Brief von Hedwig Bielschowsky aus Wiesbaden an Ludwig und Wilhelm Bielschowsky
Hedwig Bielschowsky blickt am 26. Mai 1942 in einem Brief an ihre emigrierten Söhne auf die Schikanen der letzten fünf Jahre zurück, die sie und ihr Mann erlebt haben:
Mein lieber Ludwig, lieber Wilhelm!
Ich befürchte sehr, wir werden uns nicht wiedersehen, so sollt Ihr doch hierdurch erfahren, wie es uns hier in den letzten Jahren ergangen ist. Es geht uns beiden gesundheitlich nicht gut, namentlich Vater ist schwer krank, doch davon später.
Wie wir nach hier kamen, ging es uns ganz gut, man konnte zufrieden sein. Wir hatten eine schöne Wohnung, konnten überall hingehen, wir waren gut zu Fuß und haben schöne Touren gemacht. Vater hatte hier ein Haus gekauft, es wohnten 8 Familien darin, wir hatten von demselben einen Überschuß von monatlich 180 M. Dann kam der 9. Novbr. 1938 und es wurde alles anders. Angeblich hatte ein polnischer Judenjunge von 16 Jahren in Paris einen deutschen Angestellten der Gesandtschaft erschossen, und dieses mußten die Juden und Nichtarier hier büßen. Schon vorher mußten wir angeben, was wir an Vermögen, Silber, Schmuck, Gemälden und sonstigen Kunstgegenständen besitzen. Wir mußten 12.000 M Judenabgabe bezahlen, Silber und Schmuck abgeben, wofür uns so viel wie nichts vergütet wurde. Die J. mußten, ganz gleich, welches Einkommen sie hatten, die höchsten Steuern und dann noch extra 15% bezahlen. An dem 9. Novbr. kamen alle Männer, von 18 Jahren an, ins Konzentrationslager. Es war ein Glück, daß wir so außerhalb der Stadt wohnten und man uns so wenig kannte, dadurch wurde der Vater davon verschont.
Von dieser Zeit an wurde es immer schlimmer, es gab fast kein Geschäft, kein Lokal mehr, an dem nicht stand für Juden verboten, weil wir aber so wenig bekannt waren gingen wir doch überall hin. Das Haus mußten wir verkaufen, es wurden uns alle Steuererleichterungen, die die Arier hatten, genommen, es mußte ein arischer Verwalter stellt werden, so daß wir gar keinen Überschuß, sondern noch Verlust hatten Trotzdem Vater es zu demselben Preise, wie es gekauft war, verkauft hatte, wurde dieses nicht genehmigt; wir mußten noch 10 Tausend Mark herauszahlen. Der Vertrag mit der Firma wegen der Pension lautete auf vorläufig 3 Jahre, als Vater dieses seinerzeit beanstandet hatte, wurde ihm gesagt, daß sie mit allen Herren immer nur auf 3 Jahre und dann weiter Vertrag machen. Einige Monate bevor der Vertrag abgelaufen war, schrieb Vater an den Vorstand und bat um einen neuen Vertrag, da wurde ihm mitgeteilt, daß man uns nur noch ein Jahr monatlich 300 M zahlen würde und dann überhaupt nichts mehr. Vater ging hier zum Anwalt mit allen Unterlagen, und dieser riet sehr zu einer Klage beim Arbeitsgericht, die Kosten wären nicht sehr hoch, so daß auch ich sehr dazu geraten habe. Der Prozeß lief sehr lange, wurde immer wieder vertagt, alle Zeugen, die Vater gestellt hat, haben zu seinen Gunsten ausgesagt. Jetzt ist das Urteil gefällt worden, wir haben den Prozeß verloren, Juden haben keinen Anspruch an Pensionen. Vor einiger Zeit stand eine Notiz in der Zeitung, bevor ein Richter ein Urteil fällt, muß er sich immer selbst fragen, „wie würde in diesem Falle der Führer urteilen“, dieses ist bezeichnend, und so sind heute die Richter eingestellt. Nun haben wir schon seit 2 Jahren keine Pension, und die Prozeßkosten sind beinah noch 1.000 M.
Ich weiß nicht, ob Ihr von den Evakuierungen schon etwas gehört habt. In vielen Städten bekommen die Juden Bescheid, daß sie sich in 2 Stunden an einer bestimmten Sammelstelle einzufinden haben, nur mit Handgepäck. All ihre Sachen, ihre Möbel u.s.w. werden dann versteigert, und der Erlös fiel dem Reich zu. So wurde es in ganz Baden und noch vielen anderen Städten gemacht. Wir haben nun, um nicht alles zu verlieren, schon vor 2 Jahren, als es noch erlaubt war, unsere ganzen Sachen Lotte geschenkt. Die Schenkung haben wir durch einen Notar gemacht, die Kosten waren ziemlich hoch, mit Steuern an 1.200 M, denn das Finanzamt hat die Sachen vom vereidigten Taxator noch prüfen lassen. Hoffentlich hat die Sache auch ihren Zweck und die hohen Ausgaben sind nicht umsonst gewesen. Wir sitzen wie auf einem Pulverfaß, wissen nicht, was morgen geschieht, immer wieder hört man, dort und dort sind wieder welche fortgekommen Meine Schwestern, Eure Tanten in Berlin, hatten auch schon ihren Bescheid bekommen, sich für einen bestimmten Tag bereitzuhalten. Tante Minna, die 2 Monate vorher operiert worden war, war nicht transportfähig, so wurde es noch verschoben. Zwei Cousinen in Berlin, die schon über 70 Jahre alt sind, sind auch noch fortgekommen Keiner weiß, wohin der Transport geht, aber größtenteils geht es nach Polen. Viele nehmen sich vorher das Leben, so Arthur Segall mit seiner Frau, die Du, lieber Wilhelm, noch kennst, die Tochter ist in London. Auch die Frau von Georg Segall hat sich vergiftet der Mann starb vor 2 Jahren. Meine [... ] war, auf keinen Fall eine evt. Evakuierung mitzumachen, denn das Leben im Getto soll einfach scheußlich sein, aber Vater will durchaus durchhalten, solange es irgend geht, und so elend, wie er jetzt ist, möchte ich ihn nicht allein lassen.
Die Gestapo, geheime Staats-Polizei, kann machen, was sie will, alle Augenblicke kommen neue Verordnungen heraus, sie schreiben der jüdischen Gemeinde, das und das wird angeordnet, und die Gemeinde muß es dann den Juden, zu denen wir ja nun auch Berechnet werden, mitteilen. Die Öffentlichkeit erfährt nichts davon, die Arier haben keine Ahnung, was wir zu erdulden haben. Längst hätten wir uns auch eine billigere Wohnung genommen, aber der Umzug ist sehr teuer, es nimmt uns keiner auf. Unser Wirt und auch unsere Mitbewohner sind riesig anständig und nett zu uns, denn wenn heute nur ein Mitbewohner nicht mit J. zusammen wohnen will, muß man morgen aus der Wohnung heraus. Vergangenen Winter hat hier in Wiesb. eine Bombe mehrere Häuser zerstört, da mußten viele Juden denen, die davon betroffen wurden, ihre Wohnungen mit allen Sachen überlassen und sehen, wo sie unterkommen. Man glaubte, im Kriege hätten sie was anderes zu tun, als Juden zu verschicken, aber es ist noch viel schlimmer geworden. Jetzt im Krieg sind wir mit allem ganz schlecht dran. Wir bekommen natürlich keine Kleiderkarte, können absolut nichts kaufen, nicht einmal ein wenig Stopf-oder Nähgarn. Zum Glück hatten wir schon für die Auswanderung vorgesorgt und sind daher mit Kleidern, Schuhen und Strümpfen versorgt gewesen, wenn man uns die Sachen nicht noch nimmt. Was bei den Ariern freiwillige Abgabe ist, ist bei den Juden Pflicht und wird streng bestraft, wenn man es nicht tut. So war doch im vergangenen Winter die Sammlung von Wollsachen u. Pelzen, da mußten die Juden alle Pelze, die sie besitzen, abgeben und durften an Wollsachen nur das allernotwendigste behalten. Zufällig war an dem Tage gerade Althf. [Walter Althoff] bei uns, und da habe ich ihm die Pelzsachen, die einigen Wert hatten, mitgegeben.
Doch nun will ich Euch schreiben, wieso es Vater so sehr schlecht geht. Im vergangenen Jahre kam, wie Ihr wohl auch erfahren habt, die Verordnung, daß man einen gelben Judenstern tragen mußte. Ihr könnt Euch wohl denken, daß wir da große Hemmungen hatten. Wir trugen ihn immer verdeckt, nur wenn ich beim Metzger war, wir hatten unsere besonders gezeichneten Lebensmittelkarten u. durften nur beim bestimmten Metzger u. zu einer bestimmten Zeit kaufen, zeigte ich den Stern, Vater machte es ebenso. Am 28. Novbr. ging Vater in die Stadt, um für mich Besorgungen zu machen, er war immer pünktlich zu Hause, da wir schon um 12 Uhr zu Mittag aßen, diesen Morgen sagte er mir, es könnte etwas später werden, da er viel zu erledigen hätte. Es wurde 1 Uhr 2 Uhr, 3 Uhr, ich war in schrecklicher Sorge, glaubte, es wäre dem Vater etwas passiert, da seine Augen, wohl auch eine Folge der schlechten Ernährung, sehr schlecht geworden waren. Um 3 Uhr hielt ich es dann nicht mehr zu Hause aus, ich ging zu unserem Anwalt um mir Rat zu holen. Der Anwalt rief dann alle Krankenhäuser und Unfallstationen an, aber es war keine Einlieferung erfolgt. Der Anwalt glaubte nun, Vater hätte sich das Leben genommen, aber ich sagte gleich, das ist ausgeschlossen, Vater läßt mich in diesen schweren Zeiten nicht allein. Als ich nach Hause kam, war es 5 Uhr und von Vater noch immer keine Spur. Ich ging nun zu unseren Mitbewohnern, Dr. Voglers, der Herr ist beamteter Arzt, Oberarzt bei den Landesversicherungen, und sagte, mein Mann ist verschwunden. An der Straßenecke ist eine Telefonzelle, Fr. Vogler hat noch einmal alle Krankenhäuser angerufen, aber ohne Erfolg. Ich schilderte ihr nun unsere Lage u. sagte Fr. Vogler, ich glaube nun bestimmt, mein Mann ist verhaftet worden, weil er den Stern nicht getragen hat. Als Dr. Vogler vom Dienst kam, kam er sofort zu mir herauf, um mir mit Rat und Tat beizustehen. Dr. Vogler fuhr dann noch spät zum Polizeipräsidium und dort erfuhr er, daß Vater von der Gestapo verhaftet sei. Ich war natürlich sehr aufgeregt, ich wußte auch nicht warum, ich glaubte auch, er wäre beobachtet worden, wie er die beiden Schreibmaschinen zur Post getragen hat. Es kam nämlich einige Tage vorher die Verordnung heraus, daß J. ihre Schreibmaschinen und Ferngläser abgeben müssen, um nicht das Geld zu verlieren, die Maschinen waren wie neu, hat Vater dieselben einem Bekannten zum Verkauf geschickt. Ich habe dann noch in der Nacht die Correspondence wegen der Maschinen vernichtet, weil ich annahm, man würde eine Haussuchung halten.
Am nächsten Tage ging ich zum Anwalt, ich sagte ihm, Vater wäre verhaftet, ich glaubte, er würde ihn besuchen können, aber dieses ist nicht gestattet. Hierauf ging ich zum Polizeipräsidium, diese gaben mir fast zuvorkommend Auskunft, sagten, sie hätten mit der Sache nichts zu tun, ich müßte zur Gestapo gehen, u. sagten mir auch, wo diese ihre Büroräume haben. Ich nun dorthin, da wird man sehr schnöde behandelt, ich sagte, ich wollte gern wissen, weshalb mein Mann verhaftet ist, man sagte mir, der betreffende der den Fall behandelt, wäre jetzt nicht dort, ich müßte in einer Stunde wiederkommen. Vorher sah er noch im Buch nach und sagte, Vater hätte 10 Tage Haft, weil er den Stern nicht getragen hat. Ich war nun schon froh, daß es des Sterns wegen und nur 10 Tage waren. Als ich wieder hinkam, war der andere Beamte dort u. sagte, Vater hätte 3 Wochen Haft. Ich erlaubte mir zu sagen, der andere Beamte hätte doch nur von 10 Tagen gesprochen, die es bisher auch immer nur für derartige Vergehen gegeben hätte, da wurde ich natürlich sehr angeblasen, es wäre ihre Sache, wie lange sie Vater in Haft behalten können. Auf meine Bitte, ob ich Vater nicht sprechen könnte, da Monatsanfang es wären viele Sachen zu erledigen, ich wüßte nicht Bescheid, sagte er mir, ich sollte schreiben, aber nur geschäftlich, ihm den Brief bringen, er würde ihn dann weiterleiten. Ich wollte auch gern wissen, ob ich Vater nichts zu essen bringen könnte, ich wurde kurz abgewiesen, das machte das jüd. Hilfskomitee. Ich sollte ihm nur Samstag Wäsche, Rasierzeug, Handtuch u. Seife bringen und jeden Montag die getragene Wäsche abholen. Den nächsten Nachmittag brachte ich gleich den Brief zur Gestapo, die Antwort, wurde mir gesagt, bekäme ich durch die Post, diese Antwort habe ich dann erst nach 10 Tagen bekommen. Mit dem Hülfsverein habe ich mich in Verbindung gesetzt, sie sagten, sie dürften den Gefangenen nur Essen schicken, sagten auch, ich sollte mich nicht so sehr sorgen, sie hätten schon viele gesprochen, die in Haft waren, u. es wäre nicht so sehr schlecht, auch Heizung wäre in den Zellen, Vater hätte auch sicher etwas Unterhaltung, denn ein Dr. Katzenstein wäre auch schon längere Zeit in Haft. Mir wurde auch vom Anwalt gesagt, ich sollte froh sein, daß Vater im Polizeipräsidium ist, im Hause der Gestapo wären auch einige Zellen, und die Gefangenen, die dort untergebracht sind, hätten nichts zu lachen. Es waren nun schreckliche 3 Wochen für mich, Voglers, die ja Bescheid wußten, waren furchtbar nett. Fr. Vogler war jeden Abend bei mir oben und leistete mir Gesellschaft, ich habe ihr nun erzählt, was wir schon alles durchgemacht haben, sie hatten natürlich keine Ahnung davon. Meiner Putzfrau erzählte ich, Vater wäre in Berlin, er hätte Verschiedenes für meine Schwestern zu erledigen.
Am 18. Dezbr. kam Vater wieder, seelisch und körperlich vollständig erledigt, hätte ich ihn auf der Straße getroffen, ich hätte ihn nicht erkannt, so verändert sah er aus. Nun erzählte er mir, wie die Verhaftung vor sich gegangen war. Vater fand am 27. Novbr. im Briefkasten eine Mitteilung, er sollte am nächsten Vormittag, als Zeuge, zur Gestapo kommen, um mich nicht zu beunruhigen, hat er mir nichts davon gesagt. Da er als Zeuge geladen war, war er selbst auch nicht in Sorge. Bei der Gestapo wurde ihm gesagt, er wäre denunziert worden, er hätte den Stern nicht getragen, Vater sagte, er hätte den Stern immer getragen, es könnte höchstens sein, daß er im Hausmantel bis zum Briefkasten ohne Stern gegangen ist. Es war nun ein sehr langes Verhör, der Beamte sagte, ich sperre Sie für mehrere Monate ein und nehme sie gleich mit. Vaters vieles Bitten, ihm wenigstens zu gestatten, seiner Frau Nachricht zu geben, wurde nicht erlaubt. Vater hatte nun furchtbare 3 Wochen in der Haft verbracht, eine ganz kleine Zelle, keine 2 Schritt läng, ein hartes Bett, Stuhl, Tisch, das war alles. In den ersten 5 Tagen kam er nicht an die Luft, dann jeden Tag ½ Stunde immer um den Hof herum, das Essen war nicht zu genießen, so daß er fast nichts in der Zeit gegessen hat. Die Heizung war kaum an, so der Vater auch noch furchtbar gefroren hat, zum Glück hatte ich ihm mit der Wäsche seine warme Wollweste und seine Hausschuhe hingebracht. Vater wußte auch nicht, wie lange er dort bleiben mußte, durfte nichts lesen, früh um 6 Uhr aufstehen, den ganzen Tag nur denken, um 8 Uhr wieder zu Bett gehen, er sagt, es war zum Verzweifeln und er weiß heute noch nicht, wie er das überstanden hat. Zwei Tage bevor die 3 Wochen um waren, sagte der Wärter heimlich zum Vater, er hätte gehört, daß er am 18. Dzbr. freikommt. Der Gestapo-Beamte holte ihn dann ab, nahm ihn mit auf sein Büro erklärte ihm, wenn noch einmal etwas vorkommt, käme Vater ins Konzentrationslager, außerdem müßte Vater von jetzt an einen Tag in der Woche arbeiten. Die Gestapo haust in einer großen Villa, dort arbeiten viele Juden, und nun mußte Vater jede Woche einen Tag schwer arbeiten, Holz hauen, Koks schleppen und mehrere so schwere Arbeiten Dann kam der viele Schnee, und Vater bekam die Aufforderung, sich zum Schneeschippen bei der Stadt einzustellen. Nun mußte Vater jeden Tag, auch sonntags, arbeiten, ging früh um ½ 7 Uhr von zu Hause fort, da es sehr weit bis zur Arbeitsstätte war und kam des Abends um 7 Uhr wieder nach Hause, dann bekam ich seine Kleider und Wäsche nicht herunter, so durchnäßt war alles. Dieses alles hätte der gesündeste Mensch nicht ausgehalten, oft war das Wetter so schlecht, daß man keinen Hund herausgelassen hätte. Eine Stunde war Mittagspause, aber da es für Vater zu weit war, konnte er nicht nach Hause kommen, er aß dann sein mitgenommenes Butterbrot, das immer ganz hart gefroren war. Mit Vater arbeiteten viele Juden in seinem Alter, fast alles Akademiker diese wurden immer in den Hauptstraßen eingesetzt.
3 Wochen lang hat der Vater das ausgehalten, dann ging es nicht mehr, er mußte sich in ärztliche Behandlung geben. Der Arzt, den wir hier, schon so lange wir hier sind, haben, der auch nicht weiß, daß wir Nichtarier sind, denn sonst dürfte er uns nicht behandeln, bekam einen Schreck wie [er] den Vater sah. Vater lag dann 4 Wochen an den Bronchien mit hohem Fieber, oft war er so schwach, daß ich glaubte, es ginge zu Ende mit ihm, ich hatte große Sorgen. Als das Fieber nachgelassen hat, wurde Vater geröntgt und das Blut untersucht, der Arzt stellte dann eine perniziöse Anämie, bösartige Blutkrankheit fest, wie mir der Arzt und auch Dr. Vogler hier im Hause sagte, eine sehr ernste Sache, die eine Folge der Unterernährung ist. Vater bekommt nun jede Woche zwei Spritzen, Leber[tan], und 3 Mal die Woche wird er bestrahlt. Hätten wir besser zu essen, würde sich Vater wohl erholen, er wiegt 96 Pfd. und besteht nur aus Haut und Knochen. Mir geht es nicht viel besser, ich bin sehr elend, wiege mit Kleidern 101 Pfd. und bin ganz mager geworden. Es steht hier mit der Ernährung sehr schlecht, und noch einen Winter werden wir es kaum aushalten. Letzten Herbst, als Kartoffeln noch frei zu kaufen waren, hat mir Vater einen kleinen Vorrat herbeigeholt, damit bin ich ganz sparsam umgegangen, denn sonst hätten wir den ganzen Winter nicht eine Kartoffel bekommen. Die Juden dürfen Gemüse und Kart, nur nach 12 Uhr auf dem Markt kaufen, der Markt ist ¾ Stunden von unserer Wohnung entfernt, also hin und zurück 1 ½ Stunden, Autobus dürfen wir nicht benutzen, wenn man dann nach dem Markt kommt, ist nichts mehr da. Aber selbst wenn Kartf. auf dem Markt sind, heißt es, an Juden dürfen wir keine verkaufen. Die Arier haben auch nicht mehr Fett, Fleisch, Brot als wir, aber etwas besser sind sie doch versorgt. Die J. bekommen keine Milch, kein Obst, keine Konserven, keinen Fisch, keine Räucherwaren und noch vieles andere nicht. Wir sind off sehr hungrig, unsere Hauptnahrung ist Brot, Salat, und des Abends gibt es off nur Rettich. Es ist hart für mich, wenn ich dem Vater so nichts zur Stärkung geben kann. Der Arzt meint, wenn Vaters Kur beendet ist, müßte er wohin, wo es noch gute Verpflegung gibt, aber das ist ganz ausgeschlossen, wir J. dürfen nicht aus unserem Wohnort fort, müssen im Winter um 8 Uhr und im Sommer um 9 Uhr im Hause sein. Bis jetzt konnte ich hier draußen in den Gärten noch Gemüse kaufen, aber das ist jetzt auch verboten, die müssen jetzt alles abliefern und dürfen nicht an Private verkaufen.
Vor einigen Wochen bekamen wir durch die Gemeinde die Verordnung der Gestapo, daß die J. nichts von ihren Sachen verkaufen dürfen, weder Möbel, Kleider, Wäsche, Porzellan oder sonst etwas. Wir tun es nun trotzdem, denn wir müssen doch Geld zum Leben haben, haben schon Teppiche, Gemälde, Gläser und viele Sachen verkauft, und Vater denkt, daß wir 1-2 Jahre noch hinkommen werden, wer weiß, wo wir dann schon sind. Vor einiger Zeit mußten wir auch der Gestapo angeben, wie groß unsere Wohnung ist und wie viele Personen darin hausen, also wird man uns wohl nicht mehr lange in der Wohnung lassen. Wir bekommen dann 1 Zimmer zugewiesen, wie sie es schon viel gemacht haben. In der Krankheit besuchte den Vater ein Arbeitskamerad, der auch jetzt öfter kommt, und von dem erfahren wir dann so allerlei. Dieser Herr hatte in Mannheim eine große Cigarrenfabrik und bewohnte eine schöne Villa, an dem 9. Novbr. mußte er mit seiner Frau flüchten und alles im Stich lassen. Hier in Wiesb. bekam er von einem Verwandten, der gerade ins Ausland ging, eine vollständig eingerichtete Wohnung. Diese Wohnung mußte er bald einem Arier überlassen, der durch eine Bombe obdachlos geworden war, dann hauste er mit Schwager und Schwägerin in 2 kleinen Zimmern, und jetzt endlich hat er seine Möbel freibekommen und erhält 1 Zimmer für sich, ohne Küche, ohne alles, und er ist doch noch froh darüber. In den letzten Wochen sind wieder viele Juden fortgekommen, kurz vor Pfingsten, 28 Familien, diese wohnten in Häusern, die Juden gehörten. Die Gestapo brauchte die Häuser für sich, so mußten die J. binnen 2 Tagen räumen, kamen dann nach Frankfurt und von hier wahrscheinlich nach Polen. In dieser Woche sind wieder 350 Personen fortgekommen, es soll ein Jammer gewesen sein, viele haben sich vergiftet, Proviant müssen sie sich für mehrere Tage mitnehmen. Der Herr, der öfter zu uns kommt, erzählte, es kämen nur Männer und Frauen unter 65 Jahren fort, ich glaube es aber nicht, denn ich weiß, daß in Berlin viele fortgekommen sind, die weit über 70 Jahre waren.
Vor 14 Tagen kam auch die Verordnung, daß man an der Wohnungstür den Stern anmachen muß. Die ganze Sache hat sich hier furchtbar zugespitzt, so daß meine Putzfrau, die schon 4 ½ Jahre bei uns ist, nicht mehr wagt, zu uns zu kommen. Die Frau ist Mitte fünfzig, also nach den Nürnberger Gesetzen statthaft, bei J. zu arbeiten, aber die allmächtige Gestapo erlaubt es nicht. Ich muß mir nun alles allein machen, einholen, putzen, kehren, ja selbst waschen und bügeln, bei meinem Alter und bei dieser Ernährung keine Kleinigkeit. Wenn der Vater sich etwas wohl findet, hilft er, so viel er kann, aber es ist ein Jammer, wie der Mann aussieht, trotzdem hofft er sehr, daß der Krieg in diesem Jahr zu Ende geht und wir dann zu Ludwig können. Die letzte Verordnung, und die mich mit am schwersten trifft, ist, daß J. ihre Haustiere, Hunde, Katzen und Vögel abgeben müssen. Man hat wohl vergessen, uns hiervon Mitteilung zu machen, die jüd. Ztg. halten wir nicht, aber es wurde uns von dem betreffenden Herrn, der zu uns kommt, erzählt. Ich hänge sehr an Bello, er ist meine einzige Freude, bevor ich ihn abgebe, würde ich ihn lieber vergiften. Alth. kommt ab und zu, wenn er in der Gegend zu tun hat bringt auch schon mal eine Kleinigkeit mit, viel hat er auch nicht übrig, denn er muß für seine Tochter und seinen Sohn sorgen. Im ersten Kriegsjahr schickte uns ein früheres Mädchen, Anne, noch einige Lebensmittel, aber jetzt wagt es niemand, es wird zu streng bestraft. Lotte tut auch, was sie kann. Ich bin recht froh, daß Ihr, liebe Jungen, nicht hier seid, Ihr würdet längst in Polen sein und wer weiß, ob überhaupt noch am Leben. Ich will nun meine Niederschrift an Lotte schicken, damit sie aus dem Hause ist, man weiß nicht, was noch alles vor sich geht. Hoffentlich halten wir durch, so daß wir Euch alles selbst erzählen können.
Herzlichste Grüße von Vater und
Eurer Mutter