Bericht über die „Vertreibung“ aus Berlin
Mitte November 1938 schreibt Max Karp an einen Verwandten in den USA, um ihm über seine Ausweisung aus Berlin am 28. Oktober 1938 zu berichten:
Lieber Gerhard
Seit etwa 3 Wochen befinde ich mich hier in Zb. [Zbaszyn ] (früher Bentschen) auf polnischem Boden an der deutschen Grenze, wo ca. 8-10000 jüdische Menschen, die aus Deutschland vertrieben wurden, teils in Baracken, teils in Quartieren liegen.
Am 28.10. wurden wir in Berlin ab 6 Uhr früh aus den Betten heraus von der Polizei verhaftet und in der Kaserne Kl[ei ne] Alexanderstr. aus den Bezirken Bin [Beriin]- Mitte, Norden, Tiergarten zum Abtransport gesammelt. In Berlin wurden nur Männer im Alter von 15- ca. 90 Jahren von dieser Aktion betroffen. Die Polizeibeamten überreichten uns ein Formular in der Wohnung, worauf stand, daß wir das Reichsgebiet binnen 24 Stunden zu verlassen haben. Diese Frist wurde uns nicht gegeben und [wir] mußten den Beamten folgen, sobald wir angezogen waren und kaum Zeit mehr übrig blieb Kleidung und Wäsche etc. mitzunehmen. Nur dürftig bekleidet und mit nur ein paar Mark habe ich Deutschland verlassen müssen.
In anderen Städten und Provinzen des Reichsgebietes wurden die gesamten jüdischen Familien [mit polnischer Staatsangehörigkeit], die dort lebten, am Donnerstag Abend d. [den] 27.10. verhaftet und über Nacht in Zeilen gesperrt, wo man keine Rücksicht auf Säugiinge, Kinder, Schwangere und Greise noch auf Erkrankte nahm. Das Letztere traf auch auf Berlin zu.
Nachdem die Sammelaktion in Berlin durchgeführt war, wurden wir in halb geschlossenen oder etwas verdeckten Lastautos und unter Bewachung von der Polizeikaserne nach einem Güterbahnhof in Treptow nahe Neukölln gebracht. Vor der Kaserne und in den angrenzenden Straßen spielten sich ergreifende Szenen der in Berlin zurückgebliebenen Frauen, Mütter + Kinder ab. Ein Auto nach dem anderen verließ mit uns den Kasernenhof, ein[e] lange Kette dieser Monstrewagen [Lastwagen] schlängelte sich über den „Alex“ [Alexanderplatz] weiter durch die Stadt unter ungeheurem Sirenenlärm der Autos, der wohl absichtlich gemacht wurde, um die Bevölkerung Berlins auf unseren zwangsweisen
Abtransport aufmerksam zu machen. Die Menschen stauten sich in den Straßen; sie sollten Zeugen sein der „historischen“ Austreibung von Juden aus Deutschland.
An den Bahngleisen in Treptow angekommen, verließen wir die Autos [...]. Vor Besteigung der Züge wurden wir in Gruppen eingeteilt und mussten dann unsere Pässe abgeben, währenddessen stand vor uns aufmarschiert eine Kompagnie Schupos [Schutzpolizisten], die gerade ihre Gewehre ladeten [luden], was uns wohl absichtlich gezeigt werden sollte. Diese Mannschaften begleiteten uns während der Fahrt, außerdem Gestapo und Ausländerpolizei. […]
In Neu Bentschen mussten wir aussteigen und jede Gruppe vor ihrem Wagen zunächst stehen bleiben. Dort wurden wir namentlich aufgerufen und bekamen dann unsere Pässe, in denen das deutsche Aufenthaltsvisum ungültig gemacht worden war, wieder ausgehändigt. [...] Es war ungefähr 7 Uhr abends, als wir in Marsch gesetzt wurden. […]
Da wir einige Gebrechliche in unseren Reihen hatten, mussten wir sie mitschleppen. Die uns begleitenden Polizeimannschaften trugen Gewehre mit aufgepflanzten Bajonetten. Hin und wieder wurden wir von kleinen Scheinwerfern beleuchtet, damit sich auch keiner „verkrümeln“ konnte. Ein bestimmtes Marschtempo mußte von uns eingehalten werden, es war schon mehr eine Treibjagd! Wer nicht mithalten konnte, wurde mit schmerzhaften Schlägen und Rippenstößen vorwärts getrieben. [...] Nachdem wir ungefähr 7 Kim [Kilometer] marschiert waren, mussten wir plötzlich mäuschenstill sein. Die Polizeimannschaften zogen sich allmählich zurück oder einzelne Beamte blieben stehen, während wir langsam weiter marschieren mußten. […]
Unweit der Grenze machten wir vor einem polnischen Grenzhäuschen halt […]. Zwei Grenzpolizisten traten aus ihrem Häuschen und waren erstaunt, eine kaum übersehbare Menschenmenge vor sich zu haben.