Jüdische Jugend mit Perspektive?
Das „Israelitische Familienblatt“ druckt am 3. Februar 1938 einen Artikel von Alfred Hirschberg über die Perspektiven der jüdischen Jugend:
Was sollen unsere Kinder werden?
Große und drückende Probleme stürmen alltäglich auf uns ein und fordern unsere Stellungnahme, wodurch sie uns gleichzeitig mitverantwortlich machen für das Schicksal des jüdischen Volkes und für die Lösung der Frage des Judentums in Deutschland.
Eine solche Frage, die je nach der Einstellung des einzelnen fatalistisch oder produktiv, resignierend oder einsatzbereit gelöst werden kann, ist die Berufsfrage. Gewiß gibt es auch hierfür keine allgemein gültige Patentlösung, aber über eines müssen wir uns klar sein: Schulentlassung bedeutet für jeden jungen Menschen den Beginn eines neuen Lebensabschnittes, und die Entscheidung über Inhalt und Gestaltung dieses in naher Zukunft beginnenden Abschnittes legt denen, die sie fällen, eine schwere Verantwortung auf. Wer muß in erster Linie die Verantwortung übernehmen? Natürlich die Eltern, deren Kinder jetzt die Schule verlassen, dann die Kinder selbst, die sich der Tragweite dieser Berufswahl in den meisten Fällen durchaus bewußt sind, schließlich aber auch die jüdischen Organisationen, die sich - sozusagen berufsmäßig - für die von ihnen beratenen Kreise verantwortlich fühlen.
Angesichts der gegenwärtigen Ausweglosigkeit versuchen viele Eltern, irgendwelche Zwischenlösungen zu finden, um die letzte Entscheidung hinauszuzögern. Und doch kann man diese Frage nicht nach dem Grundsatz „Zeit gewonnen, alles gewonnen“ behandeln. Man muß sich klar machen, daß unsere Jugend nichts Kostbareres besitzt als diese Lebensjahre, und daß man sie vor ernstzunehmende Aufgaben stellen muß, um sie für vieles zu entschädigen, was ihr verschlossen ist.
Beschäftigt man sich näher mit der Frage der Berufswahl, so erkennt man schnell, daß die Ausbildungsmöglichkeiten der Jugend hier außerordentlich begrenzt sind. So ergibt es sich von selbst, daß der Wunsch, dem Kinde eine vermeintlich „höhere“ soziale Einordnung zu ermöglichen, ebenso illusorisch geworden ist wie der einst typische Wunsch, „meine Kinder sollen es einmal leichter haben als ich“. Wir können unseren Kindern kein „leichtes“ Leben sichern, aber wir können Fehler vermeiden, die die gesellschaftliche Schichtung der Juden in der Vergangenheit so ungesund und wenig krisenfest gestaltet haben. Dazu aber ist es notwendig, den Kindern das Rüstzeug mitzugeben, das ihnen eine Existenz im anderen Lande, unter veränderten Voraussetzungen ermöglicht.
Wenn aber die Eltern keinen Ausweg finden, dann können die öffentlichen jüdischen Stellen ihnen beratend und helfend zur Seite stehen. Sie haben die Aufgabe, verantwortungsvoll und planmäßig die Auswanderung der jüdischen Jugend vorzubereiten, zu überwachen und im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel in Fällen der Bedürftigkeit auch zu finanzieren.
Wichtig ist vor allem, möglichst konjunkturunabhängige und damit krisenfeste Berufe zu wählen. Als in diesem Sinne gesund sind in erster Linie Landwirtschaft und Gartenbau, in zweiter Linie das Handwerk zu bezeichnen.
Von dieser Erfahrung ausgehend, möchten wir hier auf zwei Wege hinweisen, die bereits erprobt sind und in pädagogischer und menschlicher Hinsicht den Vorzug aufweisen, dem Leben des Jugendlichen einen Inhalt zu geben und es aus der Sphäre des bloßen Existenzkampfes in den Bereich einer Idee zu tragen: Jugend-Alija und Mittleren-Hach-schara. Beiden ist das Ziel, Palästina, gemeinsam, während der Weg verschieden ist. Die Jugend-Alija ist - ebenso wie die Mittleren-Hachschara - Jugendlichen unter 17 Jahren zugänglich. Wie aber der Name sagt, besteht ihr Wesen in der Alija, d.h. die körperlich und geistig den Anforderungen gewachsenen jungen Menschen gehen nach verhältnismäßig kurzem Vorbereitungslager gemeinsam mit der Gruppe, der sie angehört haben, nach Palästina, wo sie zwei Jahre lang fachlich und theoretisch in Landwirtschaft, Viehzucht, Obst- und Weinbau oder im Handwerk ausgebildet werden. Außerdem findet eine gründliche geistige Schulung in Hebräisch, Palästinakunde, Naturwissenschaft usw. statt. Mit Rücksicht auf die Endgültigkeit der Auswanderung muß an die Bewerber in bezug auf Charakter sowie Gesundheit ein strenger Maßstab angelegt werden.
Für die Mittleren-Hachschara ist gleichfalls die Gruppen-Ausbildung charakteristisch. Die Schulung erfolgt aber hier in Deutschland auf zahlreichen Lehrgütern, soweit es sich um landwirtschaftlich-gärtnerische Ausbildung handelt, oder in den Lehrwerkstätten der Jüdischen Gemeinden, falls der Jugendliche handwerklich Begabung zeigt. Wertvoll ist es, daß der junge Mensch vom Beginn seiner Ausbildung an ein festes Zugehörigkeitsgefühl zu einer den gleichen Zielen zustrebenden Gemeinschaft erhält. Dadurch wird seine geistige und seelische Entwicklung aus der individualistischen Vereinsamung gelöst und Kräfte entfaltet, die dem Gemeinwesen ebenso wie dem einzelnen zugute kommen.
So schwer den Eltern auch die Trennung von ihren Kindern fallen wird, so kann ihnen doch das Bewußtsein tröstlich sein, daß die junge Generation einen Weg des Aufbaus, der körperlichen und geistigen Wiedergeburt geht, und daß die Gemeinden und sonstigen jüdischen Stellen in steter Sorge bemüht sind, diesen Weg so weit wie möglich zu erleichtern.