzen. Die johlende Menge wich zurück, blieb einen Augenblick lang still, um danach noch lauter zu grölen, als hätte sie eine Heldentat vollführt. Wir sahen, dass die Feuerwehr das Haus beschützte, in dem die Familie Halperin gelebt hatte, ebenso wie die anderen Häuser in der Nachbarschaft. Die Türen der Synagoge waren verbrannt. Im Innenraum und auf den Treppen sahen wir Fässer. Von diesen Fässern stiegen Flammen auf. Später hörten wir, dass man diese mit Buttersäure gefüllten Fässer in die Synagoge gebracht und angezündet hatte, nachdem die Einrichtung zerstört worden war. Ich wollte umkehren, doch Flerr Meyer sagte: „Dort ist der Brandmeister der Feuerwehr. Ich kenne ihn. Ich will zu ihm gehen und herausfmden, ob das Gemeindehaus zu retten ist.“ Herr Meyer erklärte dem Chef, dass sich wichtige Papiere für die Emigranten in den Büros unseres Gemeindehauses befänden. Er sagte, dass wir sie brauchten, und fragte, ob wir sie holen könnten oder ob er das Haus retten könne. Der Chef wandte ihm den Rücken zu, ohne ihn auch nur eines Blicks zu würdigen. In diesem Moment kam ein SA-Anführer, der mich kannte, auf mich zu und forderte mich auf, die Straße zu verlassen. Die aus SA-Leuten und ihren Anhängern und Mädchen bestehende Menge begann zu johlen. Im gleichen Augenblick griff mich ein junger Mann an. Sein Gesicht war das eines Kriminellen. Sollte ich ihm noch einmal begegnen, würde ich ihn wiedererkennen. Ich verteidigte mich, so gut ich konnte. Herr Meyer unternahm nichts. Er wurde nicht angegriffen. Ich bat einen vorbeigehenden Polizisten, mir zu helfen, aber der nahm keine Notiz von mir. Die SA johlte und feuerte den Angreifer an. Ich wunderte mich, dass die SA mich nicht ebenfalls angriff. Die Gestapo, die mich am nächsten Tag verhaftete, verriet mir den Grund dafür. Sie hatten strikte Anweisungen, niemanden anzugreifen, zu belästigen oder zu verletzen. In dieser brenzligen Situation gaben vier SS-Männer in Zivil dem Kriminellen Anweisung, mich loszulassen. Die vier folgten uns. Wir befürchteten, dass sie Herrn Meyers Wagen demolieren würden. Deswegen gingen wir zum Taxistand. Als wir im Wagen saßen, verboten diese vier Männer dem Fahrer, uns oder andere Juden als Fahrgäste zu akzeptieren. Ich sagte, dass wir in diesem Fall zu Fuß gehen würden. Die vier Männer folgten uns. Nach einem kurzen Stück des Wegs drehten wir uns um und fragten sie, was sie wollten. Sie antworteten: „Nichts, außer dass Sie nach Hause gehen.“ Wir antworteten: „Genau das tun wir. Wenn Sie Ehrenmänner sind, lassen Sie uns in Ruhe.“ Dies taten sie dann auch. Wir gingen weiter zu meinem Haus. Hanna hatte guten Grund, aufgeregt zu sein. Sie hatte Tee vorbereitet. Wir saßen im Esszimmer, das auf die Gärten und nicht die Straße hinausging. Nur wenige Minuten nach unserer Rückkehr klingelte es an der Tür. Uns allen wich die Farbe aus dem Gesicht. Ich ging auf den Balkon des Salons. Vor der Tür standen der Sohn des Verwalters und ein Angestellter des neuen Gemeindehauses. Ich öffnete die Tür. Herr Kober junior war nur unvollständig bekleidet. Der Angestellte war barfuß und hatte nur seinen Schlafanzug an. Er blutete aus Mund und Nase. Sie schilderten uns, wie das Haus zuerst verwüstet und dann angezündet worden war. Die Bewohner des Hauses hatten die SA und SS nicht hereinkommen gehört. Gegen vier Uhr morgens wurden plötzlich die Türen der Schlafzimmer im zweiten Stock brutal aufgebrochen. Das Licht wurde eingeschaltet, und Herr Kober und Frau Kober, Herr Kober junior und der Angestellte erblickten entsetzt in ihren jeweiligen Räumen Männer, die Revolver in den Händen hielten und sie anschrieen: „Verlasst sofort das Zimmer!“
Die Hausbewohner wurden in ein Zimmer getrieben, dessen Tür die Bande versperrte. Die Bande drohte ständig, sie zu erschießen. Sie konnten hören, wie die SA und SS unter Johlen und Jubeln das Mobiliar zerstörte. Bisweilen hörten sie - und sahen dies auch durch die geöffnete Tür - einige der Männer mit ihren Revolvern auf die Glühbirnen an Wänden und Decken schießen.
Später hörten sie einen Befehl: „Achtung! Fertig machen zum Feuerlegen!“
Einige aus der Bande sagten zu unseren vier Leuten: „Jetzt wünschen wir euch viel Spaß. Wir werden euch mit dem Haus verbrennen.“ Dann schrieen sie plötzlich: „Raus aus dem Haus!“ Die vier verließen das Haus durch ein Spalier von Banditen, und auf dem Weg nach draußen wurden beide jungen Männer getreten und geschlagen. Bis sie die Haustür erreicht hatten, konnten sie schon das Knistern des Feuers aus dem Innern des Hauses hören. Auf der Straße wurden sie dann von der Menge getrennt. Sie sahen Herrn Kober auf der anderen Straßenseite, konnten aber nirgendwo Frau Kober entdecken. An dieser Stelle des Berichts jammerte der junge Kober: „Ich habe nicht gesehen, dass meine Mutter das Haus verließ; sie ist noch in dem brennenden Haus, da bin ich sicher.“ Wir konnten ihn nicht beruhigen. Schließlich wimmerte er wie ein kleines Kind: „Meine Mutter, meine arme Mutter.“ Ich hatte das Gefühl, etwas unternehmen zu müssen. Ich nahm den Hörer und rief die Gestapo an. Ich erkannte Offizier Diers Stimme. Ich sagte: „Herr Dier?“ Er antwortete: „Ja.“ Dann erzählte ich ihm, dass der junge Kober befürchtete, seine Mutter sei in dem brennenden Haus geblieben. Dier antwortete: „Das kann ich mir kaum vorstellen. Wir hatten spezielle Anweisungen, dass niemand zu Schaden kommen sollte. Aber ich werde nachsehen, was passiert ist.“ Doch diese Nachricht konnte den Jungen nicht beruhigen. Wir gaben ihm ein Beruhigungsmittel und legten ihn auf die Couch in unserem Wohnzimmer. Dann brachten wir den blutenden Dienstboten in unser Badezimmer und wuschen ihm das Gesicht. Ich gab ihm einen Anzug von mir sowie ein Hemd, Socken, Schuhe, Geld und was er sonst noch brauchte. Er wollte sofort zu seiner Familie fahren. Sie lebte in einer Kleinstadt, etwa zwei Stunden mit der Bahn von Krefeld entfernt. Er sagte: „Es gibt einen guten Zug, der in einer halben Stunde in Krefeld abfährt. Den kann ich gerade noch schaffen.“ Ich antwortete: „Nein, Sie müssen bis Tagesanbruch warten. In der Stadt sind Unruhen ausgebrochen. Sie könnten von marodierenden Banden schikaniert werden. Sie können einen späteren Zug nehmen.“
Für einen Augenblick saßen wir still am Tisch. Es war drückend heiß. Plötzlich ging die Türglocke. Niemand wagte zu sprechen. Vom Balkon erkannte ich Herrn Kober senior. Als ich ihm die Tür öffnete, waren seine ersten Worte: „Wo sind meine Frau und mein Sohn?“ Ich beruhigte ihn, indem ich sagte: „Ihr Sohn ist hier. Ihre Frau ist in Sicherheit.“ Es war mittlerweile etwa fünf Uhr. Herr Kober senior befand sich in einem Zustand furchtbarer Anspannung. Er wollte wissen, wo seine Frau war. Er wollte umgehend zu ihr. Ich sagte: „Sie können sie später sehen, aber jetzt nicht. Seien Sie ein Mann, und seien Sie vernünftig.“ Er antwortete: „Ich kann nicht denken. Ich kann immer nur diesen Hammer hören und wie sie mit dem Hammer zuschlagen. Können Sie mir helfen, dass ich dies nicht mehr länger hören muss?“ Er hielt sich die Ohren mit seinen Händen zu und lief wie ein wildes Tier durch das Zimmer. Das regte seinen Sohn nur noch mehr auf. Er stöhnte: „Meine Mutter, meine Mutter.“ Schließlich bat ich ihn barsch, still zu sein. Wir brauchten unsere Nerven für die kommenden Ereignisse. Ich legte seinen Vater auf die Couch und ließ ihn allein im Esszimmer zurück.
Dr. Alexander, Herr Meyer und ich beschlossen, eine Mitgliederversammlung unseres Gemeindevorstands um neun Uhr morgens in meinem Haus einzuberufen, um zu entscheiden, was zu tun sei. Gegen sechs Uhr rief der Sekretär unserer Gemeinde an. Frau Kober war soeben bei ihm zu Hause eingetroffen. Sie trug nur ein Tuch über ihrem Schlafanzug. Sie war eigentlich eine energiegeladene und lebhafte Frau, aber man hatte sie völlig aus der Fassung gebracht. Ein Polizist, der sie kannte, war ihr begegnet, als sie durch die Straßen irrte. Er gab ihr meine Adresse, die sie in ihrer Aufregung vergessen hatte, und wies ihr den Weg. Er sagte ihr, sie solle zu mir nach Hause gehen. Dort habe sie nichts zu befürchten. In meinem Haus würde sie nicht angegriffen. Sie war bereits in unsere Straße eingebogen, als sie eine marodierende Bande sah und deswegen kehrtmachte und stattdessen zu Herrn Traub ging. Sie beruhigte sich, nachdem sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn gesprochen hatte. Nach diesem Anruf gingen Herr Kober und sein Sohn zu Herrn Traub nach Hause.
Gegen sechs Uhr morgens rief Herr Meyer seinen jüdischen Chauffeur an, der seinen Wagen abholen sollte, den wir am Abend zuvor am Ostwall hatten stehen lassen. Er trug ihm auf, durch die Stadt zu fahren und uns zu erzählen, was nachts passiert sei. Der Fahrer wusste nicht, was sich ereignet hatte, und zeigte sich äußerst erstaunt. Als er eintraf, hörten wir von ihm, dass die wenigen jüdischen Geschäfte, die es noch gab, zerstört worden waren. Das Glas der Schaufenster lag auf der Straße. Vor den jüdischen Geschäften waren SS-Posten aufgestellt. Soweit der Fahrer erkennen konnte, waren die Geschäfte von innen völlig zerstört. Unsere Gäste hatten uns am frühen Morgen gerade erst verlassen, als das Telefon alle paar Minuten zu läuten begann. In Mönchengladbach, der Nachbarstadt, hatten die gleichen Ausschreitungen stattgefunden, erzählte mir der dortige Rabbiner. Ich rief meine Rabbiner-Kollegen in Düsseldorf und Duisburg an, zwei anderen Nachbarstädten, konnte dort aber niemanden erreichen. Später erfuhr ich, dass der Duisburger Rabbiner, Dr. Neumark, im Laufe der Nacht verhaftet worden war. Sie verlangten von ihm, dass er ihnen sage, wo die Juden das Gold aus der Synagoge versteckt hätten. Sie bedrohten ihn, als er ihnen erklärte, dass es überhaupt kein Gold gäbe. In Düsseldorf verwüsteten sie die Wohnungen der Rabbiner und malträtierten Dr. Klein, den Assistenten des Rabbiners. In Viersen, einer kleinen Stadt in unserer Nähe, hatten sie alle jüdischen Männer verhaftet. Einige von ihnen wurden von der SS verprügelt. Unter ihnen befand sich auch der jüdische Lehrer und Kantor Herr Nussbaum, der über 70 Jahre alt war. Er war auf dem Weg ins Gefängnis gesehen geworden, aus Nase und Mund blutend.
Später hörte ich, dass man abends diese Männer, als sie sich im Gefängnis befanden, durch das offene Fenster mit Wasser begossen hatte. Solche und ähnliche Nachrichten erhielt ich ununterbrochen telefonisch. In Linn, einem Krefelder Vorort, hatten sie die Synagoge abgebrannt, das Innere zweier jüdischer Privatwohnungen verwüstet und alle jüdischen Männer verhaftet. Ich rief Herrn Tuss an, der in Uerdingen, dem anderen Krefelder Vorort, lebte. Er wusste noch nichts von den Verfolgungen. Ich informierte ihn und bat ihn, die Schriftrollen aus der Synagoge zu holen. Als er zur Synagoge kam, waren die Vandalen bereits dort. Sie verhafteten ihn, kurz nachdem er nach Hause zurückgekehrt war, und verwüsteten sein Geschäft und sein Haus. Als ich fünf oder sechs Wochen später bei ihm zu Besuch war, sah ich die Spuren dieser Verwüstung.
Nach dem Anruf von Frau Servos konnte ich mir ein genaues Bild unserer Situation machen. Ihr Mann war in Frankfurt/Main gewesen. Am Abend zuvor hatte man ihn verhaftet und sofort in das Konzentrationslager Buchenwalde gebracht.
Im Laufe der Trauerwoche trafen sich einige Männer morgens und abends in meinem Haus zum Gebet - unser „Minjan“ (die zehn Männer älter als 13 Jahre). Einige unserer Gebete, so wie das Kaddisch, das besondere Gebet für Trauernde, können unseren religiösen Gesetzen zufolge nur gesprochen werden, wenn zehn Männer anwesend sind. An diesem Morgen kamen nur wenige Männer und zudem spät. Sie waren alle sehr aufgeregt. Sie hatten die brennende Synagoge gesehen, die zerstörten Geschäfte und die Verhaftung einiger unserer Leute. Sie befürchteten, dass noch weitere Dinge geschehen würden. Wir waren gerade mit dem Beten fertig, als Hanna aufgeregt ins Zimmer kam. Zwei Minuten zuvor hatte ich die Türglocke läuten gehört. Ich vermutete augenblicklich, dass ich verhaftet werden sollte. Da ich die Leute nicht beunruhigen wollte, schob ich Hanna aus dem Zimmer in den Flur, bevor sie etwas sagen konnte. Aber sie war außerstande zu sprechen. Sie deutete nur auf das Esszimmer. Ich wusste, wer mich dort erwarten würde, und betrat das Zimmer. Zwei Gestapobeamte erhoben sich. Hanna folgte mir. Die Beamten sagten: „Wir haben Befehl, Sie und alle in ihrer Wohnung befindlichen Personen zu verhaften.“ Ich antworte: „Ich danke Ihnen, dass Sie unser Gebet nicht unterbrochen haben. Aber ich bitte Sie, Folgendes in Betracht zu ziehen. Die Männer sind hier nur zum Beten. Mit einer Ausnahme sind hier heute Morgen nur arme Leute. Es sind Leute, die von unserer Gemeinde unterstützt werden, die von mir erwarten, dass ich ihnen am Ende der Trauerwoche Geld gebe. Welches Interesse könnten Sie daran haben, diese Männer zu verhaften?“ Zunächst erklärten sie, dass sie hineingehen und mit den Männern sprechen müssten, aber schließlich stimmten sie zu, dass ich in den Salon gehen und alle Männer mit Ausnahme von Herrn Nassan, dem stellvertretenden Vorsitzenden unserer Gemeinde, nach Hause schicken dürfte. Herr Nassan war wegen unseres Vorstandstreffens gekommen. Nachdem die anderen Männer das Zimmer verlassen hatten, sagte ich Herrn Nassan, dass die Gestapo im Esszimmer sei, um uns zu verhaften. Falls er vorhabe zu fliehen, sagte ich, könne er das tun. Die Tür vom Flur zum Esszimmer war geschlossen. Aber er entgegnete, wenn sie vorhätten, ihn zu verhaften, sei es besser, sie täten dies gleich hier, als später bei ihm zu Hause. Daraufhin gingen wir ins Esszimmer, wo die beiden Gestapoleute und Hanna warteten. Die Beamten fragten Herrn Nassan nach seinem Alter. Er war 62 Jahre alt. Sie berieten sich und sagten anschließend, dass sie nur Befehl hätten, Personen bis zum 60. Lebensjahr zu verhaften. Sie erinnerten sich, dass er nicht auf der Liste der zu verhaftenden Personen gestanden hatte, und sagten, dass er gefahrlos nach Hause gehen könne.
Ich fragte sie, auf welcher Grundlage sie die Leute verhafteten. Sie antworteten, dass sie Befehl hätten, alle bedeutenden jüdischen Männer und die führenden Köpfe all unserer jüdischen Organisationen zu verhaften. Das Telefon klingelte währenddessen unablässig weiter, aber wir gingen nicht dran. Ich erklärte den Beamten, dass ich noch viele dringende Angelegenheiten für die Gemeinde zu erledigen hätte, und bat sie, mir zu erlauben, mich noch darum zu kümmern. Dies gestatteten sie. Ich ging in den zweiten Stock in mein Büro und schloss die Tür zu unserer Wohnung. Die Beamten verließen sich darauf, dass ich nicht flüchtete. Als ich hochging, zog ich dies einen Augenblick lang in Betracht, sagte mir aber dann, dass es nicht recht wäre, das Vertrauen der Beamten zu missbrauchen. Später, auf dem Weg ins Gefängnis, sah ich, dass es klug gewesen war, nicht zu fliehen. Auf der anderen Straßenseite erkannte ich eine Gruppe derselben Leute, die ich am Abend zuvor an der Synagoge gesehen hatte. Sie riefen mir Beleidigungen hinterher. Ich bin sicher, dass sie auf mich gewartet hatten. Die Gestapobeamten erklärten mir sodann, dass sie mich nur zu meinem eigenen Schutz verhaftet hätten. In meinem Büro kam ich nicht dazu, etwas zu tun. Das Telefon klingelte unablässig. Weinende Frauen riefen an, um mir zu erzählen, dass ihre Männer verhaftet worden waren, und zu fragen, was sie tun könnten. Ich antwortete: „Ich habe jetzt keine Zeit. Ich bin auch verhaftet worden. Wir müssen abwarten, wie sich die Situation entwickelt.“ Einige der Frauen fragten mich, was ich ihnen raten würde zu tun. Die Polizei war bei ihnen zu Hause gewesen, um ihre Männer oder Söhne zu verhaften, die bei Freunden waren oder im Auto durch die Stadt fuhren. Die Beamten hatten gesagt, dass sie später noch einmal wiederkommen würden, und die Frauen fragten mich, was sie tun sollten. Ich wusste, dass in Deutschland die Telefone abgehört wurden und dass es gefährlich war, ihnen einen von Herzen kommenden Rat zu geben, nichtsdestotrotz sagte ich diesen Frauen, dass ihre Männer sich verstecken sollten, bis diese Verhaftungswelle vorüber wäre.
Ich versuchte meine Freunde anzurufen, um ihnen den gleichen Rat zu erteilen, konnte jedoch keinen von ihnen erreichen.
Nochmals spielte ich einen Moment lang mit dem Gedanken zu flüchten. Ich nahm an, dass ich durch die Gärten entkommen könnte. Krefeld war eine Stadt der Gärten. Die meisten Häuser hatten Gärten nach vorne und nach hinten hinaus. In unserem Block waren die Gärten der vier Straßen in dem Platz zwischen den Häusern angelegt. Ich kannte den Weg zu den Häusern von Juden und Nichtjuden, von denen ich wusste, dass sie mir helfen würden. Aber mir wurde klar, dass ich von allen Seiten zu sehen wäre. Ich wusste zwar, zu welchen Häusern ich gehen könnte, aber ich sagte mir, dass ich nicht wüsste, wie die Bewohner einiger dieser Häuser darauf reagieren würden, und entschied mich schließlich dafür, das Vertrauen der beiden Beamten nicht zu missbrauchen. Sie könnten ihre Stellung verlieren oder noch grausamer als bislang zu unserem Volk werden. Dementsprechend kehrte ich in unsere Wohnung zurück und erklärte, dass ich fertig sei. Ich bat sie nur, ein Buch, Bridgekarten und einen Stift mitnehmen zu dürfen. Ich sagte: „Ich kann kein Buch lesen, ohne anzustreichen, was mir darin wichtig erscheint.“ In Deutschland sind den Gefangenen der Schupo Schreibutensilien untersagt. Sie dürfen nur in Anwesenheit der Wächter schreiben. Die Beamten gestatteten mir jedoch mitzunehmen, was ich wollte.
Dann war ich bereit, das Haus zu verlassen. Hanna verlor die Fassung und begann bitterlich zu weinen. Ich sagte ihr, dass die Offiziere nur ihre Pflicht erledigten und sie tapfer sein solle. Ich würde dieser Regierung niemals die Gelegenheit geben, mich schwach werden zu sehen. Deswegen bat ich sie, stark zu bleiben.
Auf der Treppe fragten mich die Gestapoleute, ob wir im Haus Waffen hätten oder ob ich welche in den Taschen hätte. Sie hätten Befehl, danach zu suchen, und würden, so sagten sie, später zum Haus zurückkehren, um dies zu tun. Ich bat sie, dies zu unterlassen; sie könnten mir glauben. Der höhergestellte Beamte sagte; „Es wird ausreichen, wenn ich Ihre Taschen durchsuche. Ich kann später sagen, dass ich Sie nach Waffen durchsucht habe.“ Ich entgegnete: „Wenn Sie keine in meine Taschen oder mein Haus schmuggeln, werden Sie keine finden. Nicht eine einzige!“ Nachdem sie mich oberflächlich durchsucht hatten, entschuldigten sie sich, und wir verließen das Haus.
Auf der Straße erzählten sie mir, dass man alle anderen Glaubensbrüder, die man verhaftet hatte, in einen Polizeiwagen gesteckt hätte, sie aber bei mir eine Ausnahme machen würden. Sie hatten einen Sonderbefehl erhalten, mich zu verhaften. Es wäre gut, wenn ich eine Zeit lang ins Gefängnis käme. Wenn ich frei wäre, würden mich die Terroristen möglicherweise belästigen. Ich antwortete: „Ich weiß, dass in diesem Land nichts ohne das Einverständnis der Regierung passieren kann.“