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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Pogrome in Bebra

Gerda Kappes berichtet ihrer Schwiegermutter von den Pogromen in Bebra am 7. und 9. November 1938:

Liebe Mutter!

Hab recht herzlichen Dank für Deinen lieben, langen Brief, wir haben uns sehr darüber gefreut, auch daß es Euch allen gut geht. Wir sind körperlich auch wieder auf der Höhe, ich bin so froh, daß meine Krankheit mit Solluxlampe vorübergegangen ist, auch wäre in diesen letzten Tagen körperliches Leiden noch ein weiterer Ballast gewesen. Du hast Dich sicher sehr gewundert, daß wir noch nichts von uns haben hören lassen. Wir hätten auch längst geschrieben, aber wir wollten erstmal zur Ruhe kommen, damit unser Bericht vom letzten Ereignis nicht so drastisch wird und Du nicht so einen Schrecken bekommst. Anläßlich des Attentats auf Legationsrat vom Rath sind hier große Judenverfolgungen gewesen. In der Nacht vom Montag auf den Dienstag sind verschiedene Fanatiker der Partei in die Judenhäuser eingedrungen, haben die Juden aus den Betten geholt und alles kurz und klein geschlagen. Alle Möbel umgekippt, Porzellan, Glas, Fensterscheiben, überhaupt alles Erreichbare umgekippt und kaputt geschlagen. Vorhänge abgerissen, Stoffe und auch zum Teil Lebensmittel umhergeworfen, elektrische Lampen und Birnen, sogar die Lichtleitung kaputt geschlagen, bei Emanuels eingebaute Waschbecken, Badewanne, sogar die Mettlauer Platten sind hinüber. Wir hörten die ganze Nacht Spektakel und Klirren von Glas, dachten aber nicht anders, als es sei ein großes Autounglück geschehen. Wir schliefen die ganze Nacht nicht, konnten aber bei der Dunkelheit auch auf der Straße nichts erkennen als nur viele Menschen, ich glaube die Hälfte der Bewohner Bebras waren die Nacht auf den Beinen. Am anderen Morgen erzählte uns nun Lisbeth, was geschehen war. Wir sind dann gleich zu Dir in die Wohnung gegangen, um zu sehen, ob noch alles in Ordnung wäre. Wir fanden auch Deine Wohnung tipp topp im Schuß, sogar unsere Würstekämmerchen, Dein Klosett und Deine Kellerräume waren unversehrt, alles andere ein großer Trümmerhaufen. Der Jud Emanuel stand inmitten der Trümmer, kein Fensterkreuz mehr im Haus, keine Türe mehr, sogar die schwere eichene Haustür ist nicht mehr vorhanden, ein Bild des Entsetzens und großen Jammers. Nachmittags sind dann die Juden alle von hier weg, sie mußten wohl auch, denn sie konnten sich ja nirgends aufhalten, noch nicht einmal ein Bett war ja noch ganz. Die andere Nacht war Ruhe. Dann am Mittwoch auf den Donnerstag ging’s wieder los, denn am Mittwoch war Herr v. Rath doch gestorben. Als Rache hierfür kam die zweite Aktion. Wir hörten wieder ein furchtbares Getöse und schliefen in dieser Nacht wieder nicht, denn in der Nacht hören sich Axtschläge so sehr unheimlich an. Dieses Mal sind alle Möbel, überhaupt jegliches Inventar aus den Judenwohnungen geholt worden und auf dem Adolf-Hitler-Platz aufgestapelt und verbrannt worden. Silber, Schmuck, die großen Warenlager und die unheimlich vielen gehamsterten Lebensmittel und natürlich auch Geld sind von der Polizei beschlagnahmt und sichergestellt worden. Unsere Äpfel sind inzwischen auch schon bei der NSV gewesen, wir haben sie uns heute aber wiedergeholt, das war also nicht mit Absicht geschehen. Ich bin in diesen Tagen viel zwischen uns und da unten hin und her gelaufen, damit nicht aus Unkenntnis Deine Vorräte auch mit fortkommen. Werner hatte viel zu tun und konnte sich um so etwas gar nicht kümmern. Aber Herr Ellenberg, der SS-Führer, hat sich bei mir nach allem erkundigt, was Dir sei, auch war der Rex schon hier, um sich genau zu orientieren, denn Dir soll auf keinen Fall etwas wegkommen, wurde mir schon von allen leitenden Stellen versichert, man geht da sehr genau vor. Da ja alles offen ist, war letzte Nacht nochmal Wache da unten, wir waren heute noch ein paar mal da unten, es ist nichts mehr in der Judenwohnung, außer 2 cm hoch Glasscherben. Man kann jetzt so richtig verstehen, was Schiller in der Glocke sagt „und in den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen“. Der Boden ist noch verhältnismäßig gut davongekommen, das ist aber nur dem Umstand zu verdanken, daß niemand genau wußte, ob Du nicht auch noch Zimmer oben inne hättest. Nachdem wir diesen Zweifel aufgeklärt haben, werden wohl die Sachen oben auch noch geholt werden.

Das Warenlager ist längst weg, Emanuel soll Sachen, nur StofFe, im Werte von 50 000 M. gehabt haben, auch haben sie Devisen bei allen Juden in beträchtlichen Mengen gefunden, auch eine Gemeinheit, und viel Geld. Die Geschäftsbücher sind alle sichergestellt worden, der Emanuel soll in diesem Jahr bis jetzt einen Umsatz von 76000 M. gehabt haben, kann man so etwas glauben? Wir wissen es von einem, der genau darüber Bescheid weiß, der natürlich auch dabei gewesen ist. Emanuels ihre Vorräte waren auch ausgestellt, sie waren auch sehr sehenswert und sehr bezeichnend für die ängstlichen Leute, die wahrscheinlich Angst hatten, sie müßten Hungers sterben. Denk mal, 120 Büchsen Konserven, unendliche Gläser mit dem feinsten Geflügel, Gänse, Täubchen, Hähnchen, u.s.w., 200 Eier, V2 Zentner Butter, V2 Zentner Margarine, dann Rindsfett große Steintöpfe voll, unzähliges Palmin, 20 Lt. Salatöl, wohl 4 Waschkörbe voll Äpfel, sehr viel Marmelade, Gelee, u.s.w., ich kann gar nicht alles aufzählen. Herr Ellenberg hat mir alles gezeigt, ich hatte so etwas von Vorräten noch nicht gesehen und bei der Fettknappheit so zu hamstern, zudem wäre doch sicher die Hälfte schlecht geworden, dieses alles war ja eine große Gemeinheit. Die anderen hatten sich auch alle gut eingedeckt, aber dieses war doch das meiste. Diese Sachen hat alle die NSV an sich genommen und sollen auf dem schnellsten Wege verteilt werden. Die Stadt hat jetzt unendlich viel zu tun. Heute sind den ganzen Tag Läger und Speisekammern aufgelöst worden, ich glaube kaum, daß sie schon fertig sind, denn alle Juden haben sehr große Stoff- und Wäschelager, das hat man doch so gar nicht mehr gewußt. Nun sind die Juden endgültig fort, was mit den Häusern wird, weiß kein Mensch. Du kannst wenigstens noch bei Dir die Treppe rauf gehen, in den anderen Häusern sind sogar die auch weg, sie haben wohl alle nur das nackte Leben vorläufig gerettet, es weiß kein Mensch, wo sie alle hin sind, man vermutet, daß sie alle bis zur endgültigen Lösung im Konzentrationslager stecken. Verschiedene Judenfrauen sind irrsinnig geworden, die junge Frau Levi hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Ich habe nur Emanuels ehemalige Wohnung gesehen, aber alle anderen sind genauso zugerichtet, die Synagoge ist natürlich auch ein Schutthaufen, die Gebetbücher fliegen auf der Straße rum. Ich bringe meine Zeit jetzt viel in Deiner Wohnung zu, denn alle Menschen laufen im Hause herum, da ist ein Betrieb vom Boden bis zum Keller, so viel Menschen hat das Haus noch nicht gesehen. Wir haben auch darum heute Dein ganzes Silber geholt, die Familienbilder, etwas gute Wäsche, den schönen Teller auf der Kommode, Deine Kassen-und Versicherungsbücher und sämtlichen Speck und Würste. Dann habe ich das Klosettfenster und Speisekammerfenster zugemacht und das Klosett abgeschlossen. Deine sämt liehen Schlüssel sind auch hier oben. Mehr konnten wir ja nun nicht holen, ich weiß ja nicht wohin damit. Wir haben gedacht, das sei erst mal das Wichtigste, weil nicht mehr zu ersetzen. Herr Rose aus der Gastwirtschaft nebenan will das Haus kaufen, er fragte uns nach Emanuels Adresse, die wir natürlich nicht haben. Nun wird hoffentlich Werner den Rest der Judenhäuser verkaufen, weil die ja nichts mehr zu melden haben, denn die anderen sind doch größten Teils in Rotenburg verkauft auf Drängen der Juden, worüber ich mich immer so geärgert habe. Du kannst Gott danken, daß Du nicht hier warst, Du konntest einen Herzschlag kriegen, die Nachbarschaft hat uns versichert, daß es furchtbar gedröhnt hat. Frau N. ist ganz fertig, ihr laufen die Tränen, wenn man mit ihr spricht. Du darfst auch noch nicht wiederkommen, sogar ein wohl harter Mann, der schon viel erlebt hat, wie er uns versichert hat, Herr Rex sagt, daß Du unter keinen Umständen jetzt wiederkommen darfst. Alle Leute hielten mich schon nach der ersten Nacht an und frugen nach Dir, die meisten wußten ja, daß Du nicht da warst. Das Frl. G. und Frau N. wollten uns die erste Nacht anrufen, sie haben es dann aufgegeben, weil Du ihnen erzählt hattest, Du wolltest verreisen, und so hätten wir ja doch nichts machen können. Es ist ja auch Deinen sämtlichen Sachen und Vorräten nichts passiert. Die Äpfel waren nur mit fortgekommen, weil die im vorderen Keller standen, sie kamen erst am Montagnachmittag, und in der folgenden Nacht war schon alles passiert. Sie sind immer noch nicht ausgepackt, ich weiß nicht, ob ich sie da unten lassen soll, es ist ja alles so riskant. Die beiden folgenden Tage konnten wir das Haus nicht betreten, die Polizei hatte alles mit dicken Brettern zugenagelt, jetzt ist alles offen. Minna braucht die Treppe so bald nicht wieder zu wischen, es ist alles bis oben hin weiß von zertretenem Mehl, eine ganz furchtbare Schweinerei drinjnen] und draußen. Man hat sogar die Spaliere, wo die schönen blauen Blumen dran emporrankten, nicht geschont, auch die Steinpfosten liegen um, die sämtlichen Gitter, die Garage aufgerissen, das Auto umgestülpt und kurz und klein geschlagen, auch ein großer Trümmerhaufen. Nun kannst Du Dir ein ungefähres Bild davon machen, richtig begreifst Du erst alles, wenn Du es gesehen hast. Hoffentlich ist bald alles wieder in Ordnung, man schätzt, daß 3000 M. nötig sind, um alles wieder herzustellen, allein nur bei Emanuels. Es sollen vorsichtig geschätzt etwa für 30000 M. Sachwerte verbrannt worden sein. Nun weißt Du auch, warum wir so sehr froh und dankbar sind, daß Du dort in Kiel bist, dieses ist bestimmt eine göttliche Fügung. Nun will ich aufhören, ich bin ganz erhitzt, so regt das alles immer noch auf, ich könnte ein Buch schreiben. Meine Mutter war am Mittwoch hier bei mir, in Rotenburg war genau dasselbe, mein Vater sei ganz daneben, erzählte sie mir, sonst wäre er auch mitgekommen. Grüße die Familie Stange recht sehr von mir mit dem süßen Gerdchen, ich sähe ihn doch zu gern mal wieder. Sei Du recht herzlich gegrüßt und reg Dich nicht auf, denn es ist alles in Ordnung bei Dir, gar kein Grund zur Aufregung, herzlichst Deine Gerda

Hebe den Brief bitte auf und bestätige bald seinen Eingang.

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