Warnung des Hilfsvereins
Der Hilfsverein warnt am 28. Oktober 1938 vor Problemen bei der Auswanderung nach Shanghai:
Betr.: Auswanderung nach Shanghai.
Das ständig wachsende Auswanderungsbedürfnis unserer Menschen bei gleichzeitiger Verengung der Einwanderungsmöglichkeiten hat in der letzten Zeit eine ausserordentlich starke Auswanderung nach Shanghai zur Folge gehabt, nur weil die dortigen Einreisebestimmungen leicht zu erfüllen waren und sich infolgedessen die Möglichkeit ergab, in besonders dringenden Fällen die Auswanderung rasch durchzuführen. Doch ist jetzt die Zahl der schon in Shanghai befindlichen Immigranten bereits so gross, dass die meisten von der Wirtschaft des Landes nicht mehr absorbiert werden können. Erschwerend tritt der Umstand hinzu, dass durch den chinesisch-japanischen Konflikt das Wirtschaftsleben im Fernen Osten und insbesondere in Shanghai unter einer starken Depression leidet. Selbst hervorragend qualifizierte Spezialisten haben in Shanghai kaum noch Aussichten.
Die ausserordentlich ernste Situation, in der sich die meisten Einwanderer befinden, hat vor kurzem sogar zu einer Mitteilung des englischen Generalkonsuls an das englische Aussenamt Anlass gegeben, in der der Generalkonsul darauf hinweist, „dass einige 30 österreichische Flüchtlinge, meist Juden oder jüdischer Abstammung, kürzlich in Shanghai angekommen sind und dass noch weitere folgen sollen. Es ist mit Nachdruck zu betonen, dass sehr wenig Hoffnung auf einigermas[sen] auskömmliche Beschäftigung für irgendeinen dieser Leute besteht, selbst wenn sie hochqualifiziert sind, und dass die jüdischen oder sonstigen Hilfsorganisationen in Shanghai nicht mehr in der Lage sind, noch irgendeine Unterstützung zu gewähren.“
Die Situation wird fernerhin beleuchtet durch einen Auswanderer[brief] aus Shanghai, in dem es heisst:
„Shanghai, den 6. Oktober 1938
Damen und Herren, die perfekt drei Sprachen: französisch, englisch und deutsch, manchmal sogar noch chinesisch beherrschen, sind dem schrecklichsten Elend preisgegeben; denn die Sprachen zählen hier kaum. Die einzige Möglichkeit ist, eine ganz gediegene Profession zu haben. Ein ganz erstklassiger Konditor oder Uhrmacher oder Goldschmied könnte sich hier über Wasser halten. Shanghai ist de facto der elendste Platz der Welt heute, überlaufen von Emigranten und Flüchtlingen, umgeben von einer eingeäscherten Chinesenwelt und bedroht von schwersten Epidemien (schwarze Pocken, Typhus, Cholera, verschiedenste Ausschläge usw. usw.) und politischen Konflikten.
Ob ich noch meine Stellung habe, wenn Du ankommst, ist zweifelhaft. Wir haben so gut wie nichts zu tun. Es bleibt nichts weiter übrig, als in absehbarer Zeit nach Australien zu gehen, da hier eine starke Abwanderung nach A. eingesetzt hat und dort wenigstens die verkommenen, herumlungernden Massen nicht anzutreffen sind.
Es gibt hier keine Unterstützungen der Arbeitslosen und keine Krankenkassen. Es ist absolut ein Kolonialland, in dem sich der Weisse nur sehr bedingt halten kann. Dazu ist das Klima so, dass man nicht zu primitiv leben kann, weil man dann einfach verkommt. Auf Unterstützungen von anderer Seite brauchst Du hier nicht zu rechnen. Du glaubst gar nicht, wie hart die Menschen hier sind. Ich habe hier Dinge gesehen und gehört, bei denen sich Deine Haare sträuben würden. Hier ist nicht Europa, sondern ein China, das seit Monaten Krieg hat und entsetzlich verelendet ist.“
Wenn auch ein derartiger Auswandererbrief naturgemäss mit Vorsicht zu bewerten ist, so kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass die Lage in Shanghai überaus ernst ist und dass es kaum verantwortet werden kann, auch nur die dringendsten Fälle jetzt noch nach Shanghai zu schicken.
Bezeichnenderweise nehmen neuerdings die japanischen Schiffahrtgesellschaften keine Passagen nach Shanghai mehr an, ohne sich zu vergewissern, dass der Passagier einen ausreichenden Betrag mit sich führt; auch von anderen Schiffahrtgesellschaften werden ähnliche Massnahmen getroffen.