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Chronik und Quellen
1941
Oktober 1941

Brief von Helmuth James von Moltke an seine Frau Freya

Helmuth James von Moltke schreibt seiner Frau Freya am 21. Oktober 1941 über den Beginn der Deportationen aus Berlin:

Meine Liebe, der Tag ist so voller grauenhafter Nachrichten, daß ich nicht in Ruhe schreiben kann, obwohl ich mich um 5 zurückgezogen und eben einen Tee getrunken habe. Aber mein Kopf tut mir trotzdem weh. Das, was mir augenblicklich am nächsten geht, sind die mangelhaften Reaktionen der Militärs. Falkenhausen und Stülpnagel sind an ihre Plätze zurückgekehrt, statt nach den letzten Vorfällen abzugehen, neue schreckliche Befehle werden gegeben und niemand scheint etwas dabei zu finden. Wie soll man die Mitschuld tragen?

In Serbien sind an einem Ort zwei Dörfer eingeäschert worden, 1700 Männer und In Frauen von den Einwohnern sind hingerichtet. Das ist die „Strafe“ für den Überfall drei deutsche Soldaten. In „Griechenland“ sind 220 Männer eines Dorfes erschossen worden. Das Dorf wurde niedergebrannt, Frauen und Kinder wurden an der Stätte zugelassen, um ihre Männer und Väter und ihre Heimstatt zu beweinen. In Frankreich finden umfangreiche Erschießungen statt, während ich hier schreibe. So werden täglich sicher mehr als 1000 Menschen ermordet, und wieder Tausende deutscher Männer werden an den Mord gewöhnt. Und das alles ist noch ein Kinderspiel gegen das, was in Polen und Rußland geschieht. Darf ich denn das erfahren und trotzdem in meiner geheizten Wohnung am Tisch sitzen und Tee trinken? Mach’ ich mich dadurch nicht mitschuldig? Was sage ich, wenn man mich fragt: Und was hast Du während dieser Zeit getan?

Seit Sonnabend werden die Berliner Juden zusammengetrieben; abends um 21.15 werden sie abgeholt und über Nacht in eine Synagoge gesperrt. Dann geht es mit dem, was sie in der Hand tragen können, ab nach Litzmannstadt und Smolensk. Man will es uns ersparen zu sehen, daß man sie einfach in Hunger und Kälte verrecken läßt, und tut das daher in Litzmannstadt und Smolensk. Eine Bekannte von Kiep hat gesehen, wie ein Jude auf der Straße zusammenbrach; als sie ihm aufhelfen wollte, trat ein Schutzmann dazwischen, verwehrte es ihr und gab dem auf dem Boden liegenden Körper einen Tritt, damit er in die Gosse rollte; dann wandte er sich mit einem Rest von Schamgefühl an die Dame und sagte: „So ist es uns befohlen.“

Wie kann jemand so etwas wissen und dennoch frei herumlaufen? Mit welchem Recht? Ist es nicht unvermeidlich, daß er dann eines Tages auch drankommt und daß man ihn auch in die Gosse rollt? - Das alles sind ja nur Wetterleuchten, denn der Sturm steht vor uns. - Wenn ich nur das entsetzliche Gefühl loswerden könnte, daß ich mich selbst habe korrumpieren lassen, daß ich nicht mehr scharf genug auf solche Sachen reagiere, daß sie mich quälen, ohne daß spontane Reaktionen entstehen. Ich habe mich selbst verzogen, denn auch in solchen Sachen reagiere ich über den Kopf. Ich denke über eine mögliche Reaktion nach, statt zu handeln.

Auf Wiedersehen, mein Lieber, lassen Sie es sich Wohlergehen, pflegen Sie sich, grüßen Sie Ihre Söhnchen und behalten Sie, bitte, lieb Ihren Ehewirt

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