Brief von Erich Langer aus Essen an seinen Sohn Klaus Jacob
Erich Langer berichtet seinem Sohn Klaus Jacob am 12. Januar 1942 über die ersten Deportationen von Essener Juden, seinen sinkenden Lebensmut und die Erfahrungen beim Arbeitseinsatz:
Seit dem Tode der guten Mama [Sept. 1941] ging es mit unserem Schicksal hier rapide bergab. Wir haben heute den 12. Januar 1942 - ich schreibe den Brief in Etappen - und ich muß leider sagen, daß sich in den letzten vier Monaten nichts Erfreuliches ereignet hat. Am Todestage von Mama kam die Bestimmung heraus, daß wir auf unsern Kleidungsstücken den Davidstern in gelber Farbe mit der Aufschrift „Jude“ tragen müßten und daß wir unsern Wohnsitz nur mit polizeilicher Genehmigung verlassen dürfen. Und dann begannen etwa 6 Wochen später die entsetzlichen Abtransporte von Juden nach dem Osten in Hunger und Kälte. Der erste Transport aus dem Rheinland, an dem etwa 130 Essener beteiligt waren, ging Ende Oktober ab, der zweite mit etwa 250 Essenern 14 Tage später. Die Armen durften nur 50 Pfund Gepäck mitnehmen, außerdem Proviant für die dreitägige Reise und Lebensmittel (Nährmittel) für 3 Wochen. Das ganze Vermögen der Abtransportierten ist dem Staate verfallen. Der erste Transport ging nach Litzmannstadt (Lodz), von dem zweiten sind bis heute noch keine bestimmten Nachrichten da. Er soll nach Minsk gegangen sein. Die arme Tante Kaethe ist auch abtransportiert worden. Nachricht von ihr habe ich noch nicht erhalten. Wie sehr uns alle das Schicksal dieser Ärmsten erschüttert hat, brauche ich Dir nicht zu sagen. Und dazu kommt, daß auch über uns das Damoklesschwert stets hängt und wir uns immer fragen müssen: Wann kommst Du an die Reihe. Wenn ich mitgehen muß, so habe ich mich entschlossen, wenn irgend möglich, durchzuhalten in dem Gedanken an Dich und in der Hoffnung, Dich noch einmal wiederzusehen. Sobald ich aber draußen sehe, daß das Leben unerträglich ist und nur einem langsamen Hinsiechen gleichkommt, dann will ich Schluß machen. Du wirst diesen Schritt verstehen und mich, wie ich hoffen will, deshalb nicht tadeln. Der Entschuß wird sicher nicht leicht sein und durch die dringendste Notwendigkeit diktiert werden. Ich brauche Dir wohl nicht zu sagen, daß viele diesen Weg schon gegangen sind.
Eine weitere Bestimmung, die vor mehreren Wochen uns bekanntgegeben worden ist, ordnet an daß wir über unsere ganze bewegliche Habe nicht mehr verfügen, nichts verkaufen und nichts verschenken dürfen. Dann wiederum wurde uns die Benutzung der öffentlichen Fernsprechzellen untersagt und kürzlich mußten wir unsere Pelz- und Wollsachen (mit Ausnahme unseres dringenden Bedarfs) abgeben. Du wirst wahrscheinlich schon über einzelne dieser Maßnahmen unterrichtet sein und wohl auch wissen, daß uns unsere Radios bald nach Kriegsausbruch genommen worden sind. (Bereits anfangs erwähnt.)
Bei dem letzten Transport, der von hier aus wegging, waren von näheren Bekannten Ferses und Frl. Dr. Strauss dabei. Herr Ogutsch ist noch hier und waltet seines Amtes. Er hat sich in den schweren Tagen nach Mamas Tode ganz reizend benommen und mich öfter besucht. Daß Mama und ich ihn sehr hoch schätzen, ist Dir ja bekannt.
Wenn ich alle diese traurigen Ereignisse betrachte, so sage ich mir oft, daß das Schicksal es mit Mama vielleicht gut meinte, indem es ihr alles dies, den schweren Kummer und die Sorge um unsere Mitmenschen erspart hat. Wie sehr würde ihre mitfühlende Seele darunter gelitten haben! Viele von meinen Bekannten äußerten, daß sie sie um ihr Los beneiden. Für mich persönlich ist dies ja nur ein schwacher Trost. Ich komme mir vor wie ein Baum, dessen Krone abgeschnitten ist und dessen Stamm weiter vegetiert und ein kümmerliches Leben fristet.
Seit der Beendigung meiner Tätigkeit in der Gemeinde trug ich mich mit dem Gedanken, Arbeit zu suchen. Wir werden nun im Tiefbau beschäftigt, und ich fürchtete, eine Arbeit zugewiesen zu bekommen, die meine Kräfte übersteigt. So hatte ich mit Mamas Billigung beschlossen, mich bei einer jüdischen Arbeitskolonne zu melden, die in der Stadtgärtnerei tätig ist. Durch die Ereignisse ist die Ausführung dieses Entschlusses aufgeschoben worden. Mitte Oktober habe ich mich aber dann bei der Stadt gemeldet und bald meine Arbeit in der Stadtgärtnerei (im sogen. Stenzhof) angetreten. Diese Gärtnerei liegt in der Lührmannstraße bald hinter der Gruga. Du wirst Dich vielleicht daran erinnern, dort die Treibhäuser, die dem Publikum nicht zugänglich sind, gesehen zu haben. Die Tätigkeit ist abwechslungsreich und nicht zu anstrengend. Ich muß graben, Mist laden und fahren oder auf Tragen fortschaffen, Fenster tragen und legen, fegen, gießen, manchmal auch junge Pflanzen pikieren, kurz alle Arbeiten, die Vorkommen, verrichten. Anfangs fiel mir das neun Stunden lange Stehen nicht leicht, aber ich habe mich daran gewöhnt. Die Behandlung ist anständig. Wir sind in unserer Kolonne nur noch 6 Juden, mit denen ich ebenso wie mit den ändern gut auskomme. Vier Wochen lang waren wir zur Gruga kommandiert, wo wir beim Tulpen legen (etwa 100.000 Tulpen) und mit dem Fegen des Laubes beschäftigt waren. Da die Arbeit früh um 8 ½ Uhr beginnt und bis 5 ¾ Uhr dauert und der Weg jedesmal etwa ½ Stunde beansprucht, gehe ich jetzt in der Dunkelheit von zu Hause weg und kehre in der Dunkelheit wieder heim. Ich führe also etwa das Leben eines Tagelöhners, aber ich will nicht darüber klagen und will es gern bis zum Kriegsende und auch länger ertragen. Das Gute der Arbeit ist, daß sie mich vom Grübeln abhält und mich zeitweise mein Schicksal vergessen läßt. Oma, der nun die Sorge um den Haushalt allein obliegt, versorgt mich in rührender Weise, kocht, räumt auf, wäscht, und ist den ganzen Tag in ihrer fleißjgen, tätigen Art beschäftigt, um mir das Leben möglichst angenehm zu gestalten. Für sie ist diese Arbeit sicher von Nutzen, denn sie füllt ihr Leben aus und gibt ihr sicher auch eine gewisse innere Befriedigung.
Meine Abende fülle ich mit Lektüre aus; sie sind aber ziemlich kurz, da ich früh zu Bett gehe.
Nun will ich Dir über unsere Wohnungsangelegenheit berichten. Etwa seit Juli 1941 wurde unsere Wohnung wiederholt von Beamten der Staatspolizei und Offizieren der Schutzpolizei besichtigt. Da sie anscheinend niemandem recht zusagte, konnten wir weiter wohnen bleiben. Schließlich wurde mir im Dezember von einem Beamten der Staatspolizei eröffnet, daß wir die Wohnung zum 1. Januar räumen müßten; gleichzeitig wurde mir eine angemessene Ersatzwohnung in Aussicht gestellt. Wir fanden bald eine recht nette Wohnung in einem jüdischen Hause, Krawehlstraße 4, zweite Etage. Hier haben wir zwei nette Zimmer und eine recht gemütliche Küche. Das eine, größere Zimmer ist mit unsern Eßzimmermöbeln eingerichtet; in diesem schläft Oma. Ein kleineres Zimmer habe ich mir als Herrenzimmer eingerichtet, in diesem werde ich auf unserer Couch schlafen. Vorläufig aber schlafe ich, da das Herrenzimmer keinen Ofen hat, in der Wohnküche, die recht behaglich und wohnlich ist. Unsern Flügel habe ich an unsere Wirtin in der Moorenstraße, Frau Willich, für 1.350 RM verkauft. Ich bedauerte sehr, ihn nicht für Dich erhalten zu können; aber da unsere ganze Existenz jetzt so unsicher ist und hier auch kein Platz für ihn wäre, hielt ich diesen Schritt für den einzig richtigen. Das Musizieren habe ich ganz aufgesteckt. Zwar hatte ich einen Monat nach Mamas Tode wieder einmal angefangen, Klavier zu üben; als aber die Transporte begannen, ist mir die Lust dazu vergangen. Wenn ich nun auch die Musik nicht mehr ausübe, so bin ich doch innerlich voll von Musik. Denn die viele Musik, die ich 50 Jahre lang gehört und selbst gemacht habe, lebt in mir weiter und erfüllt mich. Wir fühlen uns in der neuen Wohnung recht wohl. Die vielen jüd. Bewohner unseres Hauses sind freundlich und hilfsbereit und halten sehr zusammen. Mehrmals wöchentlich kommen sie abends in irgendeiner Wohnung zusammen. Diese Zusammenkünfte finde ich für mich nicht sehr ergötzlich [?], denn die Leute haben absolut keine geistigen Interessen und füllen die Zeit nur mit Quatschen aus. Um mich nicht auszuschließen, nehme ich ab und zu an den Zusammenkünften teil, aber nicht zu oft. In unserem Hause wohnen übrigens Deines Kameraden Rollmann, mit denen ich wiederholt über Dich und Paul sprach sowie Familie Liebreich. Die Trennung von Bachrachs ist uns nicht schwergefallen. Daß Mama und ich unsern Verkehr mit ihnen beinahe ganz eingestellt haben, schrieb ich Dir. Bei Mamas Erkrankung und nach ihrem Tode benahmen sie sich jedoch sehr hilfsbereit und freundschaftlich. Sie kamen öfter abends zu uns herunter, um uns zu zerstreuen. Schließlich besuchten sie uns in den letzten Wochen beinahe jeden Abend. Bachrach ist ja ein kluger, überlegter Mensch, mit dem man ein ernstes Gespräch führen kann. Sie hat aber eine oft alberne Art des Klatschens an sich, die mir manchmal auf die Nerven geht. Dazu ist sie sehr mißgünstig; stößt einem etwas Gutes zu, so wurmt sie das; widerfährt einem aber ein Unglück, so bemüht sie sich, einem beizustehen und zu helfen.
Ich vergaß, Dir noch von einem, meinem letzten Auswanderungsprojekt zu berichten. Nach Mamas Tode war mir jede Lust zur Auswanderung vergangen; denn allein in einem fremden Lande unter wesensfremden Menschen eine Existenz zu suchen, erschien mir zumal in meinem Alter wenig erstrebenswert. Auf das Zureden von Bekannten habe ich mich aber, als sich die Zustände für uns immer mehr verschlimmerten, dazu entschlossen, meine Zwischenlandung in Kuba zu betreiben. Dazu war die Sicherstellung eines größeren Betrages für den Lebensunterhalt und eine Bearbeitungsgebühr in Dollars erforderlich. Ich wandte mich wieder an Dr. Weitmann, Mamas Vetter, der die notwendigen Schritte unternommen und wohl auch gewisse Zahlungen geleistet hat. Die Sache war schon so weit gediehen, daß Weitmann mir telegraphierte, das Kubanische Konsulat in Berlin sei angewiesen, mir das Visum auszustellen, da wurde mir plötzlich jede Auswanderung untersagt. Jedenfalls hat sich Dr. W. wiederum sehr verwandtschaftlich und hilfsbereit gezeigt.