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Chronik und Quellen
1938
August 1938

Bericht an den Joint

In einem Bericht an den Joint resümiert ein Unbekannter am 25. August 1938 die Situation der Juden in Deutschland:

Ich werde im Folgenden versuchen, kurz die Situation der Juden in Deutschland zu beschreiben. Dies kann nur in allerkürzester Form geschehen, denn wollte man detailliert alle Anordnungen und Maßnahmen wiedergeben, müsste man ein ganzes Buch darüber schreiben.

Seit dem Anschluss Österreichs hat sich die Situation der Juden in Deutschland von Woche zu Woche verschlechtert. Auf dem Land und in den kleineren Städten, insbesondere in Hessen, Franken und Ostpreußen, sah die Situation bereits vor der Annexion sehr schlecht aus. In größeren Städten wie Berlin, Hamburg, Frankfurt a.M., Leipzig usw. war die Lage bis zum vergangenen Osterfest gar nicht so schlecht; im Vergleich zu heute könnte man sogar sagen, sie sah noch geradezu rosig aus. Bis zu diesem Zeitpunkt konnten die Juden in den Großstädten noch ungehindert in Restaurants, Cafes und Kinos gehen. Sie wurden nicht auf der Straße belästigt und führten ein mehr oder weniger normales Leben. Wie den folgenden Ausführungen zu entnehmen ist, hat sich die Lage jedoch völlig verändert:

Vor ungefähr zehn Wochen wurden überraschend Razzien in solchen Cafes durchgeführt, die von Juden besucht werden, und diese dabei verhaftet. Parallel dazu fand im ganzen Reich eine Serie von Verhaftungen statt, deren Opfer man in das Konzentrationslager Buchenwald in der Nähe von Weimar brachte. Es war nicht möglich, die genaue Anzahl der Juden festzustellen, die sich dort gegenwärtig befindet, aber es handelt sich schätzungsweise um 1700-1800 Personen. Unter ihnen sind auch Männer, die über 60 Jahre alt und noch älter sind. Es war auch nicht möglich herauszufinden, wer diese Verhaftungen veranlasst hat. Die Gestapo behauptete, nichts damit zu tun zu haben. Andere Behörden behaupteten dasselbe. OfFenbar ist dieses Mal die Initiative direkt von der Kriminalpolizei ausgegangen, auf Anweisung des obersten Chefs der Polizei - Himmler. Bis vergangene Woche sind mehr als 170 Gefangene in Buchenwald gestorben. In solchen Fällen erhält die Familie eine Postkarte, die sie davon in Kenntnis setzt, dass die Urne mit der Asche des Verstorbenen gegen eine Gebühr zugesandt werde. Es hat den Anschein, dass nur sehr wenige der Verstorbenen Selbstmord begangen haben. Viele von ihnen waren nicht für die harte Arbeit geschaffen, die sie verrichten mussten, und brachen schlichtweg zusammen. Andere wurden erschossen, weil sie versucht hatten zu fliehen. Gefangene, die nachweisen können, dass sie bereits Schritte zur Auswanderung unternommen haben, werden unter der Bedingung entlassen, das Land binnen weniger Wochen zu verlassen. Infolgedessen werden der Hilfsverein und die anderen humanitär engagierten jüdischen Organisationen und Privatpersonen von morgens bis abends von den Frauen der unglücklichen Gefangenen belagert. Die Frauen flehen voller Verzweiflung darum, ihren Ehemännern bei der Emigration zu helfen, damit sie entlassen werden können. Wie die Behandlung der Gefangenen in Buchenwald aussieht, kann man sich anhand der Tatsache vorstellen, dass einige von ihnen, die ich nach ihrer Freilassung traf, in den sechs Wochen ihrer Inhaftierung 30-40 Pfund abgenommen haben. An einem Tag bekamen sie nichts zu essen, am nächsten nichts zu trinken. Es heißt, dass sich die Lage in der letzten Zeit verbessert haben soll, dass es häufiger etwas zu essen gibt und die Gefangenen nicht so häufig wie zuvor geschlagen werden. Ob diese Behauptung richtig ist, lässt sich nicht überprüfen.

Was das Vorleben der 1700 Gefangenen betrifft, so haben 20 Prozent von ihnen nicht die kleinste strafbare Handlung begangen. Sie wurden verhaftet, weil sie die Straße nicht vorschriftsmäßig überquert haben, wofür sie ein geringes Bußgeld zahlen mussten, oder auf Grund irgendwelcher ähnlicher Verstöße. 40 Prozent von ihnen haben vor 20 bis 30 Jahren eine Strafe absitzen müssen. Mir sind ein paar Fälle bekannt, in denen diese Strafen dafür verhängt wurden, dass man während des Kriegs zu viele Vorräte gelagert hatte. 40 Prozent haben in der Vergangenheit wirklich eine Straftat begangen. Gleichzeitig mit der Verhaftungswelle begannen vor zehn Wochen die Ausschreitungen gegen alle jüdischen Betriebe. Scheiben wurden eingeschlagen, Eingangstüren von Burschen aus der Hitlerjugend bewacht, sodass niemand hereinkommen konnte. Infolgedessen wurden viele Geschäfte für ein paar Tage geschlossen. Derartige Aktionen wurden dann gestoppt, die Schmierereien von den Schaufenstern und Ladentüren entfernt. Es erging jedoch die Anordnung, dass jedes jüdische Geschäft mit dem Namen seines Besitzers in 20 Zentimeter großen, weißen Buchstaben auf dem Schaufenster beschriftet werden muss. Tatsächlich tauchen diese Aufschriften überall auf und sind schon von Weitem zu sehen.

Es soll vermerkt werden, dass die Öffentlichkeit von diesem Vorgehen nicht wirklich angetan war, aber natürlich wagte niemand, etwas dagegen zu sagen.

Die Arisierung der jüdischen Geschäfte schreitet überall voran. Infolgedessen werden immer mehr jüdische Angestellte entlassen. Es ist bezeichnend, dass in vielen Fällen der Verkaufsvertrag für ein großes jüdisches Unternehmen zwar schon ausgestellt worden ist, die Behörden aber ihre Einwilligung nicht geben. Man gewinnt den Eindruck, als würde sich niemand trauen, etwas zu unterzeichnen. Nehmen wir einmal als Beispiel das große Geschäft N. Israel und die Zigarettenfabrik Garbathy. Die Verhandlungen waren bereits abgeschlossen, aber die Genehmigung fehlte noch. Die betreffenden Beamten scheinen zu befürchten, dass die Partei sie desavouiert und maßregelt, sollten sie die Genehmigung erteilen.

Zum 15. September werden über 3000 jüdische Ärzte ihre Zulassung verlieren. In Berlin wird man 175-200 ehemaligen jüdischen Ärzten erlauben, als „Krankenbehandler“ jüdische Patienten zu behandeln. Verhandlungen darüber finden derzeit noch statt. Den Ärzten am Jüdischen Krankenhaus wird zwar gestattet, dort weiter zu praktizieren, aber sie dürfen keine Patienten in ihren Privatwohnungen empfangen. Überdies befinden sich die Ärzte in einer äußerst schwierigen Lage, da sie nicht nur ihr Einkommen verlieren, sondern ihnen darüber hinaus mitgeteilt wurde, dass sie ihre Wohnungen zum 1. Oktober verlassen müssen. Obwohl die Vermieter dies häufig abgelehnt haben, wurden sie von Polizei und Partei dazu gezwungen.

Die Zahl der betroffenen Handelsvertreter und -berater ist dreimal so hoch. Ende September müssen über 30 000 dieser Handlungsreisenden im Reich ihre Arbeit ohne irgendeine Entschädigung aufgeben. Sehr vielen Menschen, die ihre Stellung in den vergangenen Jahren verloren haben, ist es gelungen, sich irgendwie durchzuschlagen, indem sie als Handelsvertreter unterwegs waren. Das wird ihnen ab Ende September untersagt sein.

Die Wohnungsfrage löst große Besorgnis aus. Dem Parteiprogramm zufolge dürfen Juden und Arier nicht unter dem gleichen Dach leben. Es kursieren viele Gerüchte über einen Plan, dass ein Getto errichtet werden soll. Wann das stattfinden soll, ist nicht von Bedeutung. Der Punkt ist, dass viele Vermieter den Juden auf Veranlassung der arischen Mieter gekündigt haben; diese Praxis wurde gerichtlich vielfach bestätigt. In Franken, wie beispielsweise in Schweinfurt, aber auch in anderen Orten, sind viele jüdische Hausbesitzer unter dem Druck von Polizei und Partei gezwungen worden, ihre Häuser spottbillig zu verkaufen. Die erste Amtshandlung des neuen Besitzers war es dann, den ehemaligen jüdischen Hauswirt hinauszuwerfen.

Nach den bereits erwähnten Razzien wurden solche Maßnahmen zunächst einmal nicht wiederholt. Doch vor einer Woche brandete eine neue Welle auf. Am vergangenen Samstag wurden z.B. alle jüdischen Personen, die im Stölpchensee in der Nähe des Wannsee badeten oder ruderten, verhaftet. Nur ein paar, die ihren Ausweis bei sich hatten, wurden wieder freigelassen. Es ist nicht bekannt, was aus den anderen geworden ist. In den Zeitungen wurde als Grund für diese Maßnahme angegeben, der Polizei sei zu Ohren gekommen, dass „Anarchisten und kriminelle Elemente“ am Stölpchensee ein Treffen geplant hätten. Am selben Tag wurden alle jüdischen Bewohner von Wannsee zur Polizei vorgeladen, die ihre Ausweise konfiszierte oder diese mit einer roten Markierung als jüdisch kennzeichnete.

Seit vergangener Woche werden die Reisepässe von Juden ebenfalls rot markiert. Bei dieser Gelegenheit sollte erwähnt werden, dass Juden nur noch zu Auswanderungszwecken Pässe ausgestellt werden. Zuvor konnten Kaufleute Pässe auf Empfehlung der Handelskammer erhalten, wenn diese erklärte, dass Waren exportiert und Devisen ins Land gebracht werden würden. Das ist in den letzten Monaten nicht mehr möglich. Ich weiß von vielen Großexporteuren, deren Anwesenheit im Ausland dringend erforderlich gewesen wäre, die vergeblich auf einen Reisepass gewartet haben, obwohl dessen Ausstellung von der Handelskammer unbedingt befürwortet wurde. Es gibt nur wenige Juden, die einen Pass besitzen. Von Zeit zu Zeit wird ein Reisepass ausgestellt, dies geschieht jedoch nur, wenn die „Reichsstelle für das Auswanderungswesen“ bestätigt, dass das Ziel der Reise des Juden die jüdische Auswanderung fördere. Bevor ein Pass ausgestellt wird, werden folgende Stellen konsultiert: die Ausländerpolizeibehörde, die Partei, die Gestapo und die Ortspolizei. In manchen Fällen wird das Ausstellen eines Passes daran gebunden, dass eine Geisel bestimmt wird, die gegenüber der Polizei für alles haftet, was der Reisende möglicherweise im Ausland gegen Deutschland propagiert.

Ab 1. Oktober wird im deutschen Hoheitsgebiet eine Kennkarte eingeführt, die für alle Juden vorgeschrieben und mit einem Fingerabdruck versehen ist. Neugeborene jüdische Kinder müssen künftig jüdische Namen erhalten. Alle Juden, die einen nichtjüdischen Vornamen haben, müssen ab 1. Oktober den männlichen Beinamen „Israel“ bzw. den weiblichen Beinamen „Sara“ tragen.

Autos in jüdischem Besitz erhielten kürzlich besondere Kennzeichen - ab 300 000 aufwärts. Auf diese Weise weiß man, dass sie Juden gehören. Solche Autos bekommen auf der Autobahn kein Benzin. Darüber hinaus behauptete der Angriff kürzlich, dass Juden überhaupt nicht Auto fahren sollten, da „ihnen der erforderliche Korpsgeist fehle“! Obwohl die jüdische Auswanderung beschleunigt werden soll, wird diese immer weiter erschwert. Drei Listen sind für die Mitnahme von Möbeln und persönlichem Besitz erforderlich.

1. Eine Liste des gesamten Mobiliars, das vor 1933 erworben wurde.
2.     “       “       “          “                 “             “   in den letzten 5 Jahren erworben wurde.
3.     “ [aller] Artikel, die im Hinblick auf die Emigration gekauft wurden.

Der gleiche Betrag, der für die in den letzten fünf Jahren erworbenen Güter ausgegeben wurde, muss bei der Golddiskontbank eingezahlt werden. Auf den Listen muss jedes Möbelstück, Buch etc. aufgeführt werden. Es dauert oft monatelang, bis die Genehmigung zur Ausfuhr der Möbel erteilt wird.

Es muss nicht eigens gesagt werden, dass die Zahl derer, die unbedingt auswandern wollen, täglich steigt. 1000 bis 1200 Menschen wenden sich täglich an den Hilfsverein. Die Reichsstelle für Auswanderung, die der Polizei eine Empfehlung zur Ausstellung eines Reisepasses gibt, benimmt sich sehr anständig bei ihrer Arbeit. Die Ämter sind so überlaufen, dass die Menschen stundenlang Schlange stehen müssen, um eine Nummer für die nächste Woche zu erhalten. Die Zustände in den verschiedenen jüdischen Organisationen sind ähnlich wie beim Hilfsverein. Das Joint-Büro in Berlin wird ebenfalls von morgens bis abends von Bewerbern belagert. Das amerikanische Konsulat in Berlin nimmt bekanntlich keine neuen Anträge mehr an. Es hat sogar für die jetzt laufenden Anträge eine Bearbeitungsfrist bis Februar/März 1939 festgelegt. Im Verhältnis zur starken Nachfrage sind die Auswanderungsaussichten sehr gering. Aufgrund der Dringlichkeit der Buchenwald-Fälle wird die normale Auswanderung zunehmend schwerer, da die Gefangenen nur unter der Bedingung freigelassen werden, dass sie auswandern. Die Summe von 5000 £, die dem Hilfsverein für die vorstehenden Zwecke zur Verfügung gestellt wurden, sind aufgebraucht, und die Zuwendung neuer Mittel ist dringend erforderlich.

Die Einnahmen aus den Gemeindesteuern sind derzeit auf Grund des Verkaufs zahlreicher jüdischer Unternehmen noch recht zufriedenstellend. Doch ist ein echter Auflösungsprozess im Gange. Es ist unmöglich vorauszusagen, wie sich das Budget der Jüdischen Gemeinde Berlins, das sich im Vorjahr auf 12 000 000 Mark belaufen hat, in 1 oder 1 Vi Jahren darstellen wird. Da es so aussieht, dass alle jüdischen Unternehmen bis Ende des Jahres liquidiert sein werden, sind die Aussichten auf Steuereinkünfte recht gering. Es steht zu befürchten, dass das deutsche Judentum in den kommenden ½-2 Jahren vollständig vernichtet sein wird.

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