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Chronik und Quellen
1938
Oktober 1938

Bericht des Jüdischen Weltkongresses

Der Jüdische Weltkongress analysiert am 14. Oktober 1938 die Situation der Juden in Europa:

Der nachfolgende Ueberblick über die jüdische Lage in Europa sieht davon ab, Einzelheiten über die Situation in den verschiedenen Ländern zu geben, und verweist diesbezüglich auf die Detailberichte, die vom Büro der Executive des Jüdischen Weltkongresses gleichzeitig Ihnen zugesandt werden. Ich beschränke mich darauf, die grossen Grundlinien der jüdischen Lage in Europa in seinen wichtigsten Ländern zu skizzieren, unter Hinweis auf die Richtlinien der Aktionen, die unsererseits im Hinblick auf eine mögliche Besserung dieser Lage oder wenigstens die Verhinderung einer Verschlechterung zu unternehmen sind.

I. Allgemeines

Die jüdische Lage in Europa, wie überall, ist im wesentlichen eine Folge der allgemeinen politischen Situation. Es gibt natürlich ein spezifisches jüdisches Problem, welches bestanden hat und bestehen wird unabhängig von der jeweiligen politischen Lage in der Welt. Dieses spezifische jüdische Problem grundsätzlich zu lösen, ist die Aufgabe derjenigen Bewegungen, die, wie der Zionismus, sich diese grosse historische Aufgabe zum Ziel gesetzt haben. Aufgabe des Weltkongresses ist, die bestehenden jüdischen Rechte und Positionen in der Welt zu verteidigen, dort, wo sie bedroht sind, oder wo sie vernichtet sind, sie wieder herzustellen und zu verhindern, dass weitere Diskriminationen der Juden erfolgen. Gesehen vom Standpunkt einer solchen Emergency-Aktion, gilt der oben dargelegte Satz, dass die jüdische Lage in erster Linie eine Folge der allgemeinen politischen Situation ist.

Die europäische politische Lage steht unter dem Eindruck und den Nachwirkungen des historischen Ereignisses, welches in den Vereinbarungen von München festgelegt worden ist. Dieser Münchener Akkord erweist sich immer mehr als eine der grössten diplomatischen Niederlagen, die die europäischen Demokratien erlitten haben, und ist der grösste Sieg, den die totalitären Staaten bisher errungen haben. Die katastrophalen Auswirkungen dieser Niederlage der Westmächte (auf deren Ursachen einzugehen hier zu weit führen würde) lassen sich noch gar nicht übersehen und werden von Tag zu Tag grössere Formen annehmen. Die positiven Hoffnungen, die die westeuropäischen Staatsmänner an das Münchener Abkommen geknüpft haben (allgemeine Befriedung Europas, Regelung aller Streitfragen durch Verhandlungen der vier Grossmächte etc.) können bereits heute als illusorisch und überholt betrachtet werden. Die totalitären Staaten sind heute, wenige Wochen nach München, bereits ebenso aggressiv, wenn nicht viel aggressiver und arroganter, als sie vor München waren, und der Friede in unseren Tagen, von dem Herr Chamberlain naiverweise gleich nach München sprach, wird bereits von allen als eine Illusion anerkannt. Damit ist auch gesagt, dass die Gefahr eines permanenten Vier-mächte-Direktoriums für Europa - Gefahr deswegen, weil nach den Erfahrungen von München in diesem Direktorium faktisch die zwei totalitären Staaten die Führung gehabt hätten - praktisch nicht mehr besteht. Europa wird weiterhin im Zustand der Labilität, der Unruhe, der aggressiven Politik der Diktaturstaaten bleiben, wie lange, kann niemand voraussehen.

Die negativen Auswirkungen des Münchener Abkommens sind bereits in voller Entwicklung begriffen. Die Tschechoslowakei wird in rapidem Tempo ein antidemokratischer Staat, der faktisch ein Vasallenstaat Deutschlands werden muss; die kleine Entente ist vernichtet, Jugoslawien, Bulgarien, die Türkei geraten immer mehr unter den vorherrschenden wirtschaftlichen und damit auch politischen Einfluss Deutschlands, Rumänien wird sich dem wachsenden Druck des Dritten Reichs auch schwer entziehen können; Polen lebt in der panikartigen Furcht vor Deutschland und wird sich, geleitet von Beck, dessen prodeutsche Politik scheinbar triumphiert hat, immer mehr deutschen Wünschen anpassen; alle kleinen Staaten Europas zittern für ihre Existenz und leben in der Panik vor der deutschen Hegemonie. Europa geht einem schweren und bitteren Winter entgegen, und solange nicht die englische Politik ihren Kurs ändern wird, d.h. solange Herr Chamberlain mit seiner Schwäche und seinen Illusionen diese Politik dirigieren wird, ist auf eine Besserung dieser Lage nicht zu rechnen. Frankreich ist im Augenblick und für die nächste Zukunft als Grossmacht kaum mehr zu betrachten und wird das tun, was England will. Die einzige Hoffnung auf eine Aenderung der europäischen Situation beruht in der Möglichkeit einer Wandlung der englischen Politik, eines Zusammenschlusses zwischen England, Russland und Frankreich mit moralischer Unterstützung der Vereinigten Staaten von Amerika, denn nur ein solcher Block kann heute noch der Aggression der Diktaturstaaten erfolgreich Widerstand leisten. Anzeichen für ein Erwachen der englischen öffentlichen Meinung sind vorhanden. Wie schnell sich dieses Revirement auswirken wird, lässt sich natürlich nicht Vorhersagen.

II. Einzelne Länder

1. Deutschland

Die deutsche Judenfrage steht gegenwärtig im letzten Kapitel ihrer restlosen, totalen Liquidation. Die letzten, kümmerlichen ökonomischen Positionen, die gewissen Kategorien der deutschen Juden noch offenstanden, sind in den letzten Monaten vernichtet worden (Aerzte, Handelsreisende etc.), und spätestens im Jahre 1939 wird kaum noch ein Jude in Deutschland irgendeine wirtschaftliche Existenzmöglichkeit haben. Die Hoffnung mancher, dass unter der Wirkung der Münchener Friedensatmosphäre das Dritte Reich bereit sein würde, wenigstens im Flüchtlingsproblem Konzessionen zu machen, scheint sich als trügerisch zu erweisen. Die Saarbrückener Rede Hitlers und viele andere Anzeichen deuten darauf hin, dass in keiner Hinsicht das Dritte Reich irgendwelche Konzessionen England und den anderen demokratischen Staaten gegenüber zu machen bereit ist. Die arrogante Anspielung Hitlers auf die Gouvernantenallüren der englischen Politik gegenüber Deutschland beziehen sich bekanntlich auf die Aeusserungen Chamberlains in Berchtesgaden bezüglich einer Milderung der Politik gegenüber den deutsch-jüdischen Flüchtlingen und zeigen, dass auch in dieser für Deutschland zweitrangigen Frage Hitler keinerlei Konzessionen zu machen gewillt ist. Die Verhandlungen, die das Evian-Comite demnächst mit den deutschen Behörden aufnehmen will, sind meines Erachtens sehr wenig erfolgversprechend. Vielleicht wird es, wenn die Vereinigten Staaten und England einen wirklichen Druck ausüben würden, gelingen, minimale Konzessionen zu erreichen, die aber gegenüber dem Umfang und der Schärfe des Flüchtlingsproblems sehr wenig ins Gewicht fallen werden. Was aus den noch in Grossdeutschland lebenden 300 000 Juden werden soll, ist völlig unausdenkbar, die Phantasie eines Dante kann nicht die Leiden ausmalen, die diesen unglücklichsten Teilen des jüdischen Volks in der allernächsten Zeit bevorstehen.

2. Italien

Die antisemitische Wendung der italienischen Innenpolitik ist in erster Linie eine Folge der Forderung Deutschlands nach einer Gleichschaltung Italiens auch in dieser Richtung und der wachsenden Wut Mussolinis gegenüber den Westmächten. Die antijüdischen Gesetze, die in Italien erlassen worden sind, sind gegenüber den nichtitalienischen Juden totaler und brutaler noch als die analogen Bestimmungen in Deutschland. Was die italienischen Juden selbst betrifft, so sind die Beschlüsse des Grand Conseil Fasciste milder ausgefallen, als man vielleicht befürchtet hat. Die Ausnahmekategorien der Juden, die von keiner Diskrimination betroffen werden, sind sehr erheblich und werden ungefähr 30-40 % der italienischen Juden umfassen. Den anderen 60-70 % wird die Möglichkeit der Existenz als kleine Kaufleute und Handelsangestellte vorläufig belassen. Wie lange die augenblickliche Regelung anhalten wird, ist völlig unsicher. Eine schlechte Laune des Duce genügt, um neue Verschärfungen herbeizuführen, und ausserdem haben die Beschlüsse des Grand Conseil Fasciste mit einer zynischen Tendenz der Erpressung öffentlich erklärt, dass eventuelle weitere Gesetze gegen die italienischen Juden davon abhän-gen würden, wie sich das Weltjudentum gegenüber dem Faschismus verhält. Da das Weltjudentum keinesfalls eine Annäherung an den Faschismus vollziehen kann, so eröffnet diese Erpressungs-Methode sehr gefährliche Perspektiven in bezug auf eine eventuelle Verschärfung der antijüdischen Massnahmen in Italien.

3. Polen

Die antijüdische Politik der polnischen Regierung hat in den letzten Monaten eine gewisse Pause durchgemacht. Die Ursache war einerseits der Wunsch der Regierung, einen Akkord mit den mehr demokratischen Parteien, vor allem mit der Bauernpartei, herbeizuführen und zweitens die wachsenden Schwierigkeiten, die Polen mit seiner deutschen und ukrainischen Minorität hat. Es ist zu befürchten, dass die Verstärkung der prodeutschen Politik Becks mit dem Erfolg, den sie gegenüber der Tschechoslowakei erzielt hat, auch eine Verschärfung der antijüdischen Massnahmen nach sich ziehen kann, insbesondere nachdem es den Anschein hat, dass eine Versöhnung der Regierung mit der Bauern-Partei wenig Chancen hat, was aus dem Boykott der Bauern-Partei gegenüber den Wahlen zum neuen Sejm hervorgeht.

Mildernd auf die antijüdische Politik Polens wird auch in Zukunft das Vorhandensein des deutschen und ukrainischen Minoritätenproblems wirken, zumal beide Probleme sich verschärfen werden; das deutsche infolge der wachsenden Arroganz aller deutschen Minoritäten in Osteuropa, das ukrainische infolge der Aufrollung des ukrainischen Problems durch die karpathorussische Frage, wo die Ruthenen bekanntlich völlige Autonomie bekommen haben, was schon zu den ruthenischen blutigen Demonstrationen in Lwow geführt hat. Nichtsdestoweniger ist die Zukunft der polnischen Judenheit überaus düster. Die wirtschaftliche Ausrottungspolitik gegenüber den Juden, die niemals, auch nicht in den letzten Monaten, irgendeine Unterbrechung erfahren hat, wird fortgesetzt werden. Und Polen wird einen immer stärkeren Druck im Sinne der Regelung des polnisch-jüdischen Problems durch eine massenweise Emigration ausüben. (Ich werde im Schlussteil noch auf die allgemeinen jüdischen Konsequenzen dieser Politik in der nächsten Zukunft zurückkommen.) Die formell noch bestehende jüdische Gleichberechtigung wird immer weiter durchlöchert werden, und die Einführung eines numerus clausus für die Juden in allen Berufen nach ungarischem Muster, wovon polnische Regierungskreise schon seit einiger Zeit sprechen, ist eine durchaus reale Möglichkeit.

4. Baltische Staaten

In den baltischen Staaten (Finnland, Estland, Lettland, Litauen) ist die jüdische Lage heute noch erträglich. Wirtschaftspolitisch wird auch in diesen Ländern, vor allem in Lettland und in Litauen, eine gewisse antijüdische Politik befolgt, und die wachsende Zentralisierung der wirtschaftlichen Aktivität dieser Länder durch staatliche Institutionen und Monopole bedeutet ohnehin die fortschreitende Ausschaltung der Juden aus ihren wirtschaftlichen Positionen. Aber im Vergleich mit Deutschland, Italien, Polen und Rumänien ist die Lage in den baltischen Ländern, wie gesagt, noch erträglich. Ob sie nicht eine Tendenz zur Verschlechterung bald annehmen wird, ist nicht sicher, aber durchaus möglich infolge der wachsenden Furcht vor Deutschland in diesen Ländern und der Notwendigkeit für sie, sich stärker an Deutschland anzulehnen. Schon hat Deutschland Litauen einen Wirtschaftsvertrag angeboten, der faktisch die deutsche ökonomische Prädominanz in Litauen besiegeln würde, was automatisch die wirtschaftliche Vernichtung von Zehntausenden von litauischen Juden zur Folge haben müsste. Andererseits werden diese Länder, soweit es geht, schon infolge des Gegendrucks der Sowjet-Union sich bemühen, eine balancierende Politik der Neutralität zu befolgen, falls ihnen dies gelingen sollte. Sollten sie sich auf einer solchen Linie halten können, so wird das Schlimmste für die Juden dieser Länder vielleicht nicht eintreten. Die Gefahr einer Verschlechterung der jüdischen Lage ist auch in diesen Ländern real gegeben.

5. Rumänien

In Rumänien hatte sich in den letzten Monaten die jüdische Lage etwas entspannt. Der Sturz der Regierung Goga und der Zusammenbruch seiner hitleristischen Judenpolitik (zum grossen Teil mit herbeigeführt durch den vom Weltkongress organisierten Kampf gegen die Gogasche Judenpolitik) war einer der wenigen wirklichen Erfolge jüdischer Politik in den letzten Jahren. Die sehr energische Bekämpfung und Vernichtung der „Eisernen Garde“ durch die jetzige rumänische Regierung hat naturgemäss in dieser Hinsicht auch positiv gewirkt. Leider verblieb als Rest der Goga’schen Judenpolitik das ominöse Gesetz zur Revision der jüdischen Bürgerrechte, welches in Wirklichkeit zur Ausbürgerung von 2-300000 rumänischen Juden führen muss. Die Bemühungen des Jüdischen Weltkongresses um eine Milderung dieses Gesetzes waren nicht aussichtslos. Aber auch hier hat sich die Lage durch die Münchener Vereinbarungen radikal geändert. Rumänien hatte vor München eine Politik der entschlossenen Annäherung an die Westmächte begonnen. Es ist zu befürchten, dass diese Politik revidiert werden wird. Schon spricht man vom Rücktritt des Aussenministers Comnen, der diese Politik vertreten hatte. Rumänien ist jetzt, nachdem die Tschechoslowakei ein deutscher Vasallenstaat werden wird, dem ungeheuren und unmittelbaren Druck Deutschlands unterworfen. Es lässt sich nicht Voraussagen, zu welchen Konsequenzen sowohl in der Aussenpolitik wie in der Innenpolitik Rumäniens dies führen wird, Konsequenzen, die unter Umständen katastrophal für die rumänischen Juden werden müssen. Wie immer auch die Lage sich entwickeln wird, werden doch, fürchte ich, Hunderttausende rumänische Juden ausgebürgert und damit existenzlos werden, werden die anderen, als Bürger anerkannten rumänischen Juden ökonomisch immer mehr aus dem Wirtschaftsleben verdrängt werden und wird die rumänische Regierung zum mindesten eine Politik im Sinne der polnischen treiben; d.h. versuchen, durch Massenemigration das jüdische Problem in Rumänien zu lösen. Schon der jetzige Aussenminister Comnen hatte mehrfach mit mir von seiner Absicht gesprochen, eine internationale Konferenz zur Lösung der jüdischen Emigrationsfrage einzuberufen. Es ist wahrscheinlich, dass diese Bestrebungen in nächster Zeit eine Verstärkung erfahren werden.

6. Tschechoslowakei

Nach dem Münchener Abkommen und durch die Grenzziehung durch die Botschafterkonferenz von Berlin ist die Tschechoslowakei in eine fast vollständige Abhängigkeit von Deutschland geraten, was auch auf dem Gebiete der Politik den Juden gegenüber bald zum Ausdruck gelangen dürfte. Nicht bloss der ausdrückliche Wunsch Deutschlands, sondern auch die allgemeine Disposition eines Volks nach einer schweren Niederlage wird den antisemitischen Kurs fördern. Der reduzierte Lebensraum, der Zudrang der Tschechen zu den liberalen Professionen lässt in Anbetracht der starken Besetzung dieser Berufe durch Juden restriktive Massnahmen gegen diese befürchten, was durch die jüngsten Kundgebungen aus tschechischen Aerzte- und Advokatenkreisen bestätigt wird. Bisher sind noch keinerlei Verfügungen getroffen worden, die irgendeine Diskrimination der jüdischen Staatsbürger beinhalten. Die Massnahmen gegen den Zustrom von Flüchtlingen aus dem von Deutschland okkupierten Gebiet treffen allerdings die Juden besonders schwer. Die tschechische Regierung wird dem antisemitischen Kurs nicht sehr willig folgen, da sie von der Ergebenheit der Juden für die Tschechoslowakei überzeugt ist und ihre wirtschaftliche Bedeutung, besonders wegen ihrer Verbindungen mit der Welt, einzuschätzen weiss. Sie wird trotz der Ausrichtung nach Deutschlands Politik ihre Unabhängigkeit zu wahren suchen, und hierdurch eröffnen sich für das Schicksal der Juden gewisse Perspektiven.

Der Kurs der autonomen Regierung der Slowakei ist scharf antisemitisch. Es ist fraglich, ob das Schicksal der Juden in den strittigen Gebieten der Südslowakei und Karpathoruss-lands besser unter ungarischer oder slowakischer resp. ruthenischer Herrschaft sein wird, obwohl bezüglich des autonomen Regimes in Karpathorussland bisher kein Anlass zu Pessimismus besteht.

Die Zukunft der 360 000 Juden in der Tschechoslowakei ist jedenfalls höchst gefährdet. Durch eine aktive Politik von Seiten des Weltjudentums wird sich aber manches beeinflussen lassen.

7. Ungarn

In Ungarn ist bekanntlich der 20%ige numerus clausus gegen die Juden Gesetz geworden und wird in beschleunigtem Tempo durchgeführt. Es wird keine fünf Jahre dauern, wie es im Gesetz vorgesehen ist, bis dieser numerus clausus realisiert sein wird. Dies bedeutet die wirtschaftliche Depossedierung von etwa 20000 ungarischen jüdischen Familien. Eine Zahl von mehreren Zehntausenden von Juden, die bisher im ungarischen Teil der Slowakei lebten und jetzt zu Ungarn kommen, werden jetzt unter dieses Gesetz fallen. Bei alledem ist noch durchaus unsicher, ob selbst der jetzige antijüdische Kurs der Regierung erhalten bleiben wird. Die Gefahr einer restlosen Nazisierung Ungarns ist heute durchaus vorhanden, infolge der Nachbarschaft des Dritten Reichs. Eine Aenderung der Regierung und die Bildung einer Regierung der „Pfeilkreuzler“ (ungarische Nazis) ist durchaus möglich und würde bedeuten die schnelle Vernichtung der Existenz auch der ungarischen Juden, die vom numerus clausus noch nicht erfasst worden sind.

8. Frankreich

Es ist sehr charakteristisch, dass in einer Aufzählung der Länder mit wachsendem jüdischen Problem heute auch Frankreich zu nennen ist. Die französische Politik, sowohl die Aussen- wie die Innenpolitik, befindet sich in einem Zustande des völligen Chaos. Die Niederlage von München hat nicht nur das gesamte System der französischen Aussen-politik vernichtet, sondern auch innerpolitisch eine völlige Desorientierung geschaffen. Der Riss zwischen den Anhängern einer festen Politik und den Defaitisten, die bereit sind, faktisch auf die französische Grossmachtposition zu verzichten, um vor Angriffen Hitlers geschützt zu sein, geht durch alle Parteien. Die Rechte ist gespalten, und die Linke ist gespalten, mit Ausnahme der Kommunisten, die einheitlich die Linie einer starken Aussenpolitik verfechten. Das zentrale und furchtbare Ereignis der letzten Wochen, welches vielleicht die tiefste Ursache der Niederlage der Westmächte in München war, ist die Haltung der französischen Grossbourgeoisie, die aus Angst vor eventuellen sozialen Revolutionen oder einem Aufstieg der arbeitenden Massen selbst im Falle eines siegreichen Kriegs gegen Deutschland bereit ist, Hitlers Vormachtstellung in Europa zu akzeptieren und bei der Wahl zwischen der nationalen Grossmachtstellung Frankreichs und der -angeblichen - Sicherung ihrer Bankkonten sich für die Bankkonten entschieden hat. Die Politik, die Herr Bonnet, der Hauptschuldige an den Vorgängen, die zu München geführt haben, betrieben hat, war diktiert durch die französische Schwerindustrie, worunter auch die jüdische Grossfinanz in Frankreich (vor allem die Bank Lazard Freres) zu verstehen ist. Die Folge des Münchener Abkommens ist ein ungeheures Gefühl der Bestürzung und vielfach auch der Scham in weiten französischen Kreisen. Diese Kreise suchen nach einem Sündenbock und finden ihn natürlich in den Juden. Die antisemitische Propaganda in Frankreich, geführt von dem Teil der Rechten, der bereit ist, vor Hitler zu kapitulieren, nimmt bedrohliche Formen an, und die innere Zerrissenheit der französischen Innenpolitik ist so gross, dass faschisierende Tendenzen natürlicherweise in Frankreich um sich greifen und die Gefahr eines faschistischen Coup d’Etat nicht ganz ausgeschlossen ist. Wenn ich nicht an die Unmittelbarkeit dieser Gefahr heute glaube, so geschieht es, weil ich annehme, dass die französische Armee und der französische Generalstab sich dem widersetzen wird, und in dem Chaos der französischen Innenpolitik ist die Armee und der Generalstab die letzte starke und nicht demoralisierte Institution. Aber faschisierende Tendenzen werden sich bestimmt in den nächsten Monaten in Frankreich breit machen und werden, wie dies überall der Fall war, am wirksamsten mit der antisemitischen Parole Propaganda machen. Wenn auch nicht anzunehmen ist, dass sehr schnell ein wirkliches akutes Judenproblem in Frankreich entstehen wird - ausgeschlossen ist auch das nicht -, so wird jedenfalls der französische Antisemitismus in der nächsten Zukunft sehr heftige Formen annehmen, und die Abwehr der antisemitischen Attacken wird eine der dringlichsten Aufgaben der jüdischen Politik sein.

9. Schweiz

Auch in der Schweiz ist mit einem steigenden Antisemitismus zu rechnen. Dieses kleine Land, eingezwängt zwischen Italien und Deutschland, von drei Seiten umfasst von diesen Mächten, lebt in einer Panik vor den Diktatoren. Die Schweizer Demokratie ist zwar fest gegründet, und vielleicht in keinem europäischen Lande hat man den absurden und beschämenden Jubel der Westmächte in den ersten Tagen nach München so wenig mitgemacht wie in der Schweiz, bis weit in ihre reaktionären Kreise hinein. Aber die Schweiz fühlt sich begreiflicherweise ziemlich hilflos gegenüber den Diktatoren, insbesondere nach den Erfahrungen der Tschechoslowakei. Die Folge ist eine wachsende Aengstlich-keit, ausgedrückt in dem Wunsch nach einer peinlichen Neutralität, auch in der geistigen und moralischen Haltung, die den Diktaturmächten keine Angriffsflächen bieten will. Selbstverständlich wird sich dies auch auf die Lage der Juden in der Schweiz auswirken, die, wenn auch nicht unmittelbar bedroht sind, so doch vielfach Angriffen in nächster Zeit ausgesetzt sein dürften.

III. Resume

Dieses flüchtig skizzierte Bild (wobei ich Holland und Belgien sowie die skandinavischen Staaten, in denen jetzt noch stärkere antisemitische Erscheinungen nicht zu verzeichnen sind, obschon auch sie durch den wachsenden Druck Deutschlands nicht ausgeschlossen sind, ausgelassen habe) gibt eine Vorstellung von der jüdischen Lage in Europa. Das einzige europäische Land vielleicht, in dem die jüdischen Rechte vorläufig erhalten erscheinen, ist England. In allen anderen europäischen Ländern gibt es bereits eine Judenfrage in den tragischsten Formen, und in den wenigen Ländern, in denen sie noch nicht existiert, kann sie sehr schnell akut werden. Um dies kurz zu resümieren, ist in der nächsten Zukunft mit folgenden Gefahren zu rechnen:

a) Anwachsen des Antisemitismus in seinen brutalsten Formen, begleitet von Exzessen, von einer diffamierenden und vor nichts zurückschreckenden Agitation (es gibt schon heute sehr populäre Zeitschriften in Frankreich, die in ihren perfiden Angriffen gegen die Juden sich wenig mehr von der deutschen Presse ä la „Stürmer“ unterscheiden);

b) Verstärkung der antijüdischen Politik der osteuropäischen Regierungen durch wirtschaftliche Depossedierung der Juden und durch einen steigenden Druck zur Emigration, die Möglichkeit einer internationalen Aufrollung der Judenfrage durch die osteuropäischen Länder, unterstützt durch Deutschland und Italien, ist heute durchaus real. Bei der antizionistischen Haltung der totalitären Staaten einerseits und der schwächlichen Palästinapolitik Englands andererseits ist die Lösung der jüdischen Emigrationsfrage im Sinne der Palästina-Lösung sehr unwahrscheinlich. Woran die osteuropäischen Mächte, insbesondere Polen und Rumänien, heute denken, ist die Bereitstellung irgendeines entfernten afrikanischen oder amerikanischen Territoriums für jüdische Massenemigration, und ein derartiger Druck auf die Juden in den Ostländern bewirkt, dass sie auch unter den ärgsten Bedingungen in ein etwaiges solches Territorium auszuwandern bereit sein würden;

c) die Faschisierung oder Nazisierung von europäischen Ländern, die heute noch faktisch oder nominell Demokratien sind, und die damit verbundene automatische Entrechtung und Vernichtung der Judenheit dieser Länder.

IV. Vorschläge für unsere Aktionen

Diese jüdische Lage in Europa erfordert naturgemäss

a) eine Abwehr- und Verteidigungsaktion seitens des selbstbewussten Teils des jüdischen Volks in einem unendlich viel grösseren Ausmass, als es bisher der Fall war. Mit den kleinen Mitteln und Mittelchen der jüdischen Politik kann man gegen diese ungeheuerlichen Gefahren nicht mehr ankämpfen. Klar ist, dass die Methoden der jüdischen Nota-belnpolitik durch Stillsein und Sichtotstellen, das Vorhandensein einer Judenfrage vergessen zu lassen oder durch die guten Beziehungen zu nichtjüdischen Persönlichkeiten hie und da eine Milderung herbeizuführen, völlig gescheitert sind; die Fortsetzung dieser Methoden angesichts dieser Lage wäre absurd und lächerlich. Aber auch die mutigeren Methoden, vor allem der diplomatischen Interventionen und des politischen Kampfs, mit denen der Jüdische Weltkongress gearbeitet hat, genügen heute nicht mehr. Sie müssen fortgesetzt werden, aber sie müssen entscheidend ergänzt und umgebaut werden. Was notwendig ist, ist Folgendes:

b) Die Erweckung des Willens zum Kampf für unsere Existenz in den breiten Massen unseres Volks. Die grösste Gefahr, die uns heute droht, sind nicht einmal die Attacken unserer Gegner, sondern das wachsende Gefühl der Verzweiflung in weiten Teilen des jüdischen Volks. Die grossen jüdischen Massen sind von einem Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit beherrscht, und darin liegt die wirkliche Gefahr, denn nur wenn ein Volk den Kampf aufgibt und zu seinem Untergang resigniert mit den Schultern zuckt, ist die Gefahr seines wirklichen Untergangs vorhanden. Der Kampfesgeist im jüdischen Volk muss geweckt und gestärkt werden. Dazu ist notwendig die Organisierung einer jüdischen Selbstschutzbewegung. Juden müssen bereit sein, gegen Exzesse sich zu verteidigen und etwas von dem Geiste des palästinensischen Judentums bekommen. Das russische Judentum vor dem Krieg kannte eine solche Selbstschutzbewegung, die nicht nur oft praktische Erfolge hatte in der Abwehr von Exzessen, sondern auch vor allem moralisch das Rückgrat und den Existenzwillen der russischen Judenheit gestärkt hatte.

c) Organisierung eines gross aufgezogenen Abwehrkampfs gegen die antisemitische Propaganda. Dies kann nicht geschehen durch noch so kluge Artikel in der jüdischen Presse, die für diese Zwecke völlig unwichtig ist, sondern durch die Benützung der nichtjüdischen Presse, durch Broschüren, Aufrufe etc., die aber alle von nichtjüdischer Seite kommen müssen. Es wird nötig sein, die Kooperation mit den demokratischen Kräften in der Welt, die noch vorhanden sind, sowohl in den West- wie auch in den Ost-Staaten - insbesondere z.B. auch in Polen - auszubauen. Durch Kompromisse mit den totalitären Staaten ist für uns nichts mehr zu erreichen. Wenn noch Zweifel daran bestanden haben, so muss das italienische Beispiel sie endgültig zerstreut haben. Unsere Rettung liegt in dem Siege der Demokratie, und da der wirkliche Entscheidungskampf zwischen den Diktaturen und den Demokratien nicht ausgetragen ist - München war nur ein Vorgefecht, welches die Demokratien verloren haben so kann unsere Politik nur in einer wachsenden Zusammenarbeit und in einem gemeinsamen Kampf auf Seiten der demokratischen Kräfte in der Welt bestehen. Dafür sind hundert Möglichkeiten vorhanden, und ebenso wie wir erkennen, dass wir die Hilfe der demokratischen Parteien und Kräfte benötigen, verstehen auch diese Parteien, dass sie die Kooperation der jüdischen Welt brauchen. Es mehren sich immer stärker die Angebote und Aufforderungen seitens solcher Parteien und Gruppen zwecks einer Zusammenarbeit mit ihnen.

d) Fortsetzung der diplomatischen Interventionen unter immer stärkerer Ausnützung der öffentlichen Meinung der Welt. Trotz allem sind Staaten wie Polen, Rumänien, Ungarn etc. noch immer empfänglich für den Druck der westeuropäischen und vor allem amerikanischen Oeffentlichkeit, und dieses Kampfmittel muss in Zukunft noch viel stärker ausgenutzt werden als bisher.

e) Inangriffnahme des jüdischen Emigrationsproblems durch uns. Das Problem lässt sich nicht aus der Welt schaffen, und es wäre gefährlich, wie in allen politischen Fragen, die Initiative zu seiner Lösung den Gegnern zu überlassen. Wie immer sich auch das Schicksal Palästinas gestalten wird, wird es ein dringendes jüdisches Emigrationsproblem in Europa geben. Es gibt auch Möglichkeiten einer positiven Lösung, aber wir müssen sie in die Hand nehmen. Ich denke dabei nicht an die Beschäftigung mit den individuellen Fällen der Emigration, Aufgabe, die die Hicem und andere jüdische Organisationen erfüllen, sondern es handelt sich um die allgemeine und politische Inangriffnahme des Problems durch Verhandlungen mit den Emigrations- und Immigrationsländern, durch das Studium internationaler Finanzmethoden und die Verhinderung, dass diese Frage zu einem der wichtigsten Instrumente der antijüdischen Politik in der Welt wird.

Bei der Gestaltung der so skizzierten Arbeit sei eine Bemerkung hier gemacht: Immer mehr und mehr rückt der Schwerpunkt der jüdischen Politik und Verteidigung heute nach den Vereinigten Staaten von Amerika. Das amerikanische Judentum ist das einzige grosse Judentum, welches noch in vollem Besitz seiner Kraft und Positionen ist. Wenn es nicht die Führung im jüdischen Verteidigungskampf übernimmt, dann wird es der historischen Aufgabe, die ihm die jetzige Situation auferlegt, untreu, und es braucht nicht gesagt zu werden, dass der völlige Zusammenbruch des europäischen Judentums, der eintreten könnte, wenn wir versagen, auch die Position des amerikanischen Judentums nicht unerschüttert lassen kann. Das Gesetz der jüdischen Solidarität, wonach es letzten Endes ein gemeinsames Schicksal geben wird für alle Juden der Welt - alle frei oder alle Parias - hat sich niemals so konkret bestätigt wie in den tragischen Ereignissen der letzten Jahre. In der Organisierung des Kampfs, wie er hier skizziert wurde, muss das amerikanische Judentum den entscheidenden Anteil tragen, sowohl politisch und geistig wie auch finanziell. Die Arbeit, wie sie hier skizziert wird, ist nur zu machen, wenn grosse Geldmittel zur Verfügung stehen, ganz andere Mittel als die armseligen Budgets, mit denen der Weltkongress bisher schlecht und recht operiert hat. Sind diese Mittel nicht zu beschaffen, so ist der Kampf, wie er hier dargelegt ist, nicht zu organisieren. Aber ich kann nicht glauben, dass es nicht möglich sein soll, unter der Wucht der Schläge, die wir in den letzten Jahren und vor allem in den letzten Wochen erlitten haben, dem amerikanischen Judentum zum Bewusstsein zu bringen, dass es ganz andere Mittel für die Lösung des politischen Kampfs zur Verfügung stellen muss. Philantropie ist sehr nützlich und rettet viele einzelne jüdische Existenzen; für die Gestaltung des jüdischen Gesamtschicksals ist sie völlig unerheblich. Die Zukunft des jüdischen Volks in Europa und damit überall in der Welt wird nur zu sichern sein durch einen gross geführten politischen Kampf in enger Anlehnung an die fortschrittlichen und demokratischen Kräfte in der Welt. Ein solcher Kampf macht uns zu einem Bundesgenossen in diesen Zeiten der Vorbereitung und in dem Moment der grossen Auseinandersetzung zwischen den fortschrittlichen Kräften in der Welt und den totalitären Staaten, die früher oder später kommen muss und wahrscheinlich sehr viel schneller kommen wird, als es mancher annehmen mag. Nur ein solcher Kampf wird unsere Rechte und unser Schicksal sicherstellen für diese grosse Auseinandersetzung, aber auch nur ein solcher Kampf wird dem jüdischen Volke, soweit es den Willen zur Existenz noch besitzt - und dazu gehört glücklicherweise noch die grosse Majorität der Juden in der Welt -, das Bewusstsein geben, dass es noch nicht verloren ist. Es wird die Depression und die Verzweiflung, die unsere Existenz heute moralisch bedrohen, überwinden lassen und den jüdischen Massen den Willen zum Kampf geben - und solange ein Volk kämpft, ist es nicht verloren.

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