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Chronik und Quellen
1938
April 1938

Rückblickender Bericht über die Lage der Juden in Wien

David Schapira berichtet über die Misshandlung von Wiener Juden nach dem Anschluss:

Ich bin 42 Jahre alt, Jude, Arzt und habe 25 Jahre lang, ohne Unterbrechung, in Wien gelebt. Ich kam zu Beginn des Weltkrieges im Jahre 1914 als Kriegsflüchtling nach Wien. Damals in das Kaiserliche Wien.

Seit 1918, Wien unter sozialdemokratischer Mehrheit. In der Theorie und im Programm der Sozialdemokraten war kein Antisemitismus. Sehr viele Juden (genauer Menschen jüdischer Abstammung) hatten mittlere und höhere Führerstellen in der Partei. Da sehen wir schon eine psychologisch interessante Erscheinung. Diese „jüdischen“ Führer wollten objektiv und unparteiisch sein. Sie waren es auch sehr oft. Wenn es sich aber um Juden als Bewerber um irgendwelche Stellen handelte, da waren sie mehr als objektiv, sie waren überobjektiv, „päpstlicher als der Papst“ - und ein Jude wurde sehr oft benachteiligt. Mir sind Fälle bekannt, dass es bei Bewerbungen um Stellen bei von Sozialdemokraten verwalteten Anstalten, den Bewerbern gesagt wurde, ihre Qualifikationen seien zwar sehr gut, ihr jüdischer Name und die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion jedoch störe. Sie sollten den Namen ändern und aus der jüdischen Religionsgemeinschaft austreten, dann würde man für sie vielleicht etwas machen können. - Solche Benachteiligungen von Juden in der sozialdemokratischen Aera in Wien waren nicht selten. - Trotzdem war das Leben für die Juden in Wien erträglich.

Schlimmer wurde es nach dem Verbot der sozialdemokratischen Partei in Oesterreich im Februar 1934 durch die Machtübernahme durch die Vaterländische Front und die Regierung Dollfuss-Schuschnigg. Da wurde der Antisemitismus aggressiver und zeigte offenkundig den Charakter des Rassenantisemitismus. Der Unterschied zwischen dem deutschen Antisemitismus und dem österreichischen war mehr ein gradueller als ein prinzipieller.

Wir sehen in der Zeit von 1918 bis 1938 eine stete Zunahme des Antisemitismus, und zwar hauptsächlich als Folge der Parteienpropaganda und Taktik. Auf das billige und abscheuliche, aber immer auf die bestialischen und niedrigen Instinkte der Massen wirksame Propagandamittel des Antisemitismus wollten die Parteien nicht verzichten. Die Parteien übertrumpften einander im Anbieten eines „echten“ und „besseren“ Antisemitismus. Die „edlen“ Seelen sprachen darauf an. Die Parteien vergessen eines, und zwar, dass die niedrigen Instinkte der Menschen, einmal wachgerufen, nicht mehr kontrolliert werden können. Schliesslich behalten diejenigen die Oberhand, die nicht nur die Juden wirtschaftlich und kulturell bekämpfen, sondern die völlige Ausrottung der Juden wollen. Und es war tatsächlich so. Die Verfechter des stärksten Antisemitismus verdrängten die Anderen. Die Nazis siegten.

Die Parteien waren blind. Für momentane Erfolge gaben sie hohe Menschheitsideale preis, hiemit gaben sie sich aber selbst preis. Das Liebäugeln und Dulden eines „gemässigten“ Antisemitismus ist nur der Wegbereiter für das Nazitum. - Hätten die Parteien ihre Programme hochgehalten, hätten sie für Freiheit und Gleichheit aller gekämpft, hätten sie keine Konzessionen an die menschliche Bestie gemacht, würden sie bis heute noch existieren. Sie taten das nicht. Sie „machten“ in Antisemitismus. Das haben sie mit ihrem eigenen Untergang bezahlen müssen. Es scheint ein Gesetz ohne Ausnahme zu sein, dass, wenn demokratische Parteien einen Antisemitismus dulden, sie ihr eigenes Grab schaufeln. 11. März 1938. Einzug der deutschen Nazi in Wien. Die Nazis sind sehr gute Propagandisten. An demselben Vormittag waren überall Nazipropagandainschriften und Embleme zu sehen. Die Propaganda und Massensuggestion waren so vollkommen, dass die riesige Begeisterung der Massen ursprünglich echt war. Sie ist dann später zu einer ebensolchen Enttäuschung geworden.

Schon an demselben Tage sah der antisemitische Pöbel seine Zeit für gekommen. Juden wurden auf den Strassen blutig geschlagen, angespuckt und beschimpft. Juden mit gebrochenen Rippen, blutigen Schädeln, ausgebrochenen Zähnen kamen in Massen in die Ambulanz des jüdischen Spitales. - Um nur ein Beispiel anzuführen, wurden eines Nachmittags die Juden in der Hauptallee, ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, zusammengetrieben und gezwungen „Froschhüpfe zu machen“ und selbst zu rufen „Juda verrecke“ oder „Ich bin ein Saujud“. Sie mussten Spiessrutenlaufen und ähnliches. -Demütigungen von Juden waren auf der Tagesordnung.

Alte Frauen und Männer, angesehene Rabbiner, Aerzte, Rechtsanwälte wurden zur Stras-senreinigung oder Autoreinigung herangezogen.

Ich selbst wurde von halbwüchsigen Hitlerjungen zum Strassenreinigen geholt. Ich musste meinen eigenen Besen und Kübel mitnehmen. Unter dem Gejohle des Pöbels wurde ich zur „Arbeitsstätte“ geführt. Zur Ehrenrettung mancher Arier muss ich erwähnen, dass einzelne arische Frauen, die mich kannten und das sahen, weinten. - Einen Schutz seitens der Polizei hat es überhaupt nicht gegeben.

Die Schaufenster und die Firmentafeln der jüdischen Geschäfte wurden mit antijüdischen Hetzinschriften beschmiert, z. B. „Juda verrecke“, „Saujud“, „Rassenschänder“, „Jüdischer Betrüger“, „Jud gehörst nach Dachau“, „Auf den Galgen mit den Juden“. Zur Illustration wurden Zeichnungen von Judenköpfen, Galgen mit hängenden Juden und ähnliches angebracht.

Totaler Boykott der damals noch offenen jüdischen Geschäfte, Aufstellen von Boykottposten. Wenn sich als allerseltenste Ausnahme ein Arier in ein jüdisches Geschäft wagte und dabei erwischt wurde, wurde ihm eine Tafel umgehängt mit der Aufschrift „Ich deutsches Schwein kaufe beim Juden ein“ und [er] musste vom johlenden Pöbel begleitet durch die Strassen ziehen.

Kein Wunder, wenn schon in den ersten Tagen die vernünftigeren und rührigeren Juden, Böses ahnend, alles zurücklassend, versuchten, nur das nackte Leben zu retten und über die Grenze zu kommen.

Es begann der Raub des jüdischen Vermögens. Seit den ersten Tagen begannen uniformierte und nichtuniformierte Nazis jüdische Geschäfte zu plündern, pardon - zu „requirieren“. Dabei vergassen sie nicht, das Bargeld und den Schmuck der Geschäftsinhaber mitzunehmen. Schreibmaschinen wurden mit Vorliebe „requiriert“. Auch in Privatwohnungen wurde „nachgeschaut“. Dabei wurde Wäsche, Kleider, Schmuck, Pelze, Teppiche, Radioapparate, kurz alles, was nicht niet- und nagelfest war, mitgenommen, und zwar nur deswegen, weil angeblich nur kommunistische Flugschriften oder Waffen gesucht wurden. Da Flugschriften nicht gefunden wurden, wurden welche von den „Amtshandelnden“ mitgebracht und hingelegt. Jeder Versuch, sich zu widersetzen, konnte die gesunden Glieder oder gar das Leben kosten.

Erpressungen jeder Art waren auf der Tagesordnung. Alle nicht jüdischen Schuldner verlangten von den jüdischen Gläubigern die Schuldentilgung ohne Bezahlung oder gar die Rückgabe des Geldes für längst bezahlte und verbrauchte Waren, sonst drohten sie mit Anzeigen, „dass ihnen die Waren angeblich zu teuer verkauft worden waren“ oder „dass er (der Jude) auf den Führer geschimpft hätte“ und ähnliches. Diese Erpressungen hatten bei den eingeschüchterten Juden immer Erfolg.

Auf der Strasse wurden Autos jüdischer Besitzer (von Aerzten und anderen Berufen) von unbekannten Personen „requiriert“. Als sich einmal ein jüdischer Arzt weigerte, einem Unbekannten einen schönen Wagen abzugeben, kam der „Requirierende“ nach einer Weile mit einem Zweiten zurück und sagte, „wenn Sie den Wagen nicht abgeben wollen, so dürfen Sie trotzdem nicht auf den Führer schimpfen“. Der Arzt wusste natürlich, wieviel es geschlagen hatte, und gab ohne Widerrede den Wagen den beiden Strolchen.

Bald begann auch der legale Raub durch die kommissarischen Leiter, die die Aufgabe hatten, die jüdischen Geschäfte zu „liquidieren“ oder zu „arisieren“. Es wurde solange liquidiert und arisiert, bis die Geschäfte zumeist in den Besitz der kommissarischen Leiter selbst übergingen, ohne dass der jüdische Besitzer irgendwelche Entschädigungen bekommen hätte.

Reiche Hausbesitzer mussten, um Deutschland verlassen zu können, die Reichsfluchtsteuer entrichten. Sie war so hoch bemessen, dass die Häuser selbst nicht reichten, diese Steuer zu decken. So musste auch das ganze mobile Vermögen dafür verwendet werden.

Viele hielten diese Drangsalierungen nicht aus und begingen Selbstmord. Die Zahl der jüdischen Selbstmörder betrug einige Hundert.

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