Der Verhaftung entgangen!
Max Reiner aus Berlin berichte 1940 im Rahmen eins Preisausschreibens der Harvard-University, wie er seiner Verhaftung am 10. November 1938 entgangen ist:
Flucht vor dem Konzentrationslager.
Es läutet. Wir laufen nach dem Hinterkorridor. Meine Frau öffnet. Es ist nicht Gestapo. Es ist eine Dame, die in der ersten Etage wohnt. Wir hören sie:
„Ich wollte nur Ihren Mann warnen. Er muss sofort weg. Mein Schwager ist schon geholt. Meinen Mann habe ich aus dem Hause geschickt.“
Ich bin sofort in Hut und Mantel. Ich weiss, wo ich mich verbergen kann. Bei einer unserer Freundinnen, die ohne Mann in ihrer Wohnung lebt, nur mit einer Untermieterin. Sie nimmt mich gerne auf. Ich telefoniere nach Hause, damit man weiss, dass ich in Sicherheit bin. Die arische Freundin meiner Frau hatte so lange gewartet, sie wollte mir für den Notfall ihr Wochenendhaus anbieten, das weit ausserhalb Berlins lag.
In meinem Asyl ist Schrecken und Trauer. Die Untermieterin ist verlobt. Den Bräutigam hat die Gestapo geholt.
Nach einer finsteren Nacht ein trüber Morgen. Wir wissen, dass diese Menschenjagd noch einige Tage dauern wird und dass ich mein Asyl vielleicht noch eine Woche lang werde in Anspruch nehmen müssen. Ich gehe deshalb mittags in meine Wohnung, um einige Wäsche zu holen. Am Tage ist es ja ungefährlich.
Während ich in meiner Wohnung noch rasch eine Zeitung durchfliege, läutet es. Die „daily general“ ist in der Hinterwohnung, meine Frau beim Einkäufen. Ich öffne. Draussen steht ein grösser, kräftiger Mann. „Sind Sie Herr Reiner?“
„Ja.“
Er zieht eine Erkennungsmarke hervor.
„Ich bin Kriminalbeamter, und ich habe Auftrag, Sie nach dem Polizeipräsidium zu bringen.“
In der Falle! Ich fühle meine Knie schwach werden.
„Bitte, treten Sie ein.“ Er folgt in die Diele. Ich bitte ihn weiter in mein Arbeitszimmer. Er zögert, aber er folgt, bleibt stehen, während ich in einen Stuhl falle. Ich weiss, was das für mich bedeutet: den sicheren Tod. Ich bin Diabetiker. Im „Lager“ erhalte ich kein Insulin, keine Diät, keine ärztliche Behandlung. In zwei Wochen etwa bin ich ein toter Mann. Der Kriminalbeamte sieht nicht schlimm aus, nicht roh. Er sagt in ruhigem Ton:
„Bitte machen Sie sich fertig, ich habe nicht viel Zeit.“
„Lassen Sie mich einige Minuten sitzen, ich bin ein kranker Mann.“
„Können Sie nachweisen, dass Sie krank sind?“
„Ich bin 80 % erwerbsunfähig geschrieben.“
Ich erhebe mich mühsam und hole aus dem Schreibtisch das Aktenstück meiner Versicherung. Während er in den Papieren blättert, die ärztlichen Atteste durchliest, die Bescheide der Versicherungsgesellschaft prüft, frage ich ihn:
„Was liegt denn gegen mich vor?“
„Nichts, nur die Pariser Sache.“
Er ist mit der Durchsicht fertig.
„Sie kommen für das Lager nicht in Betracht. Sie können ruhig zu Hause bleiben.“
Ich atme auf.
„Bitte, wird aber nicht morgen ein anderer Beamter kommen, um mich zu holen?“ „Nein! Sie können ruhig zu Hause bleiben.“
Er geht, ohne Gruss.
Nach einigen Minuten kommt meine Frau. Sie lebt noch nachträglich den Schrecken durch. Ich bin nicht beruhigt. Wieder weg, ins Asyl! Wir packen hastig, und ich verschwinde ... Erst später erfuhr ich, dass Auftrag gegeben war, nachweislich Kranke nicht ins Lager zu holen. Aber nicht alle Beamte haben sich an diese Instruktion gehalten. Ich erfuhr von Fällen, in denen hoch Fiebernde aus den Betten gezerrt worden waren.
Am Nachmittag kommen die Zeitungen: Als Sühne für den Pariser Mord 20 % Abgabe von allen Judenvermögen. Pensionen werden zum 15-fachen Betrag als Kapital angesehen. Ich rechne nach: Dann muss ich etwa RM 50 000,- als Abgabe leisten. So viel Geld habe ich gar nicht.
Meine Frau kommt am nächsten Tag zu Besuch. Die Portierfrau hat ihr gemeldet, dass während ihrer Abwesenheit gestern noch zwei Leute da gewesen sind, die nach mir gefragt haben. Die Portierfrau konnte nicht sagen, ob es Beamte der Polizei oder Organe der Partei waren.
8 Tage bleibe ich in meinem Asyl. Während dieser Zeit erhält meine Gastgeberin die Mitteilung, dass auch ihr Bruder ins Konzentrationslager gebracht worden ist. Hier und da besucht mich meine Frau. Sie berichtet, wer alles verhaftet worden ist. Manche unserer Bekannten sind geflüchtet. Da haben die Beamten jugendliche Söhne als Geiseln mitgenommen ... Den Juden ist befohlen worden, die zertrümmerten Auslagefenster auf ihre Kosten erneuern zu lassen. Die Versicherungsgesellschaften sind von jeder Ersatzpflicht befreit worden. Viele jüdische Geschäftsleute hatten einfach das Geld nicht. Die Kultusgemeinde muss einspringen, hat eine Sammelaktion eingeleitet. Meine Frau erzählt mir, dass Dr. Ullstein aufgefordert worden ist, RM 100 000,- als Beitrag für diese Sammlung zu geben. Kein jüdisches Geschäft darf wieder geöffnet werden. Meine Frau schildert, wie jeden Abend Juden mit Handtaschen durch die Strassen eilen, jeder in ein Versteck. Möglichst bei einem arischen Freund, wenn er einen hat. Die christliche Bevölkerung benimmt sich zum Teil ausgezeichnet. Tausende Arier gewähren Juden Zuflucht, trotzdem sie damit das Konzentrationslager riskieren.
Meine Frau hat noch anderes zu berichten: Ihre Cousine Margot war bei ihr, der die Sorge für den 8jährigen Jungen einer verstorbenen Schwester obliegt. Der Junge war in einer jüdischen Schule in Caputh bei Potsdam, der gleichen, die auch Eveline besucht hat. Am Morgen des 10. November sind S.A.-Trupps in der Schule erschienen und haben sie zu demolieren begonnen. Die Vorsteherin bat, man möge ihr wenigstens so viel Zeit lassen, dass sie die Kinder wegbringen könne. Es wurden ihr 10 Minuten hierfür bewilligt. Die meisten Kinder waren noch nicht angekleidet. Sie wurden in den Wald getrieben. Manche in blossen Strümpfen, ohne Kleider. So sind sie stundenlang durch den Wald gewandert bis nach Potsdam. Jetzt sind die Kinder bei verschiedenen Familien untergebracht, so gut es ging ... Ich bin glücklich, Eveline in Palästina zu wissen.