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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Ende einer Anwaltstätigkeit

Max Moses Polke berichtet im Rahmen eines 1940 von der Harvard University veranstalteten Preisausschreibens über die letzten Monate seiner Tätigkeit als Anwalt in Breslau, die am 3. November 1938 endete:

Nachdem meine Frau von ihrer Palästinareise zurückgekehrt war, gingen auch wir an unsere Uebersiedlung dorthin. Ich hatte zwar bis dahin die Absicht gehabt, in Deutschland zu bleiben und nur den Kindern eine Zukunft in Palästina zu bereiten, denn es war ja für uns in Deutschland immer noch wirtschaftlich erträglich. Ich fürchtete, dass meine Einordnung in Palästina bei meinem Alter und Beruf sehr schwer sein würde, und in Deutschland konnte ich immerhin noch einiges auch für das Judentum leisten. Nunmehr bemühte ich mich aber um die Erlangung eines Palästinazertifikats, was im Laufe der Jahre immer schwieriger geworden war. Nach vielen Bemühungen und Fahrten nach Berlin erhielt ich am 29. August 1938 vom Berliner Palästinaamt einen zusagenden Bescheid, als einziger von 50 Bewerbern aus Breslau. Meine langjährige zionistische Tätigkeit und die Anzahl von 3 Kindern waren hierfür entscheidend gewesen.

Allerdings sollte die Uebersiedlung bis zum 30. September 1938 erfolgt sein. Das war unmöglich. Denn durch Auflösung des Geschäftes meiner Frau musste erst noch ein Teil der erforderlichen Mittel flüssig gemacht werden. Es gelang mir, eine Fristverlängerung zu erreichen.

Unterdessen wurde der auf die Juden ausgeübte Druck zur Auswanderung immer stärker. Am 13. Juni 1938 wurden plötzlich Tausende von Juden verhaftet und in Konzentrationslager verbracht. Nachdem man sich von dem ersten Schrecken erholt hatte, wurden Verhandlungen mit den polizeilichen Stellen in die Wege geleitet. Es stellte sich heraus, dass jeder Jude, der bei dieser Aktion verhaftet worden war, entlassen werden könnte, sobald seine Auswanderung bis zu einem gewissen Grade vorbereitet sei. Palästinaamt und der Hilfsverein der Juden in Deutschland, dem die Auswanderung nach anderen Ländern als Palästina oblag, arbeiteten fieberhaft, ohne dass sie der beängstigend grossen Zahl von Fällen gerecht werden konnten. Man setzte daher grosse Hoffnungen auf die Konferenz von Evian am 6. Juli 1938. Ihr Misserfolg war eine umso grössere Enttäuschung.

Wie zum Hohn erliess die deutsche Regierung gerade an diesem Tage ein Gesetz, durch welches den zahlreichen jüdischen Handelsvertretern die weitere Tätigkeit unmöglich gemacht wurde. Gerade in Breslau wurde hiervon eine verhältnismässig grosse Zahl von Personen betroffen. Bald folgte die Entziehung der Approbation der Aerzte für den 30. September 1938. Wir Anwälte wussten, dass die berühmte Prophezeiung vom Jahre 1935 „certum an incertum quando“ nunmehr bald in Erfüllung gehen würde. Das geschah auch promptest durch eine Verordnung vom 27. September 1938. Sie wurde allerdings erst Mitte Oktober 1938 veröffentlicht. Offenbar hatte sie in die aussenpolitische Spannung von Ende September 1938 nicht hineingepasst. Damit wusste ich, dass meine Tätigkeit als Anwalt mit dem 30. November 1938 aufhören würde.

Nur die selbständigen jüdischen Geschäfte bestanden noch. Aber auch gegen sie ging man jetzt schärfer vor. Und bereits im Sommer 1938 mussten in Berlin an den jüdischen Geschäften zur Kenntlichmachung die Namen der Inhaber mit Buchstaben von 20 cm Höhe angebracht werden. In anderen Städten, wie z.B. in Breslau, bestand eine solche Vorschrift noch nicht. Aber während des Turnfestes, das Ende Juli oder Anfang August 1938 in Breslau stattfand und aus allen deutschsprechenden Gegenden der Welt Gäste nach Breslau brachte, mussten die jüdischen Geschäfte am Schaufenster ein Riesenplakat ankleben mit der Aufschrift „Jüdisches Geschäft“. Jeder jüdische Geschäftsinhaber musste auf der Polizei ein solches Plakat in Empfang nehmen. Es wurde genau kontrolliert, ob alle erschienen waren, ebenso durch Polizeistreifen festgestellt, ob die Anbringung am Schaufenster ordnungsmässig erfolgt war. In diesen Tagen wagte kein arischer Kunde, in jüdischen Geschäften zu kaufen.

Am letzten Tage des Turnfestes durften die Plakate abgenommen werden. Die arische Kundschaft, auch die Gäste von ausserhalb, strömten in die jüdischen Geschäfte, obwohl sie wussten, dass die Inhaber Juden waren. Zu diesem Turnfest war auch Hitler in Breslau erschienen, den ich bei dieser Gelegenheit unfreiwillig sehen musste, als ich eine Strasse infolge der Absperrung nicht überqueren konnte. In seiner ständigen Begleitung befand sich Konrad Henlein, der Führer der Sudetendeutschen, der bekanntlich im Zivilberuf Turnlehrer war und angeblich nur deswegen am deutschen Turnfest teilnahm.

Ich begann damals bereits im Hinblick auf meine bevorstehende Uebersiedlung nach Palästina, mich von der Anwaltspraxis loszulösen, und betrieb sie nur noch in kleinem Umfang von der Wohnung aus, nachdem ich meine Büroräume im Juli 1938 aufgegeben hatte. Dafür nahm ich eine Beschäftigung bei der jüdischen Arbeiter- und Wanderfürsorge an, die damals ungefähr die Funktionen eines jüdischen Konsulates ausübte. Sie war ein selbständiges Gebilde, von der Synagogengemeinde zwar unterstützt, aber von ihr unabhängig. Der Leiter war Ende Juli gerade aus unbekannter Ursache von der Gestapo verhaftet worden. Es fand sich niemand, der seinen Posten übernehmen wollte! So sprang ich ein. Nach wenigen Tagen kehrte der Leiter wieder zurück, aber es war mehr als hinreichend Arbeit für uns beide vorhanden.

Unsere hauptsächliche Aufgabe bestand in der Bearbeitung der Buchenwälder Fälle. Wir mussten die Verhandlungen mit den jüdischen und staatlichen Stellen führen, zu denen die Angehörigen der Verhafteten nicht in der Lage waren. Täglich erschien bei uns eine grosse Anzahl Frauen, denen wir zumindest Trost zusprechen mussten, um ihnen über die schweren Sorgen hinwegzuhelfen. Dazu gehörte auch in vielen Fällen die Beschaffung von Geld für den notwendigsten Unterhalt und die Uebersendung des Rückreisegeldes nach Buchenwald.

Der schönste Lohn war es für uns, wenn einer nach dem anderen unserer Schützlinge aus Buchenwald zurückkehrte. Von diesen erfuhren wir natürlich auch viel über die Zustände im Konzentrationslager.

Schwierig waren nicht nur die Verhandlungen mit der Polizei und der Gestapo, sondern auch mit dem Hilfsverein der Juden in Deutschland. Sobald nämlich von dieser Stelle eine Bescheinigung kam, dass die Auswanderung bis zu einem gewissen Grade vorbereitet sei, gelang in den meisten Fällen die Freilassung. Aber der Hilfsverein hatte nicht so viele Möglichkeiten wie Interessenten. Wir mussten darauf achten, dass unsere Schützlinge zumindest nicht benachteiligt wurden. Die massgebenden Personen des Hilfsvereins hatten auch Bedenken, solche Bescheinigungen auszustellen, wenn ihr Inhalt nicht in vollem Umfange der Wirklichkeit entsprach. Denn sie fürchteten schwere Unannehmlichkeiten, wenn die Zurückgekehrten nicht innerhalb der versprochenen Frist tatsächlich Deutschland verliessen. Wir andererseits drängten darauf, dass die Menschen, für deren Leben wir uns verantwortlich fühlten, aus der Buchenwälder Hölle so schnell wie möglich, gleichviel auf welche Weise, herauskamen. Darüber gab es mit den Berliner Herren bei wiederholten Konferenzen nicht immer erfreuliche Auseinandersetzungen. Es zeigte sich nachher, dass die staatlichen Stellen Entgegenkommen zeigten und Fristverlängerung bewilligten, auch wenn unsere Schützlinge nicht so schnell auswanderten, wie wir versprochen hatten. Die Hauptsache war, dass man die Auswanderungsabsicht durch intensive Bemühungen in Erscheinung treten liess.

Zu bearbeiten hatten wir auch die immer zahlreicher werdenden Fälle der Ausweisungen jüdischer Staatenloser, deren Unterbringung meist ein kaum lösbares Problem war. Denn in erster Reihe mussten die geringen Auswanderungsmöglichkeiten den Insassen von Buchenwald zugute kommen. Meist konnten wir die zentralen jüdischen Stellen erst für uns gewinnen, wenn so ein unglücklicher Staatenloser nach wiederholter Androhung durch die Polizei verhaftet worden war.

In diese Kategorie gehörten auch die Juden, welche noch die polnische Staatsangehörigkeit besassen und gleichfalls einer nach dem anderen Ausweisungsbefehle erhielten. Hatte man diese früher an den Auswanderungsmöglichkeiten nach Palästina und Ueber-see teilnehmen lassen, so musste man ihnen jetzt raten, nach Polen zurückzukehren, obwohl manche von ihnen, in Deutschland geboren, auch nicht ein Wort von der polni sehen Sprache wussten. Sie waren nicht gerade erfreut über unsere Ratschläge, und wir mussten auch hier viele Widerstände überwinden.

Selbstverständlich erfuhr die polnische Regierung hiervon und erliess Ende Oktober 1938 ein Gesetz, wonach vom 20. Oktober 1938 ab alle ausserhalb Polens wohnhaften polnischen Staatsbürger diese Eigenschaft verloren. Deutschlands Antwort war die Polenaktion vom 27. und 28. Oktober 1938. Gewaltsam wurden die Juden polnischer Staatsangehörigkeit aus ihren Häusern geholt und auf der Strasse aufgegriffen und in Sonderzügen nach Polen verfrachtet. Die ersten Züge wurden dort angenommen. Nachher traf wiederum die polnische Regierung ihre Gegenmassnahmen und liess die Judenzüge nicht mehr über die Grenze, verhinderte hieran auch Einzelne mit bewaffneter Gewalt. Die deutschen Stellen gaben nach und Hessen die Zurückkehrenden unbehelligt in Deutschland. Furchtbare Tragödien spielten sich ab, viele Familien wurden auseinandergerissen. Eltern wussten nicht, wohin ihre Kinder geraten waren, für obdachlos gewordene Kinder musste die jüdische Allgemeinheit sorgen.

Am 3. November 1938 hatte ich meine letzte Strafverteidigung vor einem deutschen Gericht. Es handelte sich um ein polnisch-jüdisches Ehepaar, das der erhaltenen Ausweisung nicht Folge geleistet hatte und nunmehr wegen sogenannten Bannbruchs bestraft werden sollte. Im Termin erschien nur die Ehefrau, da der Mann unterdessen gewaltsam abgeschoben worden war. Ich schilderte dem Gericht die aus den Zeitungen nur andeutungsweise bekannt gewordenen Tatsachen auf Grund meiner sehr genauen Kenntnis der Angelegenheit und konnte auch darauf hinweisen, dass zwischen der deutschen und polnischen Regierung Verhandlungen schweben, um den unmöglichen Zustand zu regeln. Als ich geendet hatte, konnte sich der Richter nicht enthalten zu sagen: „Das ist ja eine ganz furchtbare Tragödie.“ Der Staatsanwalt erhob sich und beantragte, angesichts der sachkundigen Mitteilungen des Herrn Verteidigers, gegen deren Richtigkeit er nicht die mindesten Bedenken habe, das Verfahren einstweilen ruhen zu lassen, und das Gericht gab dem statt.

Damals war bereits, wie bemerkt, am 17. Oktober 1938 die Verordnung herausgekommen, wonach die Zulassung sämtlicher jüdischer Rechtsanwälte bis zum 30. November zurückzunehmen ist. In der „Deutschen Justiz“, dem amtlichen, vom Justizministerium herausgegebenen Blatt, war am 21. Oktober eine lange Verordnung über die Zulassung jüdischer Rechtskonsulenten in ganz geringem Umfange erschienen. Dasselbe Blatt hatte als Leitartikel einen Aufsatz des Reichsleiters Buch, obersten Parteirichters der NSDAP, worin es u.a. heisst:

„Der Nationalsozialist hat erkannt: Der Jude ist kein Mensch. Er ist eine Fäulniserscheinung. Wie sich der Spaltpilz erst im faulenden Holz einnistet und sein Gewebe zerstört, so konnte sich der Jude erst im deutschen Volk einschleichen und Unheil anrichten, als es geschwächt durch den Blutverlust des 30jährigen Krieges innerlich zu faulen begann und seine Schwären begierig den Einflüssen der französischen Revolution dargeboten hatte.“

Wohlgemerkt, so etwas erschien nicht etwa im Stürmer, sondern im amtlichen Blatt der deutschen Rechtspflege, als dessen Herausgeber Dr. Franz Gürtner, Reichsminister der Justiz, zeichnete und das von allen deutschen Richtern und Staatsanwälten gelesen werden musste. Es ist ein Zeichen für die von mir immer hervorgehobene Korrektheit und Anständigkeit des deutschen Richters, wenn dem jüdischen Verteidiger eines noch dazu ausländischen Juden noch am 3. November 1938 in der angegebenen Weise begegnet wurde.

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