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Chronik und Quellen
1938
Oktober 1938

„Polen-Aktion“ in Krefeld

Rabbiner Arthur Bluhm berichtet über die Deportation der polnischen Juden aus Krefeld am 28. Oktober 1938:

Ich werde niemals die dramatischen Ereignisse vergessen, die sich in Deutschland zwischen dem 28. Oktober und dem Ende des Jahres 1938 abgespielt haben. Während dieses kurzen Zeitraums wurde das schwierige Leben der deutschen Juden noch härter und prekärer. Die ohnehin in keiner Weise akzeptable Situation der Juden verschlechterte sich in einem Maße, das niemand für möglich gehalten hätte.

Am 28. Oktober - einem Freitag - kam Frau Libermann morgens früh völlig aufgelöst zu mir. Ihre Familie lebte in einem Vorort von Krefeld. Sie erzählte mir, dass ihr Mann und ihr jüngster Sohn nachts verhaftet worden seien. Herr und Frau Libermann hatten noch einen weiteren Sohn, einen ehemaligen Zahnarzt, der in Lima, Peru, wohnte. Herr Libermann hatte ein Schuhgeschäft besessen, doch sein Laden war boykottiert worden und er hatte sein gesamtes Vermögen verloren. Der Sohn, der gemeinsam mit dem Vater verhaftet worden war, litt an einer Lungenkrankheit, und unsere Gemeinde kam für seine Behandlung auf. Ich versuchte herauszufinden, ob die Polizei etwas gesagt hatte. Doch Frau Libermann war nicht in der Lage, irgendeinen Grund für die Verhaftung der beiden anzugeben.

Als Frau L. ihre Ausführungen beendet hatte, kamen Frau Müller und ihre fünfzehnjährige Tochter weinend herein. Sie erzählten, dass die Polizei im Laufe der Nacht viermal vorbeigekommen sei, um Herrn Müller zu verhaften. Herr M. war Geschäftsführer eines großen Warenhauses in einer anderen Stadt. Er besaß ein kleines Haus in Krefeld, das er gebaut hatte, als er noch eine ähnliche Stellung in Krefeld bekleidet hatte.

Als das Warenhaus arisiert worden war, wurde Herr M. für lange Zeit arbeitslos. Nun hatte er eine neue Stellung in einer anderen Stadt gefunden und kam nur am Wochenende nach Hause. Als die Polizisten zum vierten Mal kamen, erzählte Frau M. ihnen auf ihre Nachfragen hin, wo ihr Mann arbeitete.

Alle verhafteten Männer waren polnische Staatsbürger und nach dem, was Frau M. erzählt hatte, schien es, als würden Sondermaßnahmen gegen polnische Juden durchgeführt. Ich erkundigte mich telefonisch bei dem Rabbiner der nächstgelegenen Stadt, der aber von nichts wusste. Später hörte ich, woran das lag. In den meisten Städten hatte die Polizei die gesamte polnisch-jüdische Bevölkerung verhaftet - Männer, Frauen und Kinder -, und die Gemeinde erfuhr erst später, was passiert war.

Ich bat die Frauen, in meinem Haus zu warten und fuhr zu unserem Gemeindebüro. Dort fertigte ich eine Liste all unserer polnischen Gemeindemitglieder an und schickte drei Mitarbeiter zu allen polnischen Familien. Etwa eine Stunde später wusste ich, dass alle polnischen Männer, mit zwei Ausnahmen, verhaftet worden waren. Der eine der beiden war in Belgien und der andere hatte sich versteckt. Inzwischen hatten sich benachbarte Gemeinden bei uns gemeldet und wollten wissen, ob bei uns das Gleiche passiert sei, was sie tun sollten und ob wir etwas über die Hintergründe des Vorfalls wüssten.

Dann ging ich zur Gestapo, der Polizei für politische Angelegenheiten, weil eine der Frauen gesagt hatte, ihr Mann sei von der Gestapo verhaftet worden. Die Gestapo erklärte: „Das wundert uns aber, wir wissen von nichts.“ Daraufhin ging ich zur Kriminalpolizei. Dort waren die Leiter überrascht und wussten von nichts. Ich verstand das nicht. Ich sagte: „Die Männer sind verhaftet worden“, die Polizei hatte sie in große Polizeiautos, „Grüne Minna“ genannt, verfrachtet; bestimmt sei das doch von jemandem angeordnet worden, der in der Lage sein sollte, zu erklären, was geschehen sei. Man muss wissen, dass die meisten Polizisten, die die Festnahmen durchführten, den verhafteten Männern nicht die Zeit ließen, sich anzuziehen. Es war ein kalter Tag, und die meisten der Verhafteten hatten nur Zeit gehabt, sich ihre Hosen über die Schlafanzüge zu ziehen. Einer von ihnen, der seit über vierzig Jahren in Krefeld wohnte, war alt und krank. Ich bat den Kommissar der Kriminalpolizei, mir zu helfen, und sei es nur aus Gründen der Humanität.

Er antwortete: „Ich würde gerne helfen, aber ich weiß von nichts.“

Daraufhin sagte ich: „Vielleicht weiß ja der Leiter der Ausländerpolizei etwas darüber.“ Er rief den Kommissar an, und jetzt waren wir an der richtigen Stelle. Ich ging zum Direktor, der mir sagte, dass er nicht befugt sei, mir irgendeine Antwort zu geben.

Ich antwortete: „Wenn die Frauen der verhafteten Männer zum polnischen Konsulat gehen, kann die Regierung Ärger bekommen. Im Interesse des Staats muss ich mit dem Mann sprechen, der für Krefeld verantwortlich ist. Ich habe vor ein paar Tagen mit ihm gesprochen, ich werde ihn anrufen.“

Als ich diesen Namen erwähnte, sagte er: „Ja, Herr Humpert gab den Befehl. Wenn Sie ihn kennen, lassen Sie uns gemeinsam anrufen, dann kann ich hören, was er sagt.“ Von diesem Augenblick an verwandelte sich der höchst misstrauische Kommissar in einen Freund, der mir später noch oft helfen sollte.

Als wir bei der Düsseldorfer Gestapo anriefen, war keiner der höheren Beamten in seinem Büro. Dann verlangte ich unseren Polizeidirektor zu sprechen, aber dieser befand sich in Düsseldorf, wo er von der Regierung hinzitiert worden war, um Anweisungen zu empfangen. Während ich telefonisch versuchte, jemanden zu erreichen, teilte mir der Kommissar mit, dass er alle verhafteten Männer noch am selben Tag an die polnische Grenze schicken müsse. Dies führte dazu, dass ich meine Bemühungen, einen Zuständigen zu finden, noch verdoppelte. Schließlich sagte ich, dass ich Dr. Hürter sprechen müsse. Dieser wichtige und sehr gefürchtete Mann war (bevor Hitler die Macht übernahm) Dezernent für politische Strafsachen unserer Stadt gewesen und musste die Kommunisten und die Nazis verurteilen. Er stand beiden gleich ablehnend gegenüber, und niemand hatte vermutet, dass er in Wirklichkeit ein Nazispion war.

Hochgestellte Beamte hatten mir oft erzählt, dass er Juden in allen Gemeinden verfolgte. Bei der Ausübung seiner Pflichten ging er härter gegen uns vor, als es laut Vorschrift erforderlich gewesen wäre. Selbst um unsere kleinsten Rechte zu verteidigen, mussten wir uns an die Regierung wenden. Bei allen Entscheidungen der Bezirksregierung bekamen wir Recht. Zwischen ihm und uns herrschte bereits seit langem Kriegszustand.

Ich wusste, wenn ich unseren Gemeindevorsitzenden fragen würde, ob ich zu Dr. Hürter gehen sollte oder nicht, würde er mir davon abraten. In diesem schwierigen Augenblick sagte ich mir, dass die Zeit fehlte, um weiter darüber nachzudenken. Ich war fest davon überzeugt, dass ich Dr. Hürter um eine Unterredung bitten musste. Das Schlimmste, was passieren konnte, war eine Absage. Schließlich bat ich den Kommissar, Dr. H. anzurufen. Das tat er auch und sagte: „Hier ist Dr. Bluhm. Er möchte mit Ihnen über die verhafteten Polen sprechen.“

Nach einer kurzen Fortsetzung des Gesprächs gab er mir den Hörer. Es war das erste Mal seit Monaten, dass Dr. H. mit einem Juden sprach. In den Monaten zuvor hatte er sich geweigert, Juden zu empfangen. Jetzt teilte er mir am Telefon mit: „Wenn ich Sie empfangen soll, dann aber sofort. Ich werde noch eine Stunde im Rathaus in Uerdingen sein.“ Bevor ich mich auf den Weg zu dieser Verabredung machte, fuhr ich zu unserem Gemeindebüro, um den Frauen der Verhafteten zu sagen, dass ich ihnen hoffentlich bald mehr sagen könnte.

Ich hielt auch kurz bei mir zu Hause an. Dort erfuhr ich, dass in den meisten umliegenden Städten alle polnischen Juden, Männer, Frauen und Kinder, verhaftet worden waren und Herr Müller bereits von Düren nach Aachen ins Gefängnis gebracht worden sei. Ich nahm Frau Libermann mit und fuhr nach Uerdingen. Auf dem Weg dorthin bot sich uns ein schrecklicher Anblick. Ein kleiner Junge, vielleicht fünf Jahre alt, lag tot auf der Straße. Ein Lastwagen hatte ihn überfahren. Der Unfall hatte sich erst wenige Minuten zuvor ereignet, und wir sahen die entsetzten Gesichter der Menschen, die aufgeregt auf der Straße standen. Der Polizist ließ uns anhalten. Ich entgegnete: „Ich habe keine Zeit. Ich bin bei Dr. Hürter vorgeladen. Hier ist der Beweis. Sie werden feststellen, dass meine Aussage stimmt.“ Er ließ uns passieren.

Dr. H. war geradezu übertrieben freundlich. Zwei oder drei Mal sagte er, er wüsste, dass die Leute in unserer Gemeinde ihn für ungerecht hielten, aber er täte nur seine Pflicht. In diesem Fall zum Beispiel, sagte er, hätte er auch die polnischen Frauen und Kinder verhaften lassen können, und er wisse, dass dies in den meisten Nachbarstädten der Fall gewesen sei, doch der Wortlaut der Regierungsanordnung biete etwas Interpretationsspielraum. Er sei nicht, beharrte er, so schlecht, wie manche von uns glaubten. Ich erinnerte mich an all das Böse, das er uns angetan hatte, doch ich hatte keine Zeit für solche Überlegungen. Ich bat ihn, mir und den Angehörigen der Polen zu erlauben, sie zu besuchen und ihnen Anzüge und die Dinge zu bringen, die sie brauchten, vor allem für die Reise. Ich bat auch um Erlaubnis, jedem Mann zehn Mark mitzubringen, den Betrag, den eine Person laut deutschem Gesetz ausführen durfte, ebenso wie Lebensmittel im Wert von bis zu 25 Mark. Diesen Bitten gab er statt. Dann fragte ich ihn, ob er veranlassen könne, dass Frau Müller mit ihrer Tochter nach Aachen fahren könne, um Herrn Müller zu sehen. Er sagte: „Ich werde umgehend der Polizei Anweisung geben.“ Daraufhin sagte ich: „Ich weiß nicht, ob die Aachener Polizei Frauen und Kinder zusammen mit den Männern hat verhaften lassen. Vielleicht ist es für die beiden gefährlich, nach Aachen zu fahren.“ Er antwortete lachend, dass beide auf jeden Fall wieder nach Krefeld zurückkehren könnten. Ich bat ihn dann in einem weiteren wichtigen Punkt um seine Zustimmung: dass die gefangenen Männer ihre Frauen, Kinder oder andere Personen mit einer Generalvollmacht ausstatten dürften. Dr. Hürter machte diese Zugeständnisse und fügte hinzu, dass er der Polizei Anweisungen geben würde, sich meinen Wünschen entsprechend um diese Angelegenheiten zu kümmern. Ich war überrascht. Nach all dem, was sich zwischen ihm und uns abgespielt hatte, hätte ich nicht mit so viel Entgegenkommen von seiner Seite gerechnet.

Bei meiner Rückkehr lag das arme tote Kind immer noch auf der Straße, auch wenn man es mittlerweile bedeckt hatte.

Im Büro der Gemeinde hinterließ ich Anweisungen, berichtete, was passiert war, und eilte dann nach Hause; von dort aus ging ich weiter ins Polizeigefängnis. Hier waren die verhafteten Männer bereits im Hof versammelt und warteten auf meine Ankunft. In der Zwischenzeit hatte unser Büro Formulare zum Erteilen der Generalvollmachten vorbereitet. Die verhafteten Männer besaßen Kopien dieser Schriftstücke, die unser Gemeindevorsitzender, ein Rechtsanwalt, angefertigt hatte.

Die inhaftierten Männer waren froh, mich zu sehen sowie zu hören, dass ihre Angehörigen bald kämen, um sich von ihnen zu verabschieden, bevor sie nach Polen abreisen mussten, einem Vaterland, dass einige von ihnen noch nie gesehen hatten, dessen Sprache manche von ihnen nicht beherrschten. Ich konnte die Aufregung dieser Männer verstehen, die mich mit Fragen belagerten. Ich konnte nicht wissen, dass ich zwei Wochen später selbst als Gefangener in diesem Hof stehen würde. Dann würde ich nicht die Gelegenheit haben, das Telefon im Gefängnisbüro zu benutzen und mit der Regierungsbehörde zu verhandeln.

Ich bat die Männer, vernünftig zu sein und mir meine schwierige Pflicht nicht noch schwerer zu machen. Sie könnten im Hof bleiben, und ich würde sie einzeln ins Büro rufen. Ich muss sagen, dass sie alle sehr vernünftig reagierten. Kurz darauf trafen die ersten Frauen mit Anzügen und Lebensmitteln ein. Durch das offene Fenster konnte ich anrührende Szenen, das Wiedersehen und die Abschiede, miterleben.

Ein verhafteter Mann, den ich vorher noch nicht gekannt hatte, kam weinend ins Büro, ohne aufgerufen geworden zu sein. Er erzählte mir, dass er als Jude geboren sei, er könne Hebräisch und Jiddisch lesen und schreiben. Als er eine Christin geheiratet habe, sei er konvertiert. Ich könne ihn prüfen, sagte er, er sei in der Lage, unser Gebetbuch zu übersetzen. Er bat mich, seine Frau anzurufen, damit sie ihn besuchen käme. Ich kannte sein Geschäft, hatte aber nicht gewusst, dass der Besitzer ein ehemaliger Jude war. Natürlich rief ich seine Frau vom Gefängnisbüro aus an und teilte ihr mit, was sie ihrem Mann mitbringen dürfe. Dann ließ ich ihn eine Generalvollmacht für seine Frau ausstellen.

Es war vier Uhr, als ich das Polizeigefängnis verließ und zum Gerichtsgefängnis fuhr. Dort wurde ein kranker Mann, ein Fabrikant, festgehalten, dem ich versprochen hatte, ihn zu besuchen. Ich befürchtete, dass er unruhig würde, wenn ich nicht käme, da ich ihm versprochen hatte, ihn Freitagmorgen zu besuchen. Ich besuchte nur diesen einen Gefangenen und sagte den Wachen Bescheid, dass ich die anderen jüdischen Gefangenen an den folgenden Tagen besuchen käme.

Als ich in der Absicht nach Hause zurückkehrte, mich auf den Freitagabend-Gottesdienst vorzubereiten, sagte mir Frau Bluhm: „Dr. Hürter hat gerade angerufen. Er will sofort mit Dir sprechen.“ Mit einer eigentümlichen Vorahnung ging ich zum Telefon. Dr. Hürter sagte: „Die Regierung hat beschlossen, auch die polnischen Frauen und Kinder zu verhaften.“ Er wollte wissen, ob er sie in den Polizeitransporter verfrachten solle oder ob ich die Verantwortung übernähme, dass sie sich noch an diesem Abend um 10 Uhr auf der Polizeiwache einfänden, bereit, das Land zu verlassen.

Ich wusste, dass einige unserer polnischen Glaubensbrüder „Schwarzgeld“ im Haus hatten. Deswegen antwortete ich: „Ich werde tun, was ich kann. Ich werde versuchen, alle zu benachrichtigen. Ich werde Ihnen mitteilen, falls unsere Angestellten es nicht schaffen sollten, alle zu erreichen, aber ich kann nicht garantieren, dass alle Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt erscheinen. Aber bitte, ich flehe Sie an, bringen Sie diese unglückseligen Menschen nicht noch weiter dadurch in Bedrängnis, dass Sie sie in einen Polizeiwagen stecken.“ Er stimmte zu und sagte: „Ich werde nichts unternehmen.“ Dann bat ich ihn um zwei weitere Zugeständnisse. Ich bat ihn, die Polizei in Aachen anzurufen und sie anzuweisen, dass Frau und Fräulein Müller nicht verhaftet würden, sondern nach Hause zurückkehren könnten, damit sie ihre Kleider und anderen persönlichen Bedarf packen könnten. Zweitens bat ich ihn, dass den verhafteten Personen gestattet würde, neue Generalvollmachten auszustellen. Im Polizeigefängnis, erklärte ich, gäbe es keine offiziellen Stempel, um diese Dokumente rechtsgültig zu machen. Dr. Hürter versprach, dass bis zum Abend alles in der Polizeizentrale geregelt sei; das Büro des Leiters der Ausländerpolizei stünde mir zur Verfügung, er meinte jedoch, dass ich die Verantwortung für die Wohnungen und den Besitz der Leute übernehmen müsse. Ich entgegnete ihm, ich befürchte, dass diese Verantwortung für mich allein zu groß sei, dass ich aber unseren Gemeinderat fragen wolle.

Nachdem ich die Anrufe erledigt hatte, musste ich zum Freitagabend-Gottesdienst laufen.

Weil wir so unter Zeitdruck standen, fiel der Beginn der Vorstandssitzung mit dem Beginn des Freitagabend-Gottesdienstes zusammen. Ich erzählte dem stellvertretenden Vorsitzenden, was sich ereignet hatte, und ging dann zum Gottesdienst, sagte aber, dass man mich holen könne, wenn ich gebraucht würde. Und tatsächlich wurde ich während des Gottesdienstes aus der Synagoge geholt. Für ein paar Minuten verließ ich den Gottesdienst. Während des gesamten Gottesdienstes war ich nicht in der Lage, mich auf die Gebete zu konzentrieren. Ich fragte mich immer wieder, ob ich etwas vergessen oder zu tun versäumt hatte. Nach Ende des Gottesdienstes ging ich zur Vorstandssitzung. Einige unserer polnischen Glaubensbrüder hatten kein Geld, und wir waren verpflichtet, ihnen Lebensmittel und die erlaubten zehn Mark zu geben. Wir waren einstimmig dafür, sie auf diese Weise zu unterstützen, aber ebenso einmütig dagegen, die Verantwortung für ihren Besitz zu übernehmen. Wir waren der Ansicht, dass es in Ordnung sei, wenn diese Menschen ihre Sachen in der Obhut ihrer Freunde ließen, dies sei jedoch nicht die Aufgabe der Gemeinde.

Während unseres Treffens kam die Frau des konvertierten Juden zu mir und fragte mich, was sie tun solle. Da sie selbst Arierin war, hatte die Polizei ihr die Entscheidung überlassen, ob sie in Deutschland bleiben oder das Land mit ihrem Mann verlassen wolle. In diesem Moment erhielt ich die Nachricht, dass auch die Polizei alle jüdisch-polnischen Personen instruiert hatte, sich um 10 Uhr abends in der Polizeizentrale einzufinden. Die Dame christlichen Glaubens erzählte mir, dass sie und ihr Mann ein Affidavit für die Vereinigten Staaten erhalten hätten. Sie waren beim Generalkonsulat in Stuttgart registriert. Ihre Quotennummer war so niedrig, dass täglich mit ihren Visa und ihrer umgehenden Ausreise in die USA zu rechnen war. Ich bat die Polizei telefonisch, diesen Mann nicht zu deportieren, da er ohnehin Deutschland binnen kurzer Zeit verlassen würde. Die Polizei lehnte dies ab. Sie hätten strengsten Befehl, alle polnischen Juden zu verhaften. Sie seien nicht befugt, irgendeine Ausnahme zu machen. Als die Frau dies vernahm, sank sie ohnmächtig vom Stuhl. Ich war froh, dass eine andere polnische Frau, die etwas fragen wollte, in diesem Moment das Büro betrat. Diese Frau half mir; wir gaben der Ohnmächtigen Wasser, und bald kam sie wieder zu sich. Ich gab ihr folgenden Rat; Ich sagte ihr, sie solle eine Fahrkarte für ihren Mann kaufen, da nach deutschem Gesetz dieser Tag der letzte sei, an dem sie das noch machen konnte. Sie könnte in Deutschland bleiben und ihre Angelegenheiten regeln und später ein Schiff nehmen, das aus Danzig käme und auch in Rotterdam oder Amsterdam oder Southhampton anlegen würde. Ich gab all diesen polnischen Frauen den Rat, Fahrkarten zu kaufen, sofern irgendeine Chance für sie bestand, nach Übersee zu emigrieren. Unser Büro half den Frauen dabei.

Unterdessen wandte sich der Arzt Dr. Hirschfelder Rat suchend an unseren Vorstand. Eine polnische Familie hatte ein drei Wochen altes Baby. Der Junge war bereits seit ein paar Tagen krank. Der Arzt wusste nicht, was er tun sollte. Er meinte, sofern es möglich sei, auf der Reise heiße Milch für das Kind zu bekommen, bestünde keine Gefahr, andernfalls hielte er es jedoch für sehr riskant. Wir beschlossen, das Kind in das Jüdische Krankenhaus nach Köln zu schicken. Das Krankenhaus erklärte sich bereit, das Kind aufzunehmen, und wir schickten es mit einer unserer Krankenschwestern nach Köln. Die Familie gab uns 1000 Mark für die Unkosten. Das war das einzige Mal, dass wir Geld von den polnischen Juden annahmen. Nachdem wir diese Abmachung getroffen hatten, begann die Mutter des kranken Kinds bitterlich zu weinen. Sie insistierte: „Der Arzt hat gesagt, dass keine Gefahr für das Kind besteht; wir würden es immer, selbst im Zug schaffen, Milch für mein Baby aufzuwärmen.“ Doch ich antwortete: „Das ist etwas, das Sie mit sich selbst ausmachen müssen. Wenn der Zug auf offener Strecke zwischen den Grenzen stehen bleibt, was können Sie dann schon machen?“ Sie antwortete: „Ich würde jederzeit einen barmherzigen Bauern finden, der mir für mein Baby gäbe, was es braucht.“

Ich sagte: „Aber wenn Sie den Zug nicht verlassen könnten, wären Sie die Mörderin Ihres Kindes.“ Da gab die Mutter nach.Später hörten wir, dass der Zug, mit dem unsere Leute abtransportiert wurden, über anderthalb Tage lang ohne Lok, ohne Heizung und nachts ohne Licht im Niemandsland gestanden hatte.

Hungrig und verdrossen ging ich in Begleitung unseres stellvertretenden Gemeindevorsitzenden nach Hause. Bevor wir in meine Wohnung zurückkehrten, gingen wir bei Herrn Müller vorbei. Frau Müller und ihre Tochter waren nicht aus Aachen heimgekehrt. Wir wussten, dass sie das Gefängnis in Aachen um 3.30 Uhr verlassen hatten. Sie hätten mittlerweile zu Hause sein müssen. Hatte man sie verhaftet? Wir baten ihren christlichen Nachbarn, einen katholischen Sozialarbeiter, Frau Müller auszurichten, sie möge zu mir kommen, bevor sie irgendetwas anderes unternahm. Dann ging ich nach Hause, um den Sabbat zu begehen.

Unablässig kamen Frauen mit ihrem „Schwarzgeld“ zu mir, welches anzunehmen ich mich weigerte. All diese unglücklichen Menschen fragten, was besser wäre: zu fliehen und sich ein paar Tage zu verstecken oder ihre Männer zu begleiten. Es war sehr schwierig, ihnen den richtigen Rat zu geben. Die Frauen, die in Deutschland blieben, würden ihre polnische Staatsbürgerschaft verlieren; sie würden nicht in der Lage sein, später nach Polen zu fahren, und ihre Männer konnten nicht nach Deutschland zurückkehren. Einige der polnischen Frauen unserer Gemeinde waren an diesem Tag nach Düsseldorf gefahren, um den polnischen Generalkonsul zu bitten, ihre Pässe zu stempeln; in diesem Fall wären sie polnische Staatsangehörige nach den neuen polnischen Gesetzen geblieben. Doch der Generalkonsul weigerte sich, obwohl er seinen Stempel ohne zu zögern allen nichtjüdischen Polen gab. Hätte der polnische Konsul die Pässe abgestempelt, hätte ich den Frauen geraten, sich ein paar Tage lang zu verstecken. Dann hätten sie nach dem Verkauf ihrer Geschäfte und der Regelung ihrer Angelegenheiten als polnische Staatsangehörige nach Belgien reisen können, ohne ein Visum zu benötigen, aber nun verloren ihre polnischen Pässe am 1. November ihre Gültigkeit. Deswegen sagte ich den Frauen, dass jede für sich selbst entscheiden müsse, was sie tun wolle. Einige von ihnen wollten nur mit ihren Männern und Söhnen zusammen sein. Andere erklärten, sie wollten lieber in Deutschland bleiben. Ich bat sie, nicht zu sagen, dass sie diese Angelegenheiten mit mir erörtert hätten. Einige dieser Frauen waren sehr unentschlossen. Ich hatte kaum Zeit für mich selbst an diesem Abend.

Bevor ich ins Polizeihauptquartier ging, schaute ich noch nach Frau Müller und ihrer Tochter: Sie waren nicht nach Hause gekommen. Auf der Polizeiwache traf ich zwei Mitarbeiter unserer Gemeinde und die polnischen Frauen mit ihren Kindern, Freunden und Verwandten. Ein paar Christen warteten vor dem Hauptquartier. Die Polen waren in einem sehr großen Raum versammelt. Dort standen drei Schreibmaschinen zu unserer Verfügung. Der Leiter der Ausländerpolizei erschien mit all seinen Untergebenen und forderte mich auf, neben ihm Platz zu nehmen. Dann brüllte er: „Ruhe! Alle hinsetzen. Alle hier anwesenden Juden, mit Ausnahme von Dr. Bluhm, sind verhaftet.“

In diesem Moment kamen etwa dreißig uniformierte Polizisten herein und blockierten den Ausgang. Ich sagte: „Es sind zwei Mitarbeiter unserer Gemeinde anwesend, die hier sind, um mir zu helfen sowie Freunde und Verwandte der Verhafteten, bei ihnen handelt es sich nicht um polnische Staatsangehörige.“ All diese Menschen, mit Ausnahme unserer beiden Mitarbeiter, mussten die Polizeiwache verlassen.

Einige der polnischen Frauen fragten mich, ob sie von Deutschland nach Frankreich, Belgien oder Luxemburg ausreisen könnten. Sie hatten Verwandte in diesen Ländern und zeigten ihre Einreisegenehmigungen vor. Die Polizei erklärte, dass sie die Ausreise nicht genehmigen könne, weil alle deutschen Grenzen für polnische Staatsangehörige geschlossen seien.

Zuerst riefen sie die Namen aller polnischen Personen auf. Frau Halpern fehlte. Als ich zur Polizei kam, gab man mir das Attest eines arischen Arztes; demzufolge hatte Frau Halpern einen Nervenzusammenbruch erlitten. Sie sei transpörtunfähig. Ich übergab das ärztliche Attest dem Polizeikommissar. Er war darüber sehr aufgebracht und seiner Aufgabe an diesem Abend nicht gewachsen. Er fragte seinen Vorgesetzten, was er wegen Frau Halpern unternehmen solle. Der Vorgesetzte sagte, dass dies der Bezirksarzt entscheiden müsse. Ich wusste, dass Obermedizinalrat Dr. Klahold an diesem Abend nicht in Krefeld war. Er hatte mir und anderen Juden, die ich zu ihm geschickt hatte, sooft er konnte, geholfen. Sein Assistenzarzt war ein unangenehmer junger Nazi. Ich wusste, dass dieser Frau Halperns Ausreise anordnen würde, selbst wenn dies auf einer Bahre geschehen müsste. In diesem Augenblick wurden die verhafteten Männer hereingeführt und der Kommissar vergaß Frau Halpern. Bewegende Szenen spielten sich ab.

Den Männern war zunächst nicht klar, warum ihre Familien anwesend waren. Sie glaubten, die Polizei hätte ihre Frauen und Kinder hergebracht, damit sie sich verabschieden konnten. Ungefähr sechzig Polizisten in Uniform und Zivil versperrten den Raum. Manche wandten sich ab, um die traurigen Szenen, die sich abspielten, nicht mit ansehen zu müssen. Der Kommissar verlor die Beherrschung und sagte zu mir: „Ich muss Anweisung geben, dass alle Polen zum Zug gebracht werden.“

Ich wandte mich mit lauter Stimme an die Menschen und bat sie, leise zu sein, andernfalls würden sie umgehend auf den Bahnsteig gebracht, ohne dass sie die Möglichkeit hätten, ihre Angelegenheiten zu regeln. Sie würden während der Fahrt ausreichend Zeit haben, sagte ich, sich mit ihren Familien zu unterhalten. Umgehend wurde es still.

Leider hatten wir keine Formulare für die Generalvollmachten. Ich diktierte den Schreibern den Text. Nachdem dieser aufgesetzt war, kamen die Polen nacheinander zu mir, weil sie noch etwas vergessen hatten. Sie baten mich, die Vollmachten zu ändern oder zu ergänzen. Die meisten der Polen hatten Geschäfte und verkauften ihre Waren auf Kredit. Sie hatten Bargeld in ihren Wohnungen, das zum Teil versteckt war. Deswegen waren ihre Angaben oft sehr lang und detailliert.

Wir arbeiteten sehr zügig. Die Polizei drängte uns ständig, mit der Arbeit zum Ende zu kommen, weil am Bahnhof bereits der Zug wartete. Schließlich waren wir fertig, und die Polizei brachte die Verhafteten zum Bahnhof. Wir mussten nur einen Platz überqueren, um zum Bahnhof zu kommen. Der ganze Weg war von Polizei und SS gesäumt. Die Polizei war sehr freundlich. Sie schickte die Polen mit dem Berliner Nachtexpress nach Berlin, in einem geschlossenen Zugteil am Ende des Zugs. Deutsche Juden, die mit den Polen verwandt oder befreundet waren, gingen auf den Bahnsteig und versuchten ein letztes Mal, mit ihnen zu sprechen, aber die Polizei trennte die Polen von den übrigen Leuten. Ich war der einzige, der mit ihnen reden konnte.

Später hörten wir, dass die Polizei in einigen anderen Städten barsch mit den Polen umgegangen sei.

Am nächsten Morgen musste ich predigen. Es sollte mein letzter Gottesdienst in der Synagoge sein. Ich schickte Hanna zu Frau Halpern, um nachzusehen, wie es ihr ging. Der Kommissar hatte mir mitgeteilt, er habe den Befehl erhalten, in den kommenden beiden Tagen alle verbleibenden polnischen Juden zu verhaften. Ich befürchtete, dass sie auch Frau Halpern verhaften würden. Hanna fand sie beim Frühstück vor, dem sie herzhaft zusprach. Als sie hörte, dass Gefahr im Verzug sei, sprang sie ins Bett, um Hanna eine Kostprobe ihres Talents als Simulantin zu geben.

Während des Gottesdienstes hörte ich, dass Frau Müller sich im Haus von Freunden befand. Von Aachen aus war sie zu ihren Kölner Verwandten gefahren, die verhaftet worden waren und deren Wohnungen sie von der Polizei versiegelt vorfand. Ich riet Frau Müller, sich bis zum 1. November zu verstecken.

Samstagabend fuhr ich nach Berlin. Ich nahm den gleichen Zug, mit dem die Polen am Tag zuvor deportiert worden waren. In Berlin traf ich ein paar Polen, die sich versteckt hatten. Bei der Gelegenheit hörte ich auch, was sonst noch im Land passiert war. In Hannover, zum Beispiel, hatten sie die Polen in den frühen Morgenstunden verhaftet und umgehend an die polnische Grenze gebracht. Sie vergaßen allerdings die Kinder, die in der Schule waren. Als die Kinder nach Hause kamen, fanden sie ihre Wohnungen von der Polizei versiegelt vor.

Zwei Tage später starb meine Mutter, und ich eilte wieder nach Berlin. Ich beabsichtigte, die Trauerwoche dort zu verbringen.

Für Mittwoch, den 8. November, hatte ich zwei wichtige Termine, einen mit dem höchsten Richter unseres Bezirks wegen unserer beiden Anwälte sowie einen mit der Gestapo wegen der verhafteten jüdischen Personen. Ein neues Gesetz aus dieser Zeit sah vor, dass wir in Krefeld nur noch einen Anwalt haben sollten, der zudem auch für den gesamten Bezirk entlang der holländischen Grenze zuständig sein sollte. Unsere beiden Anwälte ersuchten mich, diese Regierungsanordnung abzuwenden. Die Anwaltskammern konnten ihnen nicht helfen. Vor meiner Reise nach Berlin hatte ich beabsichtigt, beide Termine zu verlegen, doch unser umgehend einberufener Vorstand vertrat die Auffassung, dass es in diesen Zeiten für einen Juden schwierig sei, überhaupt Zugang zu diesen Beamten zu bekommen. Falls ich diese Termine verschöbe, bekäme ich womöglich nie wieder die Gelegenheit, mit diesen Männern zu sprechen. Also kehrte ich am 8. November nach Hause zurück.

Morgens musste ich zur Gestapo. Der vorherige Chef war sehr freundlich zu mir gewesen. Unsere Freundschaft stammte noch aus den Tagen, als die Regierung die B’nai B’rith Loge verboten hatte. Einer seiner Angestellten hatte ihn bei seinem Gestapo-Vorgesetzten in Düsseldorf denunziert, indem er gesagt hatte, dieser Mann sei ein Freund von mir. Es gab ein paar Geheimermittlungen, und zwei Monate später wurden beide versetzt. Der neue Gestapochef, Herr Wulle, war ein noch junger Kommissar, der aus Berlin gekommen war. Er war ein kultivierter Mann, ein Mann voller Ehrgeiz. Diese Eigenschaften machten ihn für uns sehr gefährlich. Es gelang mir, mit ihm in Kontakt zu treten. Einmal führte ich eine lange Diskussion mit ihm, die sich bis Mitternacht hinzog. Hanna war dabei zugegen. Auf dem Heimweg sagte sie, dass sie ihn für einen feinen Kerl hielt, und war ganz begeistert von ihm. Ich sagte: „Er ist genau der Typ von Mann, der dich lachend erdrosseln würde. Du musst jedes Wort auf die Goldwaage legen, das Du zu ihm sagst.“ Kurz danach hörte ich, dass selbst die Gestapobeamten Angst vor ihm hatten.

Um 10:00 Uhr hatte ich einen Sondertermin mit dem Leiter des Judenreferats, Herrn Schulenburg. Doch ein anderer Mann, ein neuer Beamter, empfing mich in Herrn Schu-lenburgs Büro. Ich fragte ihn, ob er der neue Leiter dieses Referats sei. Er verneinte dies und antwortete, der neue Kommissar habe angeordnet, dass er alle wichtigen Angelegenheiten regelte. Im Laufe unseres Gesprächs fragte er mich verächtlich, ob ich denn tatsächlich glauben würde, dass wir Juden unsere Arbeit so wie bisher weitermachen könnten. Am Montag, den 7. November, hatte ein in Paris lebender polnischer Jude namens Her-schel Grynszpan, 17 Jahre alt, auf Ernst vom Rath, den deutschen Botschaftssekretär in Paris, geschossen und ihn schwer verletzt. Nach seiner Verhaftung sagte Grynszpan aus, dass seine polnischen Eltern am 28. Oktober aus Deutschland deportiert worden seien und er sie habe rächen wollen. Uns Juden in Deutschland wurden daraufhin in der gesamten Presse ernste Vergeltungsmaßnahmen angedroht. Uns war klar, dass wir im Falle von v. Raths Tod alle schwer zu leiden hätten.

Als mich also an diesem Morgen der Gestapobeamte fragte, ob ich glaube, dass wir wie bisher unsere jüdischen Aktivitäten fortsetzen können, nahm ich an, er wisse, was passieren werde. Ich bat ihn, mir zu erzählen, was seiner Meinung nach die Reaktion der Regierung sein würde, ob wir mit zusätzlichen antijüdischen Gesetzen zu rechnen hätten. Es war jedoch nicht möglich, irgendeine Information von Herrn Braun zu bekommen, obwohl ich merkte, dass er gut unterrichtet war. Er sagte, er habe nur mitbekommen, dass neue Maßnahmen gegen uns geplant seien, er wisse jedoch nicht, um was es sich dabei handele. Sehr aufgewühlt ging ich daraufhin zu Dr. Alexander, dem Vorsitzenden unserer Gemeinde. Er war zugleich stellvertretender Vorsitzender des C.V., der größten Organisation deutscher Juden. Ich drängte ihn, in unserer Zentrale in Berlin nachzufragen, ob man dort etwas wisse. Er antwortete darauf: „Vielleicht wird die Regierung den Kulturbund, den C.V., die Zionisten und andere jüdische Organisationen verbieten, aber das wird nichts Ernstes sein. Wenn wir weniger jüdische Vereine haben, haben Sie weniger zu tun.“ Ich betrachtete dies nicht als spaßige Angelegenheit und war überrascht, dass sich Dr. Alexander, einer der bestinformierten deutschen Juden, nicht über die Situation von uns Juden besorgt zeigte. Ich fragte ihn, ob er mir etwas vorenthalte, es sei mir lieber, mich mit der Wahrheit auseinanderzusetzen. Dr. Alexander antwortete, dass die Nazis, nachdem Frankfurter den Nazi-Landesgruppenleiter in der Schweiz ermordet hätte, lediglich alle jüdischen Organisationen für ein paar Monate verboten hätten. Das Gleiche würde passieren, sollte vom Rath sterben. Mich befriedigte das nicht. Die sarkastische Frage des Gestapobeamten und das ganze Gespräch mit ihm beunruhigten mich. Ich bat Dr. Alexander dringend, den C.V. in Berlin anzurufen, was er denn auch tat, um mich zu beruhigen. Unsere Berliner Büros hatten keine wichtigen Neuigkeiten erhalten. Sie hatten nur gehört, dass in einigen hessischen Dörfern Juden belästigt worden seien. Sie wussten nichts von dem, was ich später in den Niederlanden hören sollte, dass die Kasseler Synagoge in der Nacht zuvor zerstört worden war. Es war typisch für die deutsche Zensur, dass von diesem Vorfall, der sich am Abend des 8. [November] ereignet hatte, am Mittag des darauffolgenden Tages in Berlin noch niemand etwas wusste.

Nach diesem Anruf sagte Dr. Alexander mir, ich solle keine „Gespenster sehen“, doch als ich nach Hause kam, hatte ich das Gefühl, dass etwas Schreckliches passieren würde. Als ich zur Straßenbahn nach Düsseldorf ging, erwartete mich Dr. Alexander an der Haltestelle, um zu sehen, ob ich immer noch so aufgeregt war. Er befürchtete, ich könnte noch zu aufgewühlt sein, um die Verhandlungen allein zu führen. Ich lehnte seine Hilfe aber ab. In Düsseldorf hatte ich Erfolg. Oberlandesgerichtsdirektor Dr. Oberg versprach mir nach langer Diskussion, zwei Anwälte für Krefeld zuzulassen, ohne einen anderen jüdischen Anwalt aus dem Rheinland von der Liste zu streichen. Dieses Versprechen wurde gehalten. Als ich nach Krefeld zurückkehrte, hörte ich im Radio, dass von Rath gestorben war.

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