Artikel im „Jüdischen Volksblatt“
Am 8. Oktober 1938 berichtet das Jüdische Volksblatt über die Situation der Juden in den Grenzgebieten der Tschechoslowakei:
Juden in den Grenzgebieten der Tschechoslowakei
Die territorialen Veränderungen, welche die neue Grenzziehung bereits vollbrachte und die, welche voraussichtlich nach dem Abschluß des Plebiscits und der Verhandlungen mit Ungarn noch vollzogen werden müssen, betreffen auch einen keineswegs unbedeutenden Teil der jüdischen Bevölkerung der Tschechoslowakei.
Bei der Betrachtung der diesbezüglichen Bevölkerungszahlen müssen wir die drei hier in Betracht kommenden fremdsprachigen Gebiete (das deutsche, polnische und ungarische) unterschiedlich behandeln. Zwar fallen alle diese drei Gebiete an Staaten, welche eine judenfeindliche Politik betreiben, doch wird der dort den Juden bevorstehende Leidensweg ein verschiedener sein. Dementsprechend wird voraussichtlich auch die Reaktion der Juden dieser Gebiete auf das sie dort erwartende Schicksal und die Entscheidung darüber, ob sie ihre alte engere Heimat behalten oder den Wanderstab ergreifen sollen, sehr verschieden ausfallen.
In dieser Hinsicht wird für die Juden zweifelsohne die schicksalsschwerste Aufgabe das deutschsprachige Gebiet von Böhmen und Mähren darstellen. Zahlenmäßig leben im deutschsprachigen Gebiet der historischen Länder weniger Juden als im ungarischsprachigen Gebiet der Slowakei. Die aber im deutschsprachigen Gebiet die Juden erwartende Zukunft bedeutet für sie eine solch eindeutige und rasche Vernichtung jeder weiteren Existenzmöglichkeit, daß man kaum mit dem Verbleiben einer größeren Zahl der in diesen Gebieten seit vielen Jahrhunderten ansässigen Juden rechnen kann.
Es sind insgesamt 50 politische Bezirke in Böhmen (40 Bezirke) und Mähren (10 Bezirke), in denen die Volkszählung vom Jahre 1930 eine überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung (von 98,8 in Graslitz bis 57,9 in Brüx) zeigte. In diesen 50 Bezirken lebten vor acht Jahren fast 2,5 Millionen Deutsche (heute somit ungefähr um 150 000 mehr) und neben ihnen eine bedeutende tschechische Minderheit von einer halben Million Seelen und eine zahlenmäßig ganz kleine jüdische Minderheit von 24000 Seelen (genau schon mit den Ausländern 23 925). Diese jüdische Minderheit verteilte sich ihrerseits nach ihrer nationalen Orientierung auf 5345 Nationaljuden und 17580 solche, die sich zur deutschen Nationalität (zirka 15 000), bzw. zur tschechischen Nationalität bekannten.
Aus den vorliegenden Zahlen ist ersichtlich, daß außerhalb des deutsches Siedlungsgebietes mit einer überwiegend deutschen Mehrheit noch eine stattliche Zahl Deutscher in der Republik leben, welche erst auf dem Wege der Option und des Bevölkerungsaustausches in das deutsche Siedlungsgebiet werden gelangen können. Solche Deutsche gab es im Jahre 1930 in Böhmen und Mähren gegen 600 000, und weitere 100 000 lebten in der Slowakei und Karpathorußland. Abgesehen von diesen letzten Deutschen, die kaum in bedeutender Zahl ihre heutigen Heimatorte werden wechseln wollen, ist mit einem Bevölkerungsaustausch der halben Million Tschechen mit einen Großteil der deutschen Minderheit, die heute außerhalb der 50 deutschen politischen Bezirke ansässig ist, zu rechnen.
Mit voller Bestimmtheit ist aber mit der Umsiedlung der großen Mehrheit der 24000 Juden aus dem an Deutschland übergehenden Gebiet zu rechnen.
Das an Polen bereits abgetretene Gebiet bedeutet für den Staat zwar einen ernsten wirtschaftlichen Verlust, ist aber nach seiner Größe und geopolitischen Lage ziemlich unwichtig im Vergleich mit dem Sudetenland. Eigentlich gab es in der Republik nur einen einzigen politischen Bezirk mit einer polnischen Mehrheit: Tschechisch-Teschen, wo die Polen 51,8 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. In diesem Bezirk bilden die Polen eine größere Mehrheit nur in Jablonkau (67,1 Prozent). Im zweiten Bezirk mit einer bedeutenden polnischen Bevölkerung (Frystat) sind die Tschechen in der Mehrheit (63,7 Prozent); die Polen bilden dort eine relative Mehrheit (47,8 Prozent) nur in Karvions gegenüber den Tschechen mit ihren 44,6 Prozent. Ein klassisches Bild eines gemischtsprachigen Gebietes, wo eine territoriale Abgrenzung der ethnischen Gruppen in der Tat nur die Aufhebung des formellen Minderheitenzustandes für einen Teil, gleichzeitig aber die Schaffung desselben Zustandes für den anderen Teil bedeutet.
In diesen zwei Bezirken lebten im Jahre 1930 nur 2,5 Tausend Juden. Obwohl Polen im Vergleich mit der Tschechoslowakei sowohl in seiner Judenpolitik als auch in seinen allgemeinen Wohlstandsverhältnissen unvergleichlich ungünstiger steht, ist kaum zu erwarten, daß ein größerer Teil der Juden der abgetretenen Gebiete ihre Wohnorte verlassen werden, um in der Tschechoslowakei oder anderswo neue Ansiedlungs- und Existenzmöglichkeiten zu suchen.
Die Frage der Regelung der Beziehungen zu Ungarn befindet sich derzeit noch in der Schwebe. Es steht noch nicht fest, ob hier eine Grenzrevision unternommen werden wird und in welchem Ausmaße. Die Volkszählung vom Jahre 1930 zeigt uns hier 13 Bezirke in der Slowakei und einen in Karpathorußland (Berehovo) mit einer ungarischen Bevölkerungsmehrheit (zwischen 87,6 und 55,6 Prozent). Die Gesamtbevölkerung dieser 14 Bezirke betrug 640000 (heute zirka 700000). Davon waren im Jahre 1930 445 000 Ungarn und 31000 Juden. Von diesen Juden bekannten sich 22,5 Tausend zur jüdischen Nationalität. Ein Drittel war somit bereits assimiliert und zum Großteil magyarisiert. Obwohl Ungarn vor kurzem einen scharfen antijüdischen Kurs, insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet, eingeleitet hat, ist doch kaum zu erwarten, daß bei einer eventuellen neuen Grenzziehung viele Juden sich entschließen werden, ihre Wohnorte zu wechseln.
Auf Grund dieser Statistik und Betrachtungen gelangen wir zu dem Schluß, daß wir nach der Festlegung der neuen Grenzen der Republik mit einem Verlust von nur einem Teil der jüdischen Bevölkerung der fremdsprachigen Grenzgebiete zu rechnen haben. Die Gesamtzahl der Juden, die in den fremdsprachigen Gebieten leben, beträgt 56 000 bis 57000 Seelen. Es ist zu erwarten, daß gegen 25 000 Juden in ihren bisherigen Wohnorten verbleiben werden, und somit wird sich das Problem der Uebersiedlung und Einordnung von ungefähr 30 000 Seelen (7000 bis 8000 Familien oder Wirtschaften) stellen.
Hier wird die jetzige soziale und berufliche Struktur der für die Umsiedlung in Betracht kommenden jüdischen Bevölkerung von großer, ja entscheidender Bedeutung sein.
Die 24 000 jüdischen Menschen aus dem Sudetenland lebten bisher hauptsächlich in den größeren städtischen Gemeinden. Nur in den 29 Städten mit mehr als 10 000 Seelen lebten über 10 000 Juden. Wir haben es somit, wie überall in den historischen Ländern, mit einem politischen und sogar großstädtischen Element zu tun. Auch in ihrer sozialen und beruflichen Struktur werden sich diese 24000 Juden kaum vom allgemeinen Bild der Westjuden unterscheiden. Genaue Daten liegen leider nicht vor, weil die amtliche Statistik nur die Nationaljuden, nicht aber sämtliche Juden nach ihrer beruflichen und sozialen Struktur berücksichtigt. Angenommen, sämtliche Juden zeigen in dieser Hinsicht ein den Nationaljuden ähnliches Bild, so erhalten wir aus einer Stichprobe in 10 größeren Städten mit 3283 nationaljüdischen Einwohnern (also über 3/s aller Nationaljuden im gesamten Gebiet) folgende interessanten Zahlen: Von 1754 Berufstätigen waren volle 1000 Selbständige (Unternehmer), 311 Beamte, 320 Angestellte und 123 Arbeiter, Taglöhner und Lehrlinge. Vom Stadtpunkt der sozialen Stärke kann man somit mit großer Wahrscheinlichkeit bei der Umsiedlung der sudetendeutschen Juden mit einem mehr oder weniger wohlhabenden Element rechnen, welches aber gewisse Mittel für die Einordnung in die neuen Siedlungsorte verfügt. Ungünstiger sieht von diesem Standpunkt die berufliche Struktur dieser Juden aus. Dies zeigt eine weitere Stichprobe: Von den 1000 Selbständigen waren in der Industrie nur 89 Personen tätig. In den freien Berufen 77 und im Warenhan del ganze 414 Personen. Von allen Berufstätigen waren tätig: 228 in der Industrie, 601 im Warenhandel und 124 in den freien Berufen.
Vor der jüdischen Gemeinschaft wird hier offenkundig eine ernste Aufgabe der Umschichtung, und zwar in der Richtung des Ueberganges vom Warenhandel in die Industrie, stehen. Nur als bahnbrechende Unternehmer in für die anderen Gebiete der Republik notwendigen neuen Industriezweigen können sich die Juden aus dem sudetendeutschen Gebiet bewähren und als erwünschte Mitbürger in den neuen Orten Aufnahme finden.