Artikel im „Jüdischen Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen“
Am 29. Oktober 1937 berichtet das „Jüdische Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen“ über die Situation der Juden in den Gemeinden Köln und Breslau:
[Dr. Fritz Becker]
Von Osten nach Westen. Streiflichter aus zwei jüdischen Großgemeinden
Seit mehr als vier Jahren geht der Strom der Auswanderung jüdischer Menschen aus allen Teilen Deutschlands in fast alle Länder und Kontinente der Welt. Nicht minder bedeutend und sogar zunehmend immer stärker geht daneben eine jüdische Binnenwanderung vor sich, die vor allem Juden aus kleinen und kleinsten Orten in benachbarte mittlere und große Gemeinden führt, die aber auch zahlreiche Wanderungen aus einer Gemeinde in eine andere, seien es mittlere oder Großgemeinden, mit sich gebracht hat. Fast alle mittleren und großen jüdischen Gemeinden werden von dieser Binnenwanderung betroffen, und in vielen Fällen wird der Verlust durch Auswanderung in größerem und geringerem Maße durch diese Binnenwanderung kompensiert.
Die Gründe für die starke Binnenwanderung der Juden in Deutschland, die auch den Schreiber dieser Zeilen vom Osten Deutschlands, von der schlesischen Großgemeinde Breslau, nach dem Westen, in die rheinische Großgemeinde Köln gebracht hat, sind bekannt. Noch ist unsere Wanderung im Fluß, niemand weiß, wohin sie uns führen, wann und wo sie enden wird. Sie hat das Bild der einzelnen Gemeinden teilweise schon beträchtlich umgeformt, beeinflußt es täglich neu, und eine Konsolidierung ist nach Lage der Dinge nicht zu erwarten. Die Konzentration wird sich fortsetzen, der Bestand zahlreicher Gemeinden wird nicht zu halten sein.
Bei allen sonstigen Verschiedenheiten ist die Situation der Juden in den verschiedenen Teilen Deutschlands, unter diesen Gesichtspunkten betrachtet, vielfach einander sehr ähnlich geworden. Man sagt, daß ein Jude, wenn er in den Tempel komme, woher er auch sei, sich nicht fremd fühle. Heute, scheint es uns, fühlt er sich auch sonst nicht fremd. Die Gespräche der Juden hier sind kaum andere als dort, dieselben Fragen, dieselben Sorgen, dieselben Freuden und dieselben Leiden; im äußersten Osten dieses Reiches ebenso wie im äußersten Westen; die Namen sind vielfach andere, aber sonst sind nicht einmal in den Gesichtern große Verschiedenheiten - mit einer Ausnahme, die, wenn wir so sagen dürfen, das Gesicht der Gemeinde betrifft, und von der noch zu sprechen sein wird.
Die Unsicherheit, die unser Dasein kennzeichnet, die ausgegangen ist von der Erschütterung unserer wirtschaftlichen Existenzen und begleitet bzw. gefolgt war von schweren seelischen Konflikten, zeigt im großen und ganzen im Westen dieselben Spuren wie im Osten. Das äußere Bild, das das Leben zweier solcher Großgemeinden bietet - Breslau ist mit jetzt noch knapp 17 000 Juden etwas größer als Köln - unterscheidet sich daher trotz der beträchtlichen Entfernung nicht wesentlich. Unsere Aussonderung aus dem allgemeinen Leben und unsere Absonderung [sind] hier so vollständig wie da, und jeder Einsichtige und verantwortlich Fühlende fügt sich den gegebenen Tatsachen. Das Haus ist wieder stärker zur Stätte unseres privaten und geselligen Lebens geworden, und daneben geben jüdische Unternehmungen dem, der danach verlangt, Gelegenheit zum Zusammensein. Wenn sich so der äußere Rahmen des Lebens der Juden in diesen beiden Großgemeinden recht ähnlich ist, so zeigt auch das, was ihn ausfüllt, manchen übereinstimmenden Zug. Die berufliche Struktur der Juden zeigt in Köln und im Rheinland nicht ganz dieselbe Massierung in einigen wenigen Berufen und Berufszweigen. Das, was man hierüber sagen kann, gilt naturgemäß mehr für die Vergangenheit als für die Gegenwart, in der sich die Verhältnisse teilweise stark geändert haben und täglich weiter ändern. Der Westen hat, was die Berufssituation der Juden angeht, eine gesündere Struktur aufzuweisen. Hier ist die Verteilung im Einzelhandel, im Großhandel und in der industriellen Fabrikation besser als da, wo einige Branchen wie Konfektion, Leinen- und Baumwollwarengroßhandel, Getreidehandel seit je sehr stark jüdisch besetzt waren. Ein wesentlicher Unterschied liegt darin, daß die schlesische Provinz sogar einschließlich Oberschlesiens niemals eine so starke jüdische Bevölkerung aufzuweisen hatte, wie das Rheinland. Heute leben in beiden Schlesien noch rd. 3-4 000 Juden außerhalb Breslaus, während in der Rheinprovinz in einer großen Anzahl von kleinen und kleinsten Gemeinden noch etwa 25 000 jüdische Seelen leben. Daß dieser Faktor in wirtschaftlicher wie in jeder anderen Beziehung von Bedeutung ist, liegt auf der Hand, wenn auch die Situation der Juden in der rheinischen Provinz, über die wir demnächst gesondert berichten werden, sich ständig erheblich verschlechtert. Die wirtschaftliche Lage der Juden in Schlesien muß man im allgemeinen als schlecht bezeichnen, wobei in Rechnung zu stellen ist, daß die Provinz Schlesien innerhalb der deutschen Wirtschaftsbezirke immer ein besonderes Notstandsgebiet gewesen ist. Schon die Krisenjahre vor 1933 haben daher dem jüdischen Wirtschafts-Sektor in Schlesien viele und schwere Wunden geschlagen. Nach dem von der Jüdischen Winterhilfe (Berlin) veröffentlichten Material kamen im vergangenen Winter 1936/37 in Schlesien bei einem Bevölkerungsanteil von 5,04 % an der jüdischen Gesamtbevölkerung Deutschlands 5,83 % auf je 100 Hilfsbedürftige im Reiche, in der Rheinprovinz bei einem Bevölkerungsanteil von 9,78 % ein Prozentsatz von 9,66 % Hilfsbedürftige. Das Spendenaufkommen zur Winterhilfe betrug in Schlesien 3,90 %, im Rheinland 8,39 %, ist also am prozentualen Bevölkerungsanteil gemessen in Schlesien etwas schlechter gewesen. Die Breslauer Gemeinde selbst hat rd. 4500 Menschen betreuen müssen gegen rd. 2500 in Köln. Noch deutlicher als diese Zahlen spiegeln die Zahlen des Breslauer Gemeinde-Etats die schlechtere Lage dieser Großgemeinden wider. Auch die Lage einzelner Institutionen, die direkt oder indirekt von der Gemeinde abhängig sind, zeigt dasselbe Bild, erwähnt sei nur die schwere finanzielle Krise, in der sich das Breslauer Jüdische Krankenhaus seit einigen Jahren trotz bedeutender Subventionen durch die Gemeinde befindet. Im Etatanschlag für 1937/38 machten die Ausgaben des Wohlfahrtsamtes der Breslauer Gemeinde allein rd. 33 % der Gesamtausgaben aus.
Auf das jüdische Leben der Breslauer Gemeinde hat, das kann erfreulicherweise gesagt werden, die schlechte wirtschaftliche Situation keinen Einfluß gehabt. In vielem sind hier die Dinge ähnlich wie in Köln. Das jüdische Leben kristallisiert sich um die jüdischen Schulen, das Jüdisch-Theologische Seminar, das Jüdische Lehrhaus, den Kulturbund und die jüdisch-weltanschaulichen Gruppen, die sämtlich sehr aktiv sind. Zum jüdischen Leben muß man ja wohl auch die Gemeindepolitik rechnen, die in Breslau in den letzten Jahren eine sehr große Rolle gespielt hat und noch spielt. Die Verhältnisse auf diesem Gebiet können nicht gerade als erfreulich bezeichnet werden, und ihr Ablauf in Köln scheint wesentlich harmonischer zu sein. Eine Reihe von Streitpunkten hat die Breslauer Gemeinde wiederholt in starke Unruhe versetzt. Wollte man daraus den Schluß ziehen, daß die jüdischen Fragen dort so viel ernster genommen werden als etwa in Köln, so wäre das wohl nicht ganz richtig. Aber nicht zu übersehen ist, daß trotz des seit Jahren bestehenden Kompromisses die Parteipolitik wiederholt viel zur Verschärfung mancher Situation beigetragen hat; und der bewußt und immer sehr korrekt über den Parteien stehende Vorsitzende der Breslauer Gemeinde, Stadtrat a. D. Less, hat, wie uns scheint, einen viel weniger leichten Stand als sein Kollege, Konsul Bendix. Sicher ist auch, daß sich in diesen Dingen das verschiedene Temperament der Menschen im Osten und im Westen zeigt. Der Einfluß, den die geographischen, die wirtschaftlichen und die soziologischen Gegebenheiten auf den Menschen haben, zeigt sich bei den rheinischen Juden unverkennbar in dem gleichen Sinne, in dem sich der Mensch des deutschen Westens von dem des Ostens unterscheidet.
In jüdisch-religiöser Hinsicht besteht in Breslau nur die Einheitsgemeinde mit konservativem und liberalem Ritus. Eine Trennungsgemeinde ist nicht vorhanden. Der Gottesdienst im einzelnen unterscheidet sich nicht wesentlich, kleine Besonderheiten im Brauch, in den Gebeten und Gesängen, sind bekanntlich den westlichen bzw. den östlichen Gemeinden seit je eigentümlich. Viel Hilfe und Anregung empfängt das religiöse wie allgemein das jüdische Leben durch das schon genannte Rabbinerseminar, dessen Dozenten und Hörer überall zur Verfügung stehen. Leider ist auch diese Anstalt - neben Berlin die einzige in Deutschland - in ihrem Bestand bedroht, wenn die erforderlichen Mittel nicht weiter aufgebracht werden können. Das Seminar enthält eine der größten und bedeutendsten jüdischen Bibliotheken.
Im großen und ganzen ist ein Aufschwung des jüdischen Lebens, eine verstärkte Hinwendung zur Beschäftigung mit Juden und Judentum in den letzten fahren zu verzeichnen gewesen. Aber nicht anders als in Köln und anderswo im Reiche ist ein Rückschlag gefolgt. Die zarte Pflanze in dem aufgewühlten und aufgelockerten Boden ist mit zuviel Kunstdünger behandelt, ist überhaupt von viel zu vielen Gärtnern bearbeitet worden. Das scheint uns der wesentliche Grund für die Fehlleitungen und die verlorene Liebesmühe, die man heute überall täglich beklagt.
Daß die Breslauer Gemeinde an Alter sich mit der Kölner Gemeinde nicht messen kann, ist bekannt. Der Stolz, die älteste jüdische Gemeinde in Deutschland zu sein, kann Köln nicht streitig gemacht werden. Immerhin stammt auch die Gemeinde in Breslau aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts, und Juden aus dem Westen Deutschlands, die seit den Kreuzzügen unaufhörlich nach dem Osten wanderten, können als Vorväter der Breslauer Juden angesehen werden. Urkundlich bezeugt sind Juden in Breslau seit dem Jahre 1203. Ein Teil der schlesischen Juden scheint aus dem Orient gekommen zu sein, worauf u. a. der älteste bekannte Name eines Breslauer Juden (David b. Sar Scholaum) hindeutet. Auf die bedeutende Rolle, die die dortige Gemeinde in der Zeit nach der Emanzipation der Juden in Deutschland wieder gespielt, auf den Anteil, den sie beispielsweise an den religiösen Kämpfen des vergangenen Jahrhunderts (Geiger-Tiktin) gehabt hat, soll hier nicht näher eingegangen werden. Judengemeinden in Deutschland. Sie haben alle ihre Geschichte, ihre Tradition; sie hatten eine Blüte wirtschaftlichen, geistigen und sozialen Lebens, und sie zeigen heute alle mehr oder minder übereinstimmend die Zeichen des Verfalls, weil die Nöte der Gegenwart nicht mehr gemeistert werden können. Deshalb möchten wir mit dieser Gegenüberstellung, die keinen Anspruch auf eine erschöpfende Darstellung macht, die Harmonie und den Frieden, den sich die Gemeinde Köln errungen hat, als ein Beispiel und Vorbild ansehen, das in unserer Zeit überall Nachahmung finden sollte.