Bericht aus Deutschland
Der Weinexporteur Frederick Weil aus Frankfurt reist im Frühsommer 1938 durch Deutschland und berichtet darüber 1940 im Rahmen eines Preisausschreibens der Harvard University:
Eindrücke einer Deutschland-Reise
Nachdem ich in der Zeit zwischen dem 1. Dezember 1937 und dem 1. März 1938 von meiner arischen Kundschaft auch nicht einen einzigen Auftrag mehr erhalten konnte, war mein Entschluss gefasst, nach Amerika auszuwandern, wo bereits 3 erwachsene Söhne seit mehreren Jahren arbeiteten. - Bereits am 16. April 1938 habe ich mein Wohnhaus in Frankfurt a.M. verkauft. - Am 6. Mai 1938 war ich beim amerikanischen Konsul in Stuttgart, um mich über die Formalitäten zu informieren. Ich verfehlte dabei nicht zu erwähnen, dass ich durch die Nazi bereits vorbestraft bin und brachte das Strafurteil mit. Die Herren Vizekonsuln zeigten ein grosses Interesse für diesen Fall und versprachen mir, natürlich unverbindlich, einen Antrag meinerseits wohlwollendst zu prüfen, und ich möchte nur für ein recht gutes Affidavit sorgen, dann würde der Fall keinerlei Schwierigkeiten haben. -
Bei meiner Rückkehr nach Frankfurt a.M erhielt ich von der Parteileitung ein gedrucktes Formular mit der Anfrage, ob und wann ich mein Geschäft:
1. an Arier verkaufen,
2. liquidieren oder
3. anderweitig zur Auflösung bringen will.
Eine Antwort hierauf innerhalb von 8 Tagen wurde von mir verlangt. –
Anstatt eine Antwort zu geben, habe ich am nächsten Tag beim zuständigen Amtsgericht meine Firma löschen lassen.
Gleichzeitig meldete ich diese Tatsache der zuständigen Industrie- und Handelskammer. Der Gerichtssekretär, der die Beurkundung vornahm, forderte mich auf, am Schluss der Verhandlung in das anstossende Nebenzimmer einzutreten, angeblich um dort den Amtsstempel auf die Urkunde aufzudrücken. In Wirklichkeit aber, um mich einige Minuten allein und ohne Zeugen zu sprechen. Nachdem die Tür hinter uns zu war, sagte er mir, wie leid es ihm tue, diese hochangesehene Firma löschen zu müssen; ich möchte doch überzeugt sein, dass nicht alle Deutschen im Herzen so denken, wie sie leider zu handeln gezwungen sind. Er sprach mir guten Mut zu und wünschte mir von Herzen recht viel Glück und - dass ich „bald die Rache des deutschen Volkes erleben möge“.
Bei einigen meiner Abnehmer machte ich private Abschiedsbesuche, die teilweise recht dramatisch wurden. - Man bedauerte ausserordentlich meinen Entschluss, dass ich die einzig mögliche Konsequenz aus den vorliegenden Umständen zu ziehen gezwungen bin, und man bat mich quasi - um Entschuldigung.
Dreimal musste ich in Privatbüros der Chefs von grossen Firmen hören: „Sind Sie doch froh, dass Sie soweit sind und fortgehen können; ich wäre ja heilfroh, wenn ich mit Ihnen tauschen könnte, dann würde ich lieber heute als morgen diesen - Saustall verlassen und ins Ausland fahren, aber wir Arier im militärischen Alter bekommen keine Erlaubnis mehr, ins Ausland zu reisen.“ -
Die nun kommenden herrlichen Maitage benutzten meine Frau und ich zu ausgedehnten Autofahrten, um von den so liebgewordenen, altvertrauten Bergen und Landschaften Abschied zu nehmen.
Wir fuhren von Frankfurt a.M. aus den Rhein und die Mosel entlang bis Trier & machten von da aus einen Sonntagsausflug nach Luxemburg. - Dann über Kassel durch den Harz nach Berlin, Hamburg, Lübeck, Travemünde, Bremen, Hannover, Leipzig, Dresden, Schandau, durch das sächsische Erzgebirge nach Chemnitz, Bamberg, Nürnberg, München, Garmisch-Partenkirchen, Oberstdorf, Lindau, Konstanz, Donaueschingen, über den grossen Feldberg, Titisee, Freiburg und Baden-Baden, immer auf den Schwarzwaldhöhen entlang nach Frankfurt a. Main.
Wir waren insgesamt 29 Tage unterwegs und hatten Gelegenheit, nicht nur sehr viel Schönes wiederzusehen, sondern noch mehr, vieles neu zu sehen und unendlich viel neue Eindrücke von Menschen zu bekommen. - Ich hatte auf dieser Kreuz- und Querfahrt durch einen grossen Teil Deutschlands oft das Gefühl, eine „Henkersmahlzeit“ zu geniessen, d. h. Abschied zu nehmen von meinem früher so heissgeliebten Vaterland, von der einzigartig herrlichen Natur, mit der dieses Land so verschwenderisch reich gesegnet ist, von lieben Freunden und Verwandten, denen ich wohl zum letzten Mal die Hand drücken durfte. - Es war auch ein Abschiednehmen von so vielen Grabstätten, von unvergesslichen Jugenderinnerungen, von selbst gepflanzten, jetzt grossen und altgewordenen Aepfel- und Birnenbäumen und Weinreben, in denen ich als Kind arbeiten durfte.
Von meiner Geburtsstätte, in der jetzt der Enkel des nach unserem Wegzug eingezoge-nen Grossbauern wohnte. - Mit diesem Enkel, der ein überzeugter Nazi war, unterhielt ich mich eine geraume Weile. Er war der Typus der neuen deutschen Generation. Ich schätzte ihn auf ca. 18 Jahre. - Der Refrain seiner Antworten war stets der gleiche: „Ich kann Ihnen darauf nur das Eine sagen: Unser Führer weiss, was er will, und wenn es auch nicht Jedem gleich als gut und richtig erkennbar ist, ich weiss, dass es für das Volk nur zum Guten ist.“ -
Auch die Judenfrage sieht er nur von diesem Gesichtspunkt aus an. - Meine Frage nach der Freiheit des Individuums als des höchsten Gutes des Menschen beantwortete der Jüngling: „Wenn man genau nach den Ideen und Lehren des Führers lebt, hat in Deutschland jeder die Freiheit!“ - Bei diesem Wort versuchte der halbgelähmte Vater dieses Jungen im Rollsessel aufzustehen und mit seinem Krückenstock nach seinem Sohn zu schlagen mit einer Wut in seinem puterroten Gesicht, das beredter war als alle Worte, die er - nicht auszusprechen wagte. - Die Tochter beruhigte den alten kranken Mann und gab ihm aus einer Medizinflasche einige Tropfen.
Damit beschloss ich meinen letzten Besuch in meinem Geburtshaus in Gedanken, die weit zurücklagen.
Die Erinnerung wurde lebendig in mir, wie ich unseren geliebten Pfarrer Rohrhurst, dem späteren Präsidenten der zweiten badischen Kammer, unseren Rabbiner Rawicz, den Bezirksamtmann und Baron von Böcklin an langen Winterabenden in freundschaftlicher angeregter Unterhaltung mit meinen Eltern vor mir sah und wie friedlich die Menschen sich verstanden haben mussten. - Meine Eltern waren ebenso regelmässige wie gerngesehene Gäste bei unseren andersgläubigen Freunden; das Wort „arisch“ kannte man noch nicht, wie auch umgekehrt die christlichen Freunde gerne und häufig unser jüdisches Haus besuchten, das religiös und im konservativen Sinn geführt wurde. -Und welcher Kontrast zwischen damals und heute! Der Friedhof allein ist heute noch der Zeuge, dass seit dem Jahre 1530 auf diesem Friedhof die dort ansässigen Juden zur letzten Ruhestätte gelangt sind. - Dieser Friedhof war im März 1933 und im November 1938 das Ziel und der Schauplatz einer Horde von Vandalen, die ihrem eingeimpften Gifthass gegen die Juden befehlsgemäss dadurch Ausdruck verleihen mussten, dass sie mehr als 50 Grabstätten verwüsteten, die Grabsteine niederwarfen und mit mitgebrachten Steinmetzhämmern zerschlugen. - Die Friedhofshalle und die Totenkammer wurden in der gemeinsten Weise als Klosett benützt.
Andererseits hatte ich auch sprechende Beweise von überschäumendem Hass seitens der arischen Bevölkerung gegen das jetzige braune Regime. - Eine alte Bäuerin konnte es sich nicht versagen, einen kerndeutschen Fluch gegen die braune Pest so laut zu schreien, dass ich sie bitten musste, in Zukunft mehr Vorsicht zu üben. -
Während ich mit dieser Frau vor ihrem Haus mich unterhielt, kamen immer mehr Bauern mit ihren Frauen dazu. Als sie erfuhren, dass ich nach Amerika auswandere, waren sie zuerst ganz still, dann aber sprach der grösste unter ihnen: „Wer wird jetzt noch dafür sorgen, dass wir jedes Jahr unseren Wein verkaufen können?“
Jeder bat, dass ich noch einmal zu ihm in sein Haus kommen müsste, um gemeinsam mit ihm ein Glas Wein zu trinken. - Ich musste der Kürze der verfügbaren Zeit wegen es ablehnen, aber innerhalb einer Viertelstunde kamen 8 Frauen, und eine jede hatte ein Abschiedsgeschenk unter der Schürze, Butter, Eier, Brot, Kirschwasser und 1 frisch geschlachtetes Huhn. Ich war ganz gerührt über diese Aufmerksamkeit, und im Moment, als ich mich bereits verabschiedet und bedankt hatte und ins Auto einsteigen wollte, brachte die Tochter des Bürgermeisters einen grossen Strauss frischer Maiblumen für meine Frau.
Ich denke noch immer gerne an diese Stunde, in der das alte Deutschland sich noch einmal mir zeigen wollte, wie es wirklich war! –
Aber auch sonst konnte ich in den kleineren Ortschaften des Schwarzwaldes, dessen Bevölkerung kerndeutsch und meistens rein allemannisch ist, eine offene Aussprache mit mir wahrnehmen und eine tief und ehrlich empfundene Feindschaft gegen die Zwangsherrschaft des Hitler-Regimes.
Anders war es schon in Mittel-Deutschland und besonders in den rein landwirtschaftlichen Gebieten. -
Da musste ich einmal 5 Ortschaften absuchen, bis ich als Jude überhaupt ein Zimmer zum Uebernachten erhalten konnte. Am nächsten Tag fuhr ich durch den Harz, der in seinem frischen Grün und den herabstürzenden Waldbächen seinen herrlichen Zauber ausstreute. Ich kam dabei nach Bad Harzburg. Ein breites Band über die Hauptverkehrsstrasse empfing mich mit der Aufschrift: „Juden ist der Aufenthalt in Bad Harzburg verboten.“ -Die Reise ging dann umso rascher vorwärts; in Halberstadt fanden wir im ersten Hotel eine willkommene Gaststätte.
In Magdeburg sahen wir an jedem Geschäftsladen, Restaurant, Frisör etc. das gleiche einladende Schild, sodass wir nur im Speisesaal des Hauptbahnhofs essen konnten.
Im Gespräch mit einem arischen Geschäftsfreund hörte ich, dass die Partei jedem Inhaber eines offenen Geschäfts zwei solcher Emailschilder durch S.A.-Leute sandte und wofür Rm. 2 - gezahlt werden mussten, die Plakate brachten die S.A.-Leute gleich an die Schaufenster an. - Weigerte sich ein Ladeninhaber gegen die Zahlung und Anmachung der beiden Schilder, schrieb der S.A.-Mann aus einem bereitgehaltenen Schreibblock sogleich eine Vorladung des Ladenbesitzers vor das zuständige Parteibüro heraus. Weigerte er sich trotzdem nochmals, dann erfolgte die amtliche Vorführung zur Gestapo und im Weigerungsfall sofortige Verschickung ins Konzentrationslager wegen Sabotage an der deutschen Wirtschaft.
Die herrliche Reichsautobahn brachte uns noch am gleichen Tage nach der Reichshauptstadt Berlin. Zunächst war ich erstaunt darüber, dass kaum ein einziges Geschäft oder Restaurant oder Cafe irgendeinen Hinweis zeigte, dass „Juden unerwünscht“ wären. - Im Hotel war man sehr überrascht über meine Frage, ob ich als Jude hier wohnen könnte! -Das äussere Geschäftsleben in Berlin war kaum verändert gegenüber der „System-Zeit“. - Die Restaurants und Cafes waren voll besetzt, und in den Lokalen des Westens am Kurfürstendamm dominierte das mehr oder weniger sympathische jüdische Element. - Viele recht unangenehm auffallende Typen von Frauen machten sich in unzweifelhafter Weise bemerkbar. - In den Konzertkaffees fand ich die übergrosse Mehrzahl der Gäste gleichfalls aus diesen Kreisen, die selbst im Sommer 1938 noch nicht gelernt haben, die neue Zeit zu begreifen und eine Zurückhaltung zu üben, die wohl noch das geringste Opfer gewesen wäre, was man von diesen Leuten zum mindesten hätte erwarten dürfen. Man behauptete zwar, dass es in der Hauptsache nur Ausländer wären, die in jeder Weise von der Partei geschützt seien.
Theater, Konzerte, Kinos und Museen waren nur noch den „Ariern“ zugänglich; Juden war der Eintritt strikt untersagt. Das Publikum bestand hauptsächlich aus befohlenen Mitgliedern von „Kraft durch Freude“. Für Juden und christliche Nichtarier waren nur die Veranstaltungen des Jüdischen Kulturbunds zugelassen. -
Gegenüber Provinzstädten und kleineren Orten fiel mir der Mangel an Uniformen in Berlin auf. Auch im sogenannten Regierungsviertel sah ich nur vereinzelte Uniformen. Das war das äussere Bild, das mir in Berlin auffiel. Ganz anders war mein Eindruck nach dem Besuch von persönlichen Freunden, jüdischen wie arischen. - Die letzteren klagten sehr über den Druck und den Zwang, dem sie in jeder Beziehung, aber ganz besonders in steuerlicher Beziehung unterworfen sind. Trotzdem man arbeitete von früh bis spät in die Nacht hinein, müsse man die eigene pekuniäre Substanz angreifen und jegliche Möglichkeit zu Ersparnissen sei vollkommen unmöglich. - Durch die gesellschaftliche Abschnürung erfahre man nichts mehr, was von wesentlichem Interesse wäre. - Auslandsreisen sind vollständig so gut wie verboten, und wenn solche aus Exportgründen von der Devisenstelle genehmigt sind, kommen trotzdem die Schnüffler der Gestapo zu peinlichen Hausdurchsuchungen, da solche genehmigten Reisen von der Gestapo als „Geldverschiebungsreisen“ bezeichnet wurden.
Einige meiner jüdischen Freunde hatten das richtige Gefühl, dass es keinen Zweck habe, noch länger die Augen zu verschliessen vor der eisernen Notwendigkeit und dass man eben die Konsequenzen auch persönlich zu ziehen hätte.
Wo es möglich war, arisierte man die jüdischen Betriebe, so gut oder so schlecht es eben ging. - Je nachdem die guten Beziehungen weit genug nach oben reichten, hat man verhältnismässig „gut“ abschliessen können. - Die kleinen Hitler waren bescheiden, dafür nicht so erfolgreich als die „grossen“ Hitler, die ihren klingenden Vorteil ausnahmslos als „ausgekochte Jungens“ zu wahren verstanden haben. Die Mittelspersonen waren meistens einige sehr angesehene Rechtsanwälte, die jedoch nur auf Grund allererstklassiger Empfehlungen sich für den einzelnen schwierigen Fall interessieren wollten. Man zeigte sich zunächst sehr zugeknöpft und behielt sich vor, ob man das Mandat annehmen könne oder nicht. Die Entscheidung darüber sollte nach 1 Woche fallen, in welcher Zeit man sich den Fall überlegen wollte. - Richtiger ausgedrückt: man erkundigte sich bei seinen Freunden, ob die aufgegebene Adresse interessiert oder nicht, d. h. man vergewisserte sich bei der zuständigen Hauptstelle, ob die Sache gemacht werden kann. - In der zweiten Besprechung wurde das Mandat angenommen, Reverse unterschrieben, jedoch nur in einfacher Form, ohne dass der Klient eine Abschrift davon erhielt. Die Unterlagen kamen dann in der darauffolgenden Woche, und nach Verlauf von weiteren 14 Tagen hatte der Jude die finanzamtlichen Unbedenklichkeiten, seinen Auslandspass, die Genehmigung zur Ueber-weisung seines Sperrmarkguthabens oder für einen Grundstückstausch eines inländischen Hauses mit einem im Ausland liegenden und für die Mitnahme seines Reisegepäcks.
Für all diese Notwendigkeiten brauchte man in Frankfurt, Mannheim, Karlsruhe oder Heidelberg etc. mindestens 6 Monate, wobei die Laufereien zu den diversen Aemtern eine mehr oder weniger angenehme Spiessrutentour genannt werden musste.
Von wirklich seriösen, wirtschaftlich geschulten und verlässlichen Männern der verschiedensten Kreise hatte ich unumstössliche Beweise, dass die Korruption in den Aemtern kaum noch zu überbieten war. - Aber wehe dem kleinen Polizeibeamten, Finanzsekretär oder sonst einem uniformierten Beamten, wenn er ertappt würde, dass er im Dienst oder ausserhalb des Dienstes nicht so schroff wie nur möglich mit einem Juden umgeht. Dafür ein kleines Beispiel:
Ich benötigte für meinen in Paris lebenden Sohn eine Abschrift seiner polizeilichen Abmeldung vor seiner Auswanderung. Ich fuhr zum zuständigen Polizeirevier, stellte mich der Reihe nach an und bat den Oberwachtmeister um Auskunft. Danach sollte ich in dem gegenüber liegenden Papiergeschäft 3 grüne Formulare holen, solche ausfüllen und ihm dann wieder zurückbringen, um ein Duplikat für mich dann polizeilich abgestempelt abzuholen. Gleichzeitig bat mich der Beamte, ihm für 5 Pfennig eine Geburtstagsglückwunschkarte mit dem dazu passenden Umschlag mitzubringen, gab mir die 5 Pfennig & sagte, er käme von der Arbeit nicht dazu, die Karte selbst zu holen und der Geburtstag wäre morgen. - Ich besorgte also die Geburtstagskarte & gab ihm gleichzeitig die 3 grünen Formulare ausgefüllt in die Hand, jedoch die Glückwunschkarte mit Kuvert so von dem grünen Formular verdeckt, dass niemand sie sehen konnte. - Der Beamte stempelte das grüne Formular ab und gab es mir zurück, worauf ich das Polizeilokal verliess. -Nach 2 Stunden erscheint dieser Beamte in meiner Wohnung in heller Aufregung und bat mich um eine Unterredung. - Im Zimmer sah er sich erst um, ob niemand sonst anwesend sei. Ich beruhigte ihn & bestätigte, dass nur meine Frau und ich in der Wohnung wären.
Nun erzählte er uns: Kaum dass ich eine halbe Stunde vom Polizeirevier weggegangen sei, kam der Reviervorsteher zu ihm und ersuchte, ihm auf sein Geschäftszimmer zu folgen. Hier eröffnete der Reviervorsteher, dass er vorhin von der Gauleitung angerufen wurde, dass der Oberwachtmeister sich mit einem Juden besonders freundschaftlichst unterhalten hätte und dass er mit dem Juden anscheinend Geschäfte machen würde. Wenn das erwiesen sei oder nur der Verdacht dafür bestände, müsste der Oberwachtmeister durch ein Disziplinarverfahren bestraft werden. Der Oberwachtmeister erklärte mir, dass er 64 Jahre alt sei und einschliesslich seiner Militärzeit 44 Dienstjahre habe und im folgenden Jahr mit 80 % seines Gehalts pensioniert würde. Wenn er aber jetzt entlassen und durch ein Disziplinarverfahren bestraft wird, verliert er seine Pensionsberechtigung. -Sein Chef hätte ihm erklärt, dass er ihn gegen die Nazi, soweit es möglich sei, in Schutz nehme. - Der Zweck seines Besuches bei mir wäre, mir die Sache privat und geheim mitzuteilen für den Fall, dass die Gauleitung bei mir nachforschen sollte, in welchen Beziehungen ich zu dem Oberwachtmeister stehe und damit seine Aussagen mit den meinigen nicht in Widerspruch kommen würden. - Ich hörte später nichts mehr von der Sache, aber der Oberwachtmeister hat mir in 2stündiger Unterhaltung doch so viel vom inneren Dienst erzählt, von den Schikanen, die die jungen Burschen, die von der Partei in jedes Polizeirevier beordert sind, dass ich ein grosses Bedauern für diesen alten diensterprobten, ehrlichen Beamten bekam. Diese alten Beamten sind restlos feindlich eingestellt gegen die Partei-Polizei, d.h. gegen die Gestapo, die ausschliesslich aus den übel beleumundeten S.S.- und S.A.-Mannschaften bestehe.