Menü
Chronik und Quellen
1938
Oktober 1938

Artikel im „Jewish Chronicle“

Am 7. Oktober 1938 veröffentlich „The Jewish Chronicle“ in London folgenden Artikel vom über die Situation der Juden nach dem deutschen Einmarsch ins Sudetenland:

Juden fliehen aus dem Sudetenland. Nazis attackieren jüdische Geschäfte.
Appell an Lord Halifax. Zusicherungen der tschechischen Regierung

In den vergangenen Tagen sind Flüchtlinge, Juden und Nichtjuden, aus dem Sudetenland nach Prag geströmt und stellen so die Tschechoslowakei vor ein weiteres Problem. Der jüdische Gemeindeausschuss und jüdische Hilfsorganisationen in Prag geben ihr Äußerstes, um mit ihren begrenzten Mitteln der Masse der Flüchtlinge zu helfen.

Zionistische Einrichtungen und das Büro der Hicem werden von Juden belagert, die sich nach Auswanderungsmöglichkeiten erkundigen.

Eine der letzten Amtshandlungen der tschechischen Behörden in Eger war die Freilassung von 17 Juden, die von Henleins Sturmtruppen in Marienbad verhaftet worden waren. Die tschechischen Behörden halfen den Juden, wo sie nur konnten, um deren persönlichen Besitz zu retten.

Wie man hörte, sind viele Synagogen im Sudetenland der Obhut nichtjüdischer Verwalter übergeben worden, nachdem die Schriftrollen und alle sakralen Gegenstände nach Prag geschafft worden sind.

Kurz nach dem Einmarsch der deutschen Truppen machten sich Nazi-Randalierer einen Spaß daraus, jüdische Geschäfte in Karlsbad, Eger, Franzensbad und ändern Städten zu verschandeln. Zahlreiche Schaufenster wurden eingeschlagen. Es wird über eine Reihe von Selbstmorden unter den Juden im Sudetenland berichtet. Dr. Rudolf Lederer, ein Teplitzer Anwalt, sprang vom Aussichtsturm auf dem Proschwitzer Kamm in der Nähe von Gablonz. Ein Dr. Sabat in Staab bei Pilsen vergiftete sich gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern.

Das erste Konzentrationslager

Wie der News Chronicle meldet, ist im Kreis Tetschen-Bodenbach, im ehemaligen Schloss des Grafen Thun, ein Konzentrationslager eingerichtet worden. Demokraten wurden aus ihren Häusern dorthin verschleppt, ihr Schicksal ist ungewiss.

Die Jewish Telegraphie Agency berichtet, dass Rev[erend] M. L. Perlzweig im Namen der Führung des Jüdischen Weltkongresses einen dringenden Appell an Außenminister Lord Halifax gerichtet hat, in dem er diesen darum bittet, die Interessen der jüdischen Bevölkerung in den evakuierten Gebieten zu schützen. In dem Gesuch wird noch einmal daran erinnert, dass im Anschluss an das Abkommen zur Evakuierung des Saargebiets den Juden hinreichend Gelegenheit gegeben wurde, ihre Angelegenheiten zu regeln und ihren Besitz mitzunehmen. Man drängt nun darauf, der jüdischen Bevölkerung des Sudetenlandes ähnliche Möglichkeiten zuzugestehen. (Über Hilfeaufrufe für das neue Heer der Enteigneten wird unter der Rubrik „Flüchtlinge“ in dieser Ausgabe berichtet.)

Bis Donnerstag vergangener Woche blieben von der ursprünglich ansässigen jüdischen Bevölkerung nur 2000 Menschen im abgetretenen Gebiet zurück, heißt es bei der /. T.A. Ob überhaupt irgendwelche Juden dort bleiben möchten, erscheint fraglich. Diejenigen, die dies beabsichtigen, können dem Völkischen Beobachter mit Erleichterung entnehmen, dass „es im direkten Widerspruch zu den Prinzipien des NS-Staats steht, Minderheiten zu unterdrücken, wie bereits tausendfach durch die Behandlung von Minderheiten auf deutschem Gebiet bewiesen wurde“, und dass deshalb die tschechischen Minderheiten im Sudetenland „nicht den Verlust ihrer Rechte zu befürchten haben“. Womöglich werden sie es aber vorziehen, den Worten der Nazis keinen Glauben zu schenken.

10 000 Juden befinden sich noch im Sudetenland, in dem gemäß dem Münchener Abkommen eine Volksabstimmung stattfinden soll. Wie schon im Saarland geht man da-on aus, dass der Vermögenstransfer und der Verkauf von Land und Immobilien in diesen Gebieten gestattet werden. Die Absicht, das Gebiet zu verlassen, muss innerhalb von sechs Monaten nach dem Volksentscheid angekündigt werden, und diejenigen, die beabsichtigen auszureisen, müssen dies binnen eines Jahres tun. In dieser Zeit sind keinerlei Maßnahmen gegen Personen auf Grund ihrer Rasse, Religion oder Sprache zulässig.

Zusätzlich zur Misere der sudetendeutschen Juden hat auch eine Vielzahl von Juden in den tschechischen und slowakischen Gebieten schwere Verluste erlitten. Viele von ihnen unterhielten geschäftliche Verbindungen zu den sudetendeutschen Gebieten. Andere, darunter Handlungsreisende, haben nun ihre Anstellung bei Firmen verloren, die in erster Linie oder ausschließlich mit dem Sudetenland zu tun gehabt haben.

Es heißt, dass unter den 250 000 Bewohnern des tschechischen Landkreises Teschen, die nun polnische Staatsangehörige werden, auch 1000 Juden seien. Diese leben hauptsächlich in den Städten Teschen und Bohumin. Ob von ihnen jemand vorhat, ins tschechische Gebiet auszuwandern, ist nicht bekannt.

Berichten zufolge beansprucht Ungarn jetzt nicht nur ungarisch geprägte Gebiete, sondern auch das gesamte Gebiet von Bratislava bis einschließlich Uschhorod, in dem eine große Anzahl von Juden lebt.

Inmitten dieses ganzen Tumults innerer Umbrüche ist es gut zu erfahren, dass das tschechische Kabinett unter Führung von General Sirovy gegenüber den Juden die Erklärung des vorherigen Kabinetts von Dr. Hozda bestätigt hat, indem er ihnen zusicherte, er sei entschlossen, die Gleichheit aller Bürger, ungeachtet ihrer Rasse und Religion, zu gewährleisten.

Baum wird geladen...