Artikel aus dem „Aufbau“
Ein Artikel im „Aufbau“ vom 24. Oktober 1941 berichtet über Verhaftungen und Vertreibungen der Juden aus dem Deutschen Reich:
Die Austreibungen im Reich
Es ist unmöglich, augenblicklich ein klares Bild darüber zu haben, wie weit die bedrückenden Nachrichten, die in der letzten Woche aus Deutschland hierher gelangt sind, in allem zutreffen. Die Berichte der „New York Times“ darüber stammen von einem an sich zuverlässigen Dienst, der „Associated Press“; andere Meldungen sind namentlich über schwedische und Schweizer Stellen hierher gelangt.
Faßt man die vorliegenden Meldungen zusammen, so ergibt sich, daß die Nazis die Drohung, die in Deutschland verbliebenen Juden, soweit sie ihnen nicht für die Zwangsarbeiten wertvoll sind, abzutransportieren, durchzuführen begonnen haben. Es fing an mit der Schließung zweier großer Synagogen in Berlin (in der Levetzowstraße und Münchener Straße), in die Strohsäcke geschafft wurden, um „durchreisende Juden“ vorübergehend zu beherbergen.
Bei diesen durchreisenden Juden handelte es sich meist um Scharen Vertriebener aus dem Westen Deutschlands. Gleichzeitig fanden in Berlin eine Anzahl Verhaftungen statt, denen Haussuchungen nach verbotenen Lebensmitteln vorangegangen waren. Die Zahl der Verhafteten beträgt 1500. Ihre Arretierung wurde der Öffentlichkeit gegenüber als „Alibi“ benutzt. Gleichzeitig wurde unter der deutschen Bevölkerung folgendes Flugblatt verbreitet: „Vergiß nicht, was die Juden dem deutschen Volk angetan haben ... Jeder Jude ist Dein Feind ... Jeder Deutsche, der einem Juden aus einem falschen Gefühl heraus hilft - selbst wenn er nur eine freundliche Haltung gegen die Juden einnimmt -begeht Verrat gegen sein eigenes Volk!
Kurz darauf verstärkten sich die Hiobs-Botschaften. Der Berliner Korrespondent der schwedischen Zeitung „Socialdemokraten" berichtet am 19. Oktober, daß 5000 Berliner , zwischen 50 und 80 Jahren nach Nazipolen transportiert worden seien, und zwar zuerst nach Lodz. Von dort sollen sie zu Arbeiten im Distrikt von Rokitno gebracht ,erden Die Austreibungen, bei denen die Betreffenden nur ein kleines Köfferchen und etwa 100 Mark mitnehmen konnten, standen unter der Leitung des berüchtigten Gestapo-Agenten Eichmann, der bekanntlich aus der deutschen Templer-Kolonie Sarona in Palästina stammt.
Am 21. Oktober brachte dann die „New York Times“ die Nachricht, daß seitens der Nazis die Absicht bestünde, von den 65.000 Juden, die noch in Berlin seien, 55.000 zu exilieren, und daß im ganzen in Deutschland 190.000 Juden in kurzer Zeit von dieser Katastrophe betroffen sein könnten.
Und am 22. Oktober kommt die Meldung, daß die Naziregierung offiziell beschlossen habe, die Gesamtdeportierung durchzuführen. Selbst die Zwangsarbeiter werden davon betroffen werden. Die Deportationen erfolgen mitten in der Nacht. Am stärksten betroffen wurden bisher außer den Juden Berlins die von Köln, Frankfurt und Düsseldorf. Soweit die in New York eingelangten Meldungen. Wir hoffen, daß sie sich nicht in diesem Umfang bestätigen werden. Aber das ist natürlich nur eine Hoffnung, denn das Ziel der Nazis ist seit langem eindeutig und klar. Es ist leider nur von den meisten Juden statt im Jahre 1933 erst viele Jahre später erkannt worden.
Fast schlimmer noch als die deutschen Meldungen sind die Nachrichten, die aus den Gebieten kommen, in die die Nazis mit dem Zurückweichen der sowjetrussischen Armeen einrücken. Das ukrainische Pro-Nazi-Blatt „Krakovski Wisti“, das in Krakau erscheint, berichtet, daß seit dem Einmarsch der Nazis in Kiew am 29. September, also in ganz kurzer Frist, die 150.000 in Kiew wohnenden Juden aus der Stadt vertrieben und auf die Landstraßen gejagt wurden. Ihr Schicksal ist unbekannt. Nach der gleichen Zeitung hat die Stadt Zitomir, die vor der Nazibesetzung 50.000 Juden hatte, heute nur noch 6.000. In Zitomir stationierten die Nazis die erste ukrainische Division, die sich ungefähr aus den gleichen Elementen zusammensetzt, wie sie in den Pogromen des Petljura-Regimes „tätig“ waren. Das ukrainische Blatt jubelt: „Die Gestapo hat eine wundervolle Arbeit mit der Reinigung des ukrainischen Bodens von diesen fremden Elementen geleistet“, und „Kiew ist judenrein“ verkünden die deutschen Blätter.
Unter diesen Umständen wirken die Tragödien in den anderen Ländern fast nur wie Episoden neben dem Geschehen im Reich und in Rußland. In Luxemburg sind eine große Anzahl der noch verbliebenen Juden - man spricht von 400 - nach einem Bericht der JTA deportiert worden; 134 entkamen noch in der letzten Minute nach Spanien. In Frankreich verschlimmert sich die Lage der Juden ebenfalls. Es handelt sich hier nach einem Bericht des New Yorker Institute of Jewish Affairs um 340.000 Personen, m beiden Zonen, und Berlin drängt auf immer schärfere Maßnahmen gegen sie. Der einzige Lichtblick ist die Haltung des französischen Volkes, über dessen „Lauheit“ der Naziführer Raymond Schultz sich erst soeben wieder in der Pariser Presse beklagt hat.