Menü
Chronik und Quellen
1942
Mai 1942

Tagebucheintrag von Tilly Cahn

Tilly Cahn berichtet in ihrem Tagebuch unter dem 8. Mai 1942 von Deportationen und der Situation der Frankfurter Juden:

Der Transport ist weg. Noch heute nacht wurden einige aus den Betten geholt, mußten à tempo, völlig unvorbereitet, mit, z. T. als Ersatz für solche, die sich das Leben genommen haben. Es ist eine förml. Beruhigung, an die Toten zu denken. Beim Einsteigen in den Zug heute in aller Frühe soll die SS sich wieder was geleistet haben an Roheit, Mißhandlungen. Die armen Menschen wurden am Tag vorher in der Großmarkthalle gesammelt. Zug geht vom Ostbahnhof. Ich war mehrfach bei einer lb. 64 ½-jährigen Frau in der Nachbarschaft, die auch mitmußte - wie sie ihre Sachen packte u. immer wieder umpackte, wie erstarrt, wie in Trance, dazwischen immer wieder das Bild ihrer einzig. Tochter in Amerika ansehend, Gott um Hilfe anflehend - „ich weiß, daß ich in furchtbares Verderben hineingehe.“ Wann ist das Maß voll? Frau Beran u. ihre Mutter sind glücklich tot.

Am 4. Mai hatten wir alle 5 noch mal ein seltenes Kunsterlebnis: Kammermusik, Trio Edwin Fischer, Kulenkampf, Enrico Mainardi. 1 Brahms-Trio, Beethov. Geistertrio u. vor allen Schubert b Dur Trio - beim langsamen Satz liefen mir die hellen Tränen. Pater saß in d 2. Reihe Balkon, mit uns, unter der Orgel d. h. sehr versteckt! Er hat es wohl ganz bes genossen. Schließl. ist man gerade im Schmerz auch sehr empfänglich. Ich las gestern früh, in Frau Berans Todesstunde, die Stelle aus Effi Briest, ihr müßt sie lesen, Kinder ganz zum Schluß vor ihrem Tod. Da löste sich auch bei mir die Starre der letzten Tage, ich empfand wohltuend, weinen zu können - mir kam gerade Melchior in diesem Erschütterungsmoment. Es schadete aber schließlich nicht. Er ist jetzt schon in Wien, mit s. Schwester. Ich lese Thornton Wilder, the bridge of San Louis Rey. Von dem Grauen dieser Tage ist noch zu berichten: aus dem jüd. Krankenhaus haben sie 21 Schwestern geholt - nicht auszudenken, wie der ohnehin entsetzl. erschwerte Betrieb weitergehen soll. Ebenso systematisch aus Pensionen, Altersheimen die jugendl. Hilfskräfte. Noch gestern nacht um 11 Uhr völlig unvorbereitet einige Menschen aus den Betten -weil irgendwie die Zahl 1.100 noch nicht voll war. Da die Leute nicht Trambahn fahren dürfen, mußten sie mit ihrem Gepäck zu Fuß an die Großmarkthalle. Spießrutenlaufen dazu! Und draußen blüht der Mai: Kastanien, Flieder, Glyzinien, Apfelbäume - es tut einem nur weh, diese Schönheit.

Bei Neu-Guinea ist eine Seeschlacht im Gang, zw. Japanern - Engld. u. Amerikanern. Von ihrem Ausgang wird viel abhängen für d. Schicksal Australiens. Ruth, mein liebes Mädel, wie wirst du nur mit allem fertig - ohne je mit dem Papi die Lage besprechen zu können. Ich habe gest. ab[en]d (als die 3 Lieben im Freit[ags] Konzert waren) zu Pater gesagt: Wenn wir zwei und unsere 6 Kinder gesund u. lebend diese grauenvollen Zeiten überstehen - es wäre wie ein Wunder. Übr. sind in den letzten Nächten öfter Alarme gewesen, u. vor 3 Tagen wurde in der Oberräder Gegend ein Flieger brennend abgeschossen.

Baum wird geladen...