SD-Bericht zur Flüchtlingskonferenz in Evian
Der Sicherheitsdienstes der SS berichtet am 1. Juli 1938 über die Vorbereitungen zur internationalen Flüchtlingskonferenz in Evian:
Betr.: Flüchtlingskonferenz in Evian Vorg.: Ohne
Seit Wochen schon beschäftigt sich die gesamte Judenschaft, insbesondere die im Reichsgebiet ansässige, mit der für den 6.7.38 festgesetzten Konferenz in Evian. Dieser ist umso größere Bedeutung beizumessen, als sich zum ersten Male eine internationale Konferenz, der ausschließlich offizielle Regierungsvertreter der Teilnehmerstaaten angehören werden, mit dem Problem der Unterbringung von Juden aus dem Gebiete Großdeutschlands beschäftigt.
1. Initiative Roosevelts
Die Rückgliederung Österreichs und das damit erneut aktuell gewordene Judenproblem veranlaßte die Regierung der Vereinigten Staaten von Nordamerika, am 24.3.38 durch den Staatssekretär Cordeil Hull an die Regierungen von 29 Staaten den Vorschlag zur Bildung eines internationalen Ausschusses zu richten, der die Auswanderung aus Deutschland und Österreich erleichtern soll. Dieser Vorschlag ging an alle Republiken Nord- und Südamerikas sowie in Europa an die Regierungen Groß-Britanniens, Frankreichs, Belgiens, der Niederlande, Dänemarks, Schwedens, Norwegens, der Schweiz und Italiens. Während Italien sofort ablehnte, sagten alle anderen Staaten unter gewissen Bedingungen zu.
Roosevelt hat sich inzwischen persönlich mit Vertretern jüdischer und nichtjüdischchristlicher Organisationen in Washington besprochen, um mit ihnen Pläne für eine Zusammenarbeit mit dem zu errichtenden internationalen Komitee zu beraten. Gleichzeitig wurde unter dem Vorsitz des früheren Flüchtlingskommissars, James McDonald, Mitte Mai d.J. ein amerikanisches Vorbereitungskomitee mit dem Sitz in Washington eingerichtet, das sich nach den vorliegenden Meldungen hauptsächlich mit den Fragen der Massenansiedlung beschäftigt und die Einwanderungsmöglichkeiten vor allem auch in U.S.A. selbst prüft. Hierfür soll bereits ein Projekt fertiggestellt sein.
Dem Komitee in Washington gehören neben Vertretern konfessioneller Verbände auch bezeichnenderweise zahlreiche Juden an, u.a. auch der als übler Deutschenhetzer bekannte Präsident des „Jüdischen Weltkongresses“, Rabbiner Stephen Wise. Mit der Vertretung der amerikanischen Regierung auf der Konferenz wurde Myron C. Taylor, der frühere Generaldirektor der United States Steel Corporation, vom amerikanischen Präsidenten beauftragt. Allgemein besteht die Meinung, daß durch T. der Ablauf der Konferenz wesentlich beeinflußt werden wird.
Zur Vorbereitung fand Anfang Juni d.J. in Paris eine Vorbesprechung jüdischer Großorganisationen zu der Evian-Konferenz statt, an der Vertreter des „American Joint Distribution Committee“, des „Council for German Jewry“ und der „Hicem“ teilnah-men. Aus dem Reich waren als Vertreter der „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ und des „Hilfsvereins der Juden in Deutschland“ Dr. Eppstein und Dr. Hirsch, für die „Israelitische Kultusgemeinde Wien“ Dr. Löwenherz und Dr. Rothenberg, ferner Dr. Rau vom Palästina-Amt, Berlin, und Dr. Feilchenfeld für die Haavara und Intria anwesend.
Beratungsgegenstand waren Vorschläge der internationalen Judenschaft zur Lösung des Emigrantenproblems, die dem Kongreß unterbreitet werden sollen. Die Vertreter der „Reichsvertretung“ hatten dabei von sich aus zur Bedingung gemacht, daß unbedingt eine Steigerung der Einwanderung in aufnahmefähige Länder erreicht werden müsse und daß vor allem die Einwanderungssperren in den für die Auswanderung von Juden aus Deutschland besonders in Frage kommenden Ländern, wie Brasilien und die Südafrikanische Union, aufgehoben würden. Ähnliche Vorschläge ergingen wegen der Einwanderung in die U.S. A.
Die ausländischen Organisationen erklärten sich bereit, die Vorschläge der jüdischen Delegierten aus Deutschland in dem der Konferenz vorzulegenden Memorandum zu berücksichtigen. Gleichzeitig wiesen sie aber darauf hin, daß ihnen unter den gegenwärtigen Verhältnissen eine Übernahme der gesamten Kosten der jüdischen Auswanderung aus Deutschland unmöglich sei.
2. Haltung der Teilnehmerstaaten
a) U.S.A.:
Die bisherige Entwicklung ist bereits einleitend aufgezeigt. Es muß jedoch besonders auf die Tatsache hingewiesen werden, daß die U.S. A., obwohl der Anstoß zu der Konferenz von dort aus kam, nicht beabsichtigen, irgendeine Erhöhung der bisher gültigen Einwanderungsquote gemäß Einwanderungsgesetz aus dem Jahre 1924, die sich für Deutschland und Österreich zusammengerechnet auf 27370 pro Jahr belief, zu verfügen. Die einzige Erleichterung, die bisher erfolgte, aber lediglich als Geste zu betrachten ist, bestand darin, daß die amerikanischen Konsulate durch Roosevelt angewiesen wurden, die bestehenden Einwanderungsbestimmungen zukünftig liberaler zu handhaben. Praktisch war es nämlich bis heute fast unmöglich, die Einwanderungsquote nach U.S.A. voll auszunützen, so daß zumeist nur ca. 10-12000 Personen einreisen konnten.
b) England:
Zunächst verlautete Mitte April, also zu einem Zeitpunkt, wo die Teilnahme Englands an der Konferenz noch nicht feststand, daß dort die Absicht bestehe, dem Völkerbundsrat vorzuschlagen, die Zuständigkeit des „High Commissioner für Auswanderer aus Deutschland“ auch auf Auswanderer aus Österreich auszudehnen.
Vor einigen Tagen wurde nun im englischen Unterhaus bekanntgegeben, daß die englische Regierung auf der Konferenz in Evian durch Lord Winterton, also einen aktiven Minister, und Charles M. Palairet vertreten werde. Weiter wurde durch die englische Regierung mitgeteilt, daß sie den Vorschlag, die Dominien zur Vorlage eines Gesamtplanes für das Empire zu veranlassen, der ihre Aufnahmefähigkeit für Emigranten aufzeige, als nicht ausführbar betrachte. Nach Auffassung der Regierung sei die Zulassung von Einwanderern und ihre wirtschaftliche Eingliederung nur von den einzelnen Regierungen selbst zu entscheiden. Der Vertreter des englischen Außenministers, Butler, vertritt die Meinung, daß eine der Hauptschwierigkeiten einer derartigen Konferenz in der Geldfrage liege. Auch B. verwies auf die grundlegende Absicht der U.S.A., die vor allem dahin gehe, von keinem Lande zu verlangen, mehr Emigranten aufzunehmen, als dies auf Grund der bestehenden Gesetze möglich ist, und ferner zu erreichen, daß die Finanzierung der Emigration durch private Organisationen innerhalb der verschiedenen Länder geschehe.
c) Frankreich:
Die Organisation der Konferenz wird auf Bitten des amerikanischen Staatsdepartements von der französischen Regierung durchgeführt. Zum Führer der französischen Abordnung wurde der Vorsitzende des Senatsausschusses für auswärtige Politik, Senator Henri Beranger, bestimmt.
Bis heute ist allerdings weder die Tagesordnung der Konferenz bekannt, noch sind den beteiligten Regierungen Mitteilungen über ihren technischen Verlauf zugegangen. Dieser Umstand kann evtl. sehr hemmend auf den Fortgang der Tagung wirken, da die Regierungen ihren Vertretern nur dann Vollmachten geben, wenn sie genau über die zu behandelnden Vorschläge unterrichtet sind.
d) Holland:
Der erneute Zustrom von Emigranten aus Österreich veranlaßte die Regierung der Niederlande, insbesondere auch unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage des Landes, verschärfte Bestimmungen für die Emigranteneinwanderung zu treffen. Offiziell be-zeichnete der holländische Justizminister die Notwendigkeit dieser Maßnahmen damit, daß vor dem Beginn der Evian-Konferenz der Strom der Neuankömmlinge hätte eingedämmt werden müssen. Die Regierung erwarte von der Konferenz, daß sie zu Lösungen führen werde, die die besondere Lage der einzelnen Länder berücksichtigen würden. D.h. also, daß von Holland kaum positive Vorschläge zur Lösung der schwebenden Fragen zu erwarten sind,
e) Südamerika:
Die Haltung aller südamerikanischen Staaten ist noch vollkommen offen, obwohl sie sich von vornherein zur Teilnahme an der Konferenz bereit erklärt hatten. Der Erfolg der Tagung hängt aber zweifelsohne von der Bereitwilligkeit der südamerikanischen Regierungen zur Aufnahme weiterer jüdischer Emigranten ab.
3. Zweck und Ziel der Konferenz
Wie schon teilweise aus dem oben Gesagten hervorgeht, erwarten die beteiligten Kreise und insbesondere auch die Judenheit als Erfolg der Konferenz die Erreichung von Zugeständnissen der teilnehmenden Regierungen bezüglich der Auflockerung und liberaleren Handhabung der Einwanderungsbestimmungen.
Die Konferenz kann, wenn überhaupt mit einer ernsthaften Bereitschaft gerechnet werden darf, infolge ihrer Unabhängigkeit vom Völkerbund umfassende Beschlüsse fassen, die für die Auswanderungsmöglichkeiten von entscheidender Bedeutung sein können. Im Hinblick auf diese Möglichkeiten verdienen die sogenannten „Coordinating Committees“, die in London und New York gebildet wurden, besondere Aufmerksamkeit. Sie entstanden aus der Notwendigkeit, den diplomatischen Vertretern der Teilnehmerstaaten eine gemeinsame Vertretung der an der Konferenz interessierten jüdischen und nichtjüdischen Kreise gegenüber - bzw. zur Seite zu stellen. Diese Komitees haben bereits miteinander Fühlung genommen und sich darüber hinaus mit jüdischen und nichtjüdischen Organisationen anderer Länder in Verbindung gesetzt.
Es ist beabsichtigt, das Londoner Komitee zu einer Zentralstelle auszubauen, die die jüdischen Forderungen und Wünsche in Evian mit der notwendigen Autorität und dem erforderlichen Nachdruck vertreten kann. Das Komitee veröffentlichte bereits in den englischen Blättern einen Aufruf, der u.a. von Lord Reading und dem Bischof von Chi-chester unterzeichnet ist und in dem betont wird, daß die zusammengeschlossenen Organisationen gemeinsam an der Hilfe für die aus Mitteleuropa auswandernden Juden mitarbeiten wollen.
4. „Beobachter“ aus Deutschland
Auch die Juden in Deutschland bzw. Deutsch-Österreich beabsichtigen, „Beobachter“ nach Evian zu entsenden, deren Aufgabe darin bestehen wird, Fühlung mit den Vertretern der einzelnen Staaten aufzunehmen und Hinweise auf die unbedingte Notwendigkeit der jüdischen Auswanderung aus Deutschland zu geben.
Die für die Teilnahme in Frage kommenden Juden aus dem Reich wurden bereits in Besprechungen in diesem Sinne belehrt.
Neben diesen wird noch durch Vermittlung des O.A. Österreich ein neutraler Beobachter an der Konferenz teilnehmen, der nach seiner Rückkehr berichten wird. Sollte der auf den 6.7.38 festgelegte Anfangstermin der Konferenz - wie teilweise vermutet wird - verlegt werden, so darf vorgeschlagen werden, unter Berücksichtigung der großen Bedeutung, die die Konferenz für die Auswanderung der Juden aus Deutschland haben kann, in Erwägung zu ziehen, einen deutschen diplomatischen Vertreter als Beobachter an der Konferenz teilnehmen zu lassen.
Über den Erfolg der Konferenz von Evian wird nach ihrem Abschluß berichtet werden.
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