Bericht des Hilfsvereins der Juden in Deutschland
Der Hilfsverein der Juden in Deutschland berichtet am 12. November 1937 über Verlauf und Organisation der Emigration:
I. Stand und Möglichkeiten der Auswanderung von Juden aus Deutschland nach überseeischen Ländern
Stand und Möglichkeiten der Übersee-Wanderung
Die Gesamtauswanderung der Juden aus Deutschland ist im Jahre 1936 auf 24000 zu schätzen. Diese Auswanderung erstreckte sich auf folgende Länder:
Palästinawanderung: 9.000
Ueberseewanderung: 10.000
Europawanderung: 1.500
Rückwanderung: (heimkehrende Ausländer) 3.500
24.000
Im ersten Halbjahr 1937 ist die gesamte jüdische Auswanderung (unterstützte und nicht unterstützte Auswanderung zusammen) auf etwa 12 000 Personen zu schätzen.
Im folgenden soll lediglich die durch den Hilfsverein bearbeitete Auswanderung in aus-serpalästinensische Länder behandelt werden und zwar
I. Umfang der Ueberseewanderung in 1936 und 1937
II. Gegenwärtiger Stand der Ueberseewanderung nach den einzelnen Ländern
III. Grundlagen und Möglichkeiten einer Förderung der Ueberseewanderung.
I
Für die Auswanderung von Juden aus Deutschland in Länder ausserhalb Palästinas haben sich in den letzten vier Jahren grundlegende Erfahrungen für die Durchführung der künftigen Auswanderung der Juden aus Deutschland ergeben. Diese Erfahrungen erstrecken sich in erster Linie auf diejenigen Auswanderer, die mit beratender und finanzieller Unterstützung des Hilfsvereins ihre Auswanderung durchgeführt haben. Dabei ergibt sich die Tendenz einer Verstärkung der Auswanderung nach Uebersee, während die Auswanderung nach europäischen Ländern einen Rückgang erfahren hat. Dieser Grundrichtung entsprechend sucht der Hilfsverein, die durch ihn betreute Auswanderung in überseeische Länder zu leiten.
Im Jahre 1936 umfasste die durch den Hilfsverein finanziell unterstützte Auswanderung insgesamt 5 555 Personen. Davon gingen nach Uebersee 4 738.
In den ersten zehn Monaten des Jahres 1937 belief sich die durch den Hilfsverein unterstützte Auswanderung nach Uebersee auf 3 532 Personen. In der gleichen Zeit des Vorjahres betrug die durch den Hilfsverein beförderte Personenzahl (ohne die durch den Dampfer „Stuttgart“ nach Südafrika beförderten Personen) 3 586.
Es ergibt sich daraus, dass die Ueberseewanderung, obwohl im Jahre 1937 wichtige Einwanderungsländer, wie vor allem Südafrika und Brasilien, durch neue Einwanderungsbeschränkungen für die jüdische Auswanderung fast völlig in Fortfall kamen, auf der Höhe des Vorjahres gehalten werden konnte. Dies war nur dadurch möglich, dass alle anderen Auswanderungsmöglichkeiten weitgehendst ausgenutzt und neue Einwanderungsmöglichkeiten (wie z. B. Australien) erschlossen wurden.
Die Gesamtaufwendungen für die Auswanderung von Juden in die ausserpalästinensischen Länder betrugen RM 2319639,07. Es ist damit zu rechnen, dass im Jahre 1937 derselbe Betrag wird aufgebracht werden müssen. Diese Aufwendungen sind aber nur dadurch möglich gewesen, dass die jüdischen Gemeinden in Deutschland in der Lage waren, für die Durchführung der Auswanderung einen grossen Teil der Wanderungskosten selbst aufzubringen und dass andererseits die ausländischen jüdischen Hilfsorganisationen erhebliche Zuschüsse zu diesen Kosten zur Verfügung gestellt haben.
II
Zur Klarstellung der gegenwärtigen Situation wird eine Darstellung der Einwanderungsmöglichkeiten für die wichtigsten Ueberseeländer gegeben.
Im Jahre 1937 haben besonders wichtige Einwanderungsländer, wie Brasilien und Südafrika, die Einwanderungsbestimmungen oder ihre praktische Handhabung erheblich verschärft, während gesetzliche Erleichterungen der Einwanderung nirgends eingetreten sind. Neben Brasilien und Südafrika sind hier Chile, Peru, Paraguay und Bolivien zu nennen; andere Staaten, wie z. B. Columbien und Ecuador, nach neuesten Meldungen anscheinend auch Uruguay, haben durch Erhöhung der gesetzlich vorgeschriebenen Vorzeigegelder und Landungsdepots die Einwanderung praktisch erschwert. Für die jüdische Auswanderung aus Deutschland wirken sich die Einwanderungsbeschränkungen in Südafrika und Brasilien deshalb besonders kritisch aus, weil in diesen grossen Ländern an sich die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Einordnung einer grossen Anzahl von jüdischen Einwanderern gegeben wären.
Diese Verschärfung der Einwanderungsbestimmungen ist mit in erster Linie darauf zurückzuführen, dass in den vergangenen Jahren mit ihrer teilweise ungeregelten und planlosen Auswanderung eine Anzahl ungeeigneter Personen in die betreffenden Länder gekommen ist, die ohne entsprechende Berufsausbildung und ausreichende Sprachkennt-nisse, meist fast völlig mittellos, den Arbeitsmarkt belasteten und hierdurch die Bereitschaft zur Aufnahme weiterer Einwanderer verringerten. Denn die Aufnahmebereitschaff der überseeischen Länder ist vor allem abhängig von der wirtschaftlichen und moralischen Bewertung, die der jüdischen Einwanderung als solcher entgegengebracht wird. Bei einer Betrachtung der Einwanderungsmöglichkeiten in Uebersee ist grundsätzlich zwischen Einzel-und Gruppenwanderung zu unterscheiden. Zweifellos wird auch in Zukunft der Einzelwanderung die grösste Bedeutung zukommen, da bei der Auswanderung einzelner Personen und ihrer Familien auf die Einwanderungsbestimmungen der in Betracht kommenden Länder und auf die dort gegebenen wirtschaftlichen Einordnungsmöglichkeiten sowie auf besondere persönliche oder verwandtschaftliche Beziehungen weitgehend Rücksicht genommen werden kann. Dagegen ist die Gruppenwanderung im wesentlichen davon abhängig, dass ein geeignetes Siedlungsgelände, geeignete Siedler und die für eine landwirtschaftliche Kolonisation erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen. Diese Voraussetzungen sind unter den gegebenen Verhältnissen nur in beschränktem Umfang zu erfüllen. Soweit siedlungsfähige Familien vorhanden sind, hat die Gruppensiedlung deshalb eine besonders grosse Bedeutung, weil sie die Möglichkeit bietet, Personen, die sonst keine Auswanderungsgelegenheit hätten, zur Auswanderung und Ansiedlung zu bringen. Infolgedessen werden die vorhandenen Möglichkeiten für Gruppensiedlungen im weitesten Umfange wahrzunehmen sein. Dies ist aber in grösserem Rahmen nur durchführbar, wenn als Träger der Siedlung eine erfahrene Kolonisations-Gesellschaft vorhanden ist, die den Siedlern das Gelände zur Verfügung stellt und ihre Ansiedlung betreut. Als eine diesen Voraussetzungen entsprechende Kolonisationsgesellschaft hat sich ausserhalb Palästinas bisher im wesentlichen nur die Jewish Colonization Association betätigt. Durch Verhandlungen mit der ICA ist es gelungen, diese Gesellschaft zur Aufstellung eines Kolonisationsplanes zu veranlassen, in dessen Rahmen die Ansiedlung von mehreren hundert Familien im Laufe der nächsten Zeit vorgesehen ist. Neben dieser Zusammenarbeit mit der ICA wird es darauf ankommen, zunächst kleinere landwirtschaftliche Ansiedlungen in den verschiedenen dafür in Betracht kommenden geeigneten Ländern zu errichten. Eine Anzahl geeigneter Landwirte ist bereits in Paraguay, Ecuador, Columbien und Kenya angesiedelt worden. Darüber hinaus werden alle anderen Möglichkeiten einer Gruppensiedlung in verstärktem Umfange wahrgenommen werden. Die Anzahl der für eine Ansiedlung geeigneten jüdischen Familien in Deutschland ist jedoch begrenzt und nur durch entsprechende landwirtschaftliche Ausbildung allmählich zu steigern. Daher wird auch in Zukunft das Schwergewicht der jüdischen Auswanderung aus Deutschland in der Einzel- und Familienwanderung liegen müssen.
Bei der Einzelwanderung ist allgemein festzustellen, dass ihre Durchführung entscheidend von den beruflichen und sprachlichen Kenntnissen und Fähigkeiten des Auswanderers abhängig ist. Ueber die Einwanderungsmöglichkeiten selbst sind zusammenfassend folgende Erfahrungen festzustellen: Gut ausgebildete Handwerker, gelernte Arbeiter, Kaufleute mit besonderen Branchenkenntnissen sind wohl in allen für die Einwanderung von Juden aus Deutschland in Frage kommenden Ländern zur Einwanderung zu bringen. Das Gleiche gilt für Frauen mit spezifischen Frauenberufen, wie Hauswirtschaft, Kranken- und Kinderpflege. Dagegen sind Kaufleute ohne besondere Branchenkenntnisse und Akademiker ohne zusätzliche berufliche Umschulung und Vorbereitung auf das Einwanderungsland, vor allem aber ohne Sprachkenntnisse und Anlaufkapital, nur mit grossen Schwierigkeiten einzuordnen.
Um einen Ueberblick über die Auswanderung in die wichtigsten überseeischen Länder zu geben, sind in der folgenden Tabelle, gegliedert nach den einzelnen Einwanderungsländern, jeweils für zehn Monate des Jahres 1936/1937 die Zahlen der unterstützten Auswanderer wiedergegeben:
Unterstützte Ueberseewanderung nach Ländern erste 10 Monate 1936 und 1937 (vorläufige Zahlen)
Amerika 1936 1937
Vereinigte Staaten und Kanada 978 1768
Argentinien 450 663
Brasilien 788 254
Chile 53 31
Columbien 52 178
Ecuador 26 47
Mexiko 18 4
Peru 23 25
Paraguay 269 39
Uruguay 183 195
übrige amerikanische Staaten 25 39
Afrika
Südafrikanische Union 668 142
Britisch-Ost-Afrika 4 17
übrige afrikanische Staaten 11 5
Asien
alle Länder 23 29
Australien und Neuseeland
Australien 15 92
Neuseeland -- 4
3586 3532
Aus den vorstehenden Zahlen ergibt sich, wie sehr der Ausfall so wichtiger Einwanderungsländer wie Brasilien, Südafrika und Paraguay ins Gewicht fällt. Doch konnte durch Steigerung der Auswanderung nach Nordamerika, Argentinien, Columbien, Ecuador und vor allem Australien, ein Ausgleich geschaffen werden. Die gesteigerte Auswanderung nach Nordamerika und Argentinien ist im wesentlichen darauf zurückzuführen, dass durch die Auswanderung von Juden aus Deutschland in früheren Jahren eine Reihe von verwandtschaftlichen Beziehungen bestehen, die bei der besonderen Natur der Einwanderungsbestimmungen in diesen beiden Ländern (Anforderungsschreiben bezw. Bürgschaft im Lande Ansässiger) eine entscheidende Voraussetzung für die Nachwanderung bilden. Dagegen ist die gesteigerte Auswanderung nach Ländern wie Columbien, Ecuador und Uruguay im wesentlichen ein Ergebnis der planmässigen Bemühungen um die Erschliessung neuer Einwanderungsmöglichkeiten in bisher von der jüdischen Einwanderung kaum berührte Länder. Einen Sonderfall stellt Australien dar, wo es in Zusammenarbeit mit den englischen und australischen jüdischen Organisationen gelungen ist, eine schon in diesem Jahr nicht unbedeutende und für die Zukunft aussichtsreiche Einwanderung in Gang zu bringen.
Die Erschliessung dieser neuen Einwanderungsmöglicheiten ist deshalb für die Gesamtgestaltung der jüdischen Auswanderung von so entscheidender Bedeutung, weil jede plötzliche Verstärkung der Auswanderung in ein einzelnes Land zu Schwierigkeiten bei der Unterbringung der Einwanderer und sogar gesetzlichen Einwanderungsbeschränkungen, wie in Südafrika, führen kann.
III
Es kann davon ausgegangen werden, dass unter den Juden in Deutschland die Auswanderungsbereitschaft in weitestem Umfang besteht. Diese Auswanderungsbereitschaft findet jedoch ihre natürliche Grenze in der persönlichen Auswanderungsfähigkeit und in den vorhandenen Einwanderungsbedingungen.
Die jüdische Bevölkerung in Deutschland ist zurzeit unter Berücksichtigung der bisherigen Auswanderung von 120 000 und eines Sterbeüberschusses von jährlich etwa 4 000 auf etwa 365 000 Seelen zu veranschlagen.
Die bisherigen Auswanderer setzten sich aus den jüngeren Altersschichten zusammen. Da der Geburtenrückgang der Juden in Deutschland durch die Auswanderung der zeu gungs- und gebärfähigen Altersgruppen ausserordentlich zunimmt, weist die jüdische Bevölkerung in Deutschland nicht nur eine zahlenmässige Abnahme, sondern auch eine steigende Ueberalterung auf. Von den älteren Personen wird nur ein Teil im Wege der Familienwanderung zur Auswanderung gebracht werden können, indem ausgewanderte Kinder ihre Eltern oder andere Angehörige anfordern. Bei der künftigen Auswanderungsplanung wird daher besonders darauf zu achten sein, in erster Linie solche jüngeren Mensehen zur Auswanderung zu bringen und ihnen bei der Einordnung im Zielland behilflich zu sein, bei denen die Erwartung einer Nachwanderung von Angehörigen begründet erscheint. Darüber hinaus wird allgemein in der Auswanderungsplanung in erster Linie für die Auswanderung der jüngeren Altersschichten Vorsorge getroffen werden müssen, weil nur bei diesen die erforderliche Auswanderungsfähigkeit in weitem Umfange unterstellt werden kann. Sehr viel schwieriger erscheint die Einordnung für Menschen der mittleren Generation, die bisher in Berufen tätig waren, die in den Einwanderungsländern nicht ausgeübt werden können. Hier kann die Auswanderung nur auf Grund einer gründlichen individuellen Beratung und oft erst nach sorgfältiger Berufsumschichtung durchgeführt werden.
Die Auswanderungsbereitschaff findet, von der persönlichen Auswanderungsfähigkeit abgesehen, eine weitere Grenze in den Bestimmungen und Lebensbedingungen der Einwanderungsländer. In einigen Ländern, wie z. B. in Nordamerika und Argentinien, ist die Einwanderung im wesentlichen nur möglich, wenn eine Anforderung durch Verwandte erfolgt. In anderen Ländern ist Voraussetzung für die Einwanderung die Verfügung über ein mehr oder weniger erhebliches Vorzeigegeld oder Landungsdepot. Von diesen gesetzlichen Einwanderungshemmungen abgesehen, steht häufig einer Einwanderung der Mangel an Kapital für die Errichtung einer neuen Existenz im Einwanderungsland entgegen. Für manche Berufe ist die wirtschaftliche Einordnungsmöglichkeit in vielen Ländern nicht gegeben. Dies liegt zum Teil an der wirtschaftlichen Struktur dieser Länder, zum anderen Teil an besonderen gesetzlichen Betätigungsbeschränkungen für diese Berufe.
Im Rahmen dieser objektiv gegebenen Grenzen der Auswanderung werden wir alles daran setzen, um die Auswanderung der Juden aus Deutschland in grösstmöglichem Umfang zu fördern.
Um eine Erweiterung der Auswanderung nach Uebersee zu gewährleisten, ist es erforderlich, die Auswanderung der Juden aus Deutschland planmässig und geordnet durchzuführen. Ein Auswanderungsdruck, der eine überstürzte und planlose Auswanderung zur Folge haben könnte, enthält die Gefahr, dass sich die Einwanderungsländer weitgehend verschliessen, weil ein plötzlicher Anstrom ungenügend vorbereiteter Einwanderer selbst in einwanderungsfreundlichen Ländern eine untragbare Belastung des Arbeitsmarktes darstellt. Infolgedessen muss jeder Auswanderungsplan genügend Zeit vorsehen, damit die Auswanderer beruflich und sprachlich für das in Betracht kommende Einwanderungsland so ausreichend vorgebildet werden können, dass ihre Einordnung möglichst reibungslos vor sich geht und die weitere Einwanderung nicht beeinträchtigt wird. Dies bedingt, namentlich für die jüngeren Altersschichten, eine gründliche Ausbildung in handwerklichen und landwirtschaftlichen Berufen und zwar mit der in diesen Berufen notwendigen längeren Ausbildungsdauer.
Um diese Ausbildung durchzuführen, ist es erforderlich, dass die Juden in Deutschland über die entsprechenden Ausbildungsmöglichkeiten in Schulen, Lehrgütern und Lehrwerkstätten verfügen. Diese Ausbildungseinrichtungen und die Erhaltung der Praktikanten in der Zeit der Ausbildung erfordern erhebliche Aufwendungen, die schon jetzt nur unter grössten Opfern der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland aufgebracht werden können. Die Aufbringung der für die Berufsausbildung und für die Durchführung der Auswanderung erforderlichen Mittel wird künftig in dem notwendigen Umfang nur möglich sein, sofern die wirtschaftliche Existenzgrundlage der Juden in Deutschland die jüdische Gemeinschaft zu dieser Leistung befähigt. Da Unterstützungen seitens der ausländisehen jüdischen Hilfsorganisationen nur unter der Bedingung zu erlangen sind, dass ein beträchtlicher Teil der zur Vorbereitung und Durchführung der Auswanderung erforderlichen Mittel von den Juden in Deutschland selbst aufgebracht wird, kann der bisherige Umfang der Auswanderung und ihre weitere Steigerung nur erreicht werden, wenn die bisherige wirtschaftliche Existenzgrundlage der in Deutschland verbleibenden Juden erhalten bleibt, während eine weitgehende Verarmung der jüdischen Bevölkerung die Auswanderung in ihrem bisherigen Umfange in Frage stellen, erst recht aber ihre Steigerung aufs schwerste gefährden würde. Die Zahl von rund 82000 Unterstützten der Jüdischen Winterhilfe 2936/37 erweist das Ausmass der bereits eingetretenen Verarmung. Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen für die Planung der Auswanderung von Juden aus Deutschland wird eine grösstmögliche Steigerung des Umfanges dieser Auswanderung erreicht werden müssen. Hierbei werden vor allem drei Faktoren zu berücksichtigen sein.
a) Die Erweiterung von Einwanderungsmöglichkeiten durch Verhandlungen mit den jüdischen Hilfsorganisationen in den Einwanderungsländern.
b) Die Steigerung der Auswanderung Minderbemittelter und hilfsbedürftiger Personen.
c) Die Behebung von Schwierigkeiten innerhalb Deutschlands, die der jüdischen Auswanderung entgegenstehen.
a)
In Verhandlungen mit den ausländischen jüdischen Hilfsorganisationen ist anzustreben, dass Einwanderer mit entsprechender beruflicher Vorbildung in noch stärkerem Masse als bisher zur wirtschaftlichen Einordnung gelangen. Dabei kommt es darauf an, dass Arbeitsplätze nachgewiesen werden, die mittellosen jüdischen Auswanderern die Verwertung ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten im Einwanderungsland ermöglichen. Ausserdem ist anzustreben, dass die Gruppensiedlung, insbesondere der ICA, eine Erweiterung erfährt. Darüber hinaus wird die Hilfe der ausländischen jüdischen Hilfsorganisationen für die Beschaffung der notwendigen Einwanderungspapiere in noch stärkerem Umfange als bisher in Anspruch genommen werden müssen.
b)
Eine weitere Steigerung der Auswanderung ist dadurch möglich, dass den Auswanderern mit Kapital durch einen Transfer die Gründung einer neuen Existenz im Einwanderungsland erleichtert wird. Inzwischen haben die zuständigen Behörden ihre grundsätzliche Zustimmung zu einer Erweiterung des bisherigen Transferverfahrens der Allgemeinen Treuhandstelle für die jüdische Auswanderung G.m.b.H. gegeben, die es künftig ermöglichen soll, dass Auswanderer Kapitalien bis zu RM 50 000 transferieren können. Um auch eine Steigerung der Auswanderung minderbemittelter Personen zu gewährleisten, wird innerhalb dieses Transferverfahrens der sogenannte Altreu-Fonds bei der Reichsvertretung der Juden in Deutschland gebildet, aus dem minderbemittelte jüdische Auswanderer Darlehen in Devisen des Einwanderungslandes bis zum durchschnittlichen Betrag von 900 Goldmark pro Kopf erhalten können, sofern ihre Auswanderung nur durch die Bereitstellung eines solchen Darlehns möglich wird und ohne dieses Darlehn unterbleiben müsste. Auf diese Weise wird es möglich sein, minderbemittelte und hilfsbedürftige Personen und Familien zusätzlich in diejenigen Einwanderungsländer zu bringen, in denen eine Einordnung nur durch den Besitz eines Vorzeigegeldes, eines Landungsdepots oder Anlaufskredits möglich ist.
Ueber die Förderung der Auswanderung minderbemittelter Personen werden wir uns erlauben, einen besonderen Bericht zu überreichen.
c)
Bezüglich der Schwierigkeiten, die sich auf die jüdische Auswanderung hemmend auswirken, wird besonders auf folgendes hingewiesen:
Die Vorbereitung und Durchführung der Auswanderung ist davon abhängig, dass der Auswanderer sich im Besitz eines regulären und noch auf längere Zeit gültigen Passes befindet. Besondere Beschränkungen des Passes in zeitlicher oder räumlicher Hinsicht machen die Auswanderung nach bestimmten Ländern unmöglich, weil die Einwanderungsbehörden bei Vorlage eines eingeschränkten Passes das Einwanderungsvisum verweigern. Häufig ist die Voraussetzung für eine Auswanderung die Durchführung einer Informationsreise des Auswanderungsanwärters in das Einwanderungsland, die off auch zur Beschaffung der erforderlichen Einwanderungspapiere notwendig ist. Bei der Durchführung solcher Informationsreisen haben sich bisher zwei Schwierigkeiten ergeben: einmal ist nicht selten die Ausstellung eines Passes zum Zweck einer Informationsreise abgelehnt oder nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung bewilligt worden. In gewissen Ländern, wie z. B. USA, ist die Erteilung eines Touristenvisums davon abhängig, dass der Pass mindestens 60 Tage über den Rückreisetermin hinaus gültig ist. Auf der anderen Seite werden derartige an sich notwendige Reisen häufig aus der Befürchtung vermieden, dass der Reisende bei seiner Rückkehr als Rückwanderer behandelt werden könnte. Da die Kinderauswanderung in der Regel die Vorstufe einer Familienauswanderung darstellt, würde die Ausstellung von Pässen für die Eltern zum gelegentlichen Besuch ihrer zur Berufsausbildung im Ausland befindlichen Kinder die Bereitschaft der Eltern, sich von den Kindern zu trennen, erheblich verstärken und auf diese Weise mittelbar einer Steigerung der Kinderauswanderung dienen. Es würde daher allgemein zur Förderung der jüdischen Auswanderung beitragen, wenn grundsätzlich die Ausstellung von Pässen an Juden verfügt, wenn die Frist von der Antragsstellung bis zur Aushändigung des Passes verkürzt und wenn die Gültigkeitsdauer des Passes auf einen längeren Zeitraum als sechs Monate erstreckt werden könnte.
Fast sämtliche Einwanderungsländer machen die Erteilung des Visums von dem Nachweis eines guten Leumunds - insbesondere eines lückenlosen Führungszeugnisses für die letzten fünf Jahre abhängig. Kleine und unbedeutende Vorstrafen im Führungszeugnis führen off zur Verweigerung des Visums. In vielen Fällen wird daher die Durchführung der Auswanderung abhängig sein von der Beibringung eines lückenlosen reinen Führungszeugnisses. Es würde der Förderung der Auswanderung daher dienen, wenn es möglich wäre, in geeigneten Fällen - falls nicht allzu erhebliche oder bereits längere Zeit zurückliegende Vorstrafen vorhanden sind - einen Weg zu finden, um in einem möglichst beschleunigten und vereinfachten Verfahren die Anordnung der beschränkten Auskunftserteilung aus dem Strafregister zu erwirken.
Eine grosse Anzahl von Einwanderungsländern fordert von den Angehörigen bestimmter Berufskategorien, wie insbesondere von Handwerkern, den Nachweis einer bestimmten Berufsausbildung durch entsprechende Zeugnisse. Eine abgeschlossene handwerkliche Ausbildung ist daher in vielen Fällen die Voraussetzung für die Durchführung der Auswanderung. Da die Ausbildungsplätze in den jüdischen Lehrwerkstätten für die Ausbildungsanwärter einerseits nicht ausreichen und andererseits eine Erweiterung der Lehrwerkstätten finanziell nicht möglich ist, würde daher die Zulassung jüdischer Lehrlinge und Gesellen zur Ausbildung in Betrieben des Handwerks und in der Industrie zum Zwecke der Vorbereitung der Auswanderung die Auswanderungsfähigkeit einer beträchtlichen Anzahl von Personen begründen. Darüber hinaus würde die Ermöglichung einer Ablegung der Gesellen-und Meisterprüfung, gegebenenfalls vor einem unter Kontrolle und Mitwirkung der Handwerkskammer gebildeten jüdischen Prüfungsausschuss, unter Ausstellung entsprechender Zeugnisse eine wesentliche Förderung der Auswanderung bedeuten.
Zusammenfassend glauben wir zu der Feststellung gelangen zu können, dass unter Berücksichtigung der in diesem Bericht erwähnten Gesichtspunkte und unter der Voraussetzung, dass die gegenwärtigen Einwanderungsbedingungen im wesentlichen erhalten bleiben, eine Steigerung des Gesamtumfanges der jüdischen Auswanderung aus Deutschland gegenüber dem Vorjahr um etwa 15 % erreicht werden dürfte. (…)