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Chronik und Quellen
1938
Januar 1938

Werbung für Auswanderung von Frauen

Im Jüdischen Gemeindeblatt für Berlin wirbt der Hilfsverein am 30. Januar 1938 für die Auswanderung von Frauen:

Mehr Frauenauswanderung! - Der Hilfsverein der Juden in Deutschland stellt uns folgende Ausführungen zur Verfügung:

Über wenige Fragen ist sich die gesamte Judenheit Deutschlands so einig, wie über die unbedingte Notwendigkeit der Verstärkung der Auswanderung. Von dieser Übereinstimmung zeugen nicht nur alle Beschlüsse unserer maßgebenden Organisationen und immer wiederholte Äußerungen unserer Presse, sondern vor allem der kaum noch zu bewältigende Andrang der Auswanderungswilligen zu den Beratungsstellen des Hilfsvereins und die rastlose, angespannte Arbeit dieser großen Organisation. Aber während viele Tausende zur Auswanderung drängen, denen eine Einwanderungsmöglichkeit nicht eröffnet werden kann - weil sie zu alt sind, weil sie keinen im Ausland brauchbaren Beruf verstehen oder aus anderen Gründen - gibt es auf der anderen Seite noch eine wichtige Kategorie auswanderungsfähiger Menschen, deren Auswanderungswilligkeit gesteigert werden könnte: unsere Mädchen und Frauen.

Die bisherige jüdische Auswanderung aus Deutschland weist einen starken Überschuß an Männern auf, dessen genauer Umfang sich zwar nicht ermitteln läßt, der aber sicher viele Tausende beträgt. Diese Erscheinung ist an sich nicht unnatürlich. Im Gegenteil, fast bei jeder Auswanderungsbewegung ist ein Männerüberschuß zu verzeichnen. Liegt es doch in der Natur der Frau, daß sie stärker am Hause, an den Eltern und der Heimat hängt als der Mann mit seiner Unternehmungslust und seiner Sehnsucht nach der Ferne. Früher, während der Erschließung großer überseeischer Gebiete bestand deshalb die Auswanderung - zumal bei den mangelhaften Transportverhältnissen - ganz überwiegend aus Männern, woraus sich noch heute zum Teil die gehobene Stellung der Frau in angelsächsischen Einwanderungsländern erklärt. Und wenn auch inzwischen in vielen Überseeländern das Leben äußerlich so zivilisiert und sicher geworden ist, daß die Frau dorthin ebensogut auswandern kann wie der Mann, so halten doch die gerade bei uns Juden traditionell starken Familienbande das junge Mädchen und die alleinstehende Frau oft von der Auswanderung zurück. Andererseits waren auch bisher die Erwerbsmöglichkeiten für die jüdische Frau in Deutschland verhältnismäßig günstig. Während Zehntausende von jüdischen Männern ihre Stellungen verloren, ohne in Deutschland Aussicht auf einen neuen Erwerb zu haben, konnten die Frauen im Büro, vor allem aber, infolge der Nürnberger Gesetze, im Haushalt verhältnismäßig leicht hier ihr Brot finden. Deshalb fehlte häufig der Hauptantrieb der Auswanderung für die Frau: die materielle Not.

Unter diesen Umständen war es gewiß kein Wunder, daß viele jüdische Eltern, deren Söhne längst in Übersee weilten, sich einen Trost erhalten wollten: „Wenigstens unser Mädel bleibt hier!“ Und die Töchter fühlten die Wichtigkeit ihrer Rolle als seelische und materielle Stütze der alten Eltern und sahen sich nach Auswanderungsmöglichkeiten nicht um. Aber weil dieser an sich natürliche Vorgang so oder in ähnlicher Form tausendfach wiederkehrte, entstand eine Massenerscheinung, die zu außerordentlich schweren Mißständen führt. Denn es liegt auf der Hand, daß im gleichen Maße, in dem die Auswanderung der Männer im heiratsfähigen Alter die der Frauen übersteigt, die Heiratschancen für die zurückgebliebenen Mädchen in Deutschland sinken müssen, während auf der ändern Seite die eingewanderten jungen Männer in den überseeischen Ländern häufig nicht die Möglichkeit zur Gründung einer jüdischen Familie finden, weil es kaum irgendwelche jüdischen Mädchen in ihrem Umkreise gibt. Befinden sich nun unsere jungen Auswanderer in Ländern, wie den Vereinigten Staaten, wo es eine zahlreiche ansässige Judenheit gibt, so haben sie dort zwar die Möglichkeit einer jüdischen Heirat, aber die sprachlichen und kulturellen Unterschiede zwischen Eingewanderten und Ansässigen sind oft so bedeutend, daß entweder schon die Eheschließung selbst daran scheitert oder von vornherein eine besondere Problematik in die Ehe hineinkommt. Weit gefährdeter aber ist die Lage unserer ledigen Auswanderer in den Ländern ohne eine zahlenmäßig bedeutende Judenheit. Diese stehen häufig vor der Wahl, entweder ledig zu bleiben - mit allen Konsequenzen, welche dies in gesundheitlicher Hinsicht mit sich bringt - oder aber nichtjüdische Frauen zu heiraten, was meistens nicht nur den Verlust der Nachkommenschaft für die jüdische Gemeinschaft zur Folge hat, sondern wegen der ungeheuren kulturellen, religiösen und sonstigen Gegensätze auch zu besonders schwierigen, ja von vornherein unharmonischen Ehen führt. Dieses Problem wird in vielen überseeischen Ländern bereits als sehr brennend empfunden.

Was muß nun zur Abstellung dieser Mißstände geschehen? Es handelt sich vor allem -eine erschöpfende Behandlung dieses wichtigen Themas ist hier nicht möglich - um folgende Gesichtspunkte. In erster Reihe müssen sich unsere jungen Auswanderer künftig darüber klar sein, daß sie im allgemeinen daran gut tun, sich vor ihrer Übersiedlung in ein überseeisches Land an die künftige Lebensgefährtin zu binden, und zwar in der Regel durch Eheschließung. Gehen zwei junge Menschen in die Fremde, so finden sie aneinander nicht nur seelisch den besten Halt, sondern in sehr vielen, ja vielleicht den meisten Fällen, wird es der weibliche Teil sein, der zuerst einen Broterwerb findet, so daß auch der materielle Existenzkampf durch eine Eheschließung vor der Auswanderung eher erleichtert als erschwert wird. Darüber hinaus aber werden jene Gefahren vermieden, von denen oben ausführlicher die Rede war, und die zum Verlust wertvollster jüdischer Substanz für die Gemeinschaft führen müßten. In dieser Hinsicht wird es besonders auf die jüdische Haltung der Mädchen ankommen, da erfahrungsgemäß die Atmosphäre des Hauses, die Erziehung der Kinder vor allem von der Frau abhängt. Ebenso notwendig ist eine grundsätzliche Änderung in der Haltung der jüdischen Eltern, die bisher nur allzu oft ihre auswanderungsfähigen Töchter hierbehalten haben. Selbstverständlich „eines schickt sich nicht für alle“, es mag sehr wohl Fälle geben, in denen es gerechtfertigt ist, daß die erwachsene Tochter den Eltern zur Seite bleibt. Aber wer die Wünsche unserer jüdischen Eltern für die Zukunft ihrer Töchter kennt, wird mit Bestimmtheit erwarten dürfen, daß sie diese nicht aus rein egoistischen Gründen von der Auswanderung zurückhalten werden, wenn sie sich einmal darüber klar sind, daß sowohl die beruflichen Aussichten wie die Heiratschancen in den überseeischen Ländern sehr viel besser sind als in Deutschland.

Allerdings muß betont werden, daß nicht jedes Mädchen ohne weiteres zur Auswanderung geeignet ist. Vielmehr muß sie, abgesehen von einer gewissenhaften Ausbildung, auch bestimmte menschliche Qualitäten besitzen. In beruflicher Hinsicht ist eine gründliche Beherrschung der Hauswirtschaft zu fordern und die Bereitschaft, wenigstens vorübergehend eine Stellung im Haushalt anzunehmen, selbst wenn ein anderer Beruf als Ziel vorschwebt.

Die großen jüdischen Auswanderungsorganisationen des In- und Auslandes, d.h. in erster Linie der Hilfsverein, werden künftig der Frauenauswanderung besondere Aufmerksamkeit widmen. Das heißt einmal, daß der Auswandererberater mit dem jungen Auswanderer offen die Frage erörtern soll, ob er sich nicht vor der Übersiedlung binden solle - wobei die zweckmäßige Form (Eheschließung oder nur Verlobung) je nach dem Einwanderungsland und je nach seinem (und ihrem) Beruf zu wählen sein wird. Darüber hinaus wird aber der Hilfsverein in engster Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Frauenbund hier um eine geeignete Auswahl auswanderungswilliger Mädchen bemüht sein, und zusammen mit den überseeischen Komitees und Frauenorganisationen wird dafür gesorgt werden, daß die Betreuung alleinstehender Mädchen und Frauen soweit gewährleistet ist, daß der Auswandererberater jüdischen Eltern gegenüber die Verantwortung dafür übernehmen kann, ihre Tochter allein den Weg in die Ferne antreten zu lassen. Tüchtige Kräfte, die bereit sind, sich einzuordnen, die ferner die Sprache des Einwanderungslandes beherrschen und gesundheitlich wie menschlich allen Anforderungen entsprechen, die ein Leben in der Fremde stellt, werden nicht nur sich selbst ihren Weg bahnen, sondern auch dazu beitragen, daß neue Zellen des jüdischen Lebens sich bilden, durch die vielleicht noch ihren Eltern, sicher aber ihren Kindern die Fremde zur Heimat werden kann.

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