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Chronik und Quellen
1937
April 1937

Bericht von Rabbiner Wahrmann

Rabbiner Wahrmann berichtet am 16. April 1937 über die gravierenden Probleme der jüdischen Gemeinden in Schlesien:

Bericht über meine Tätigkeit vom 1. April 1936-31. März 1937

1.) Allgemeines:

Die Feststellungen, die ich in meinem letzten Tätigkeitsbericht in bezug auf die Lage der Juden in den Kleingemeinden gemacht habe, treffen in vollem Umfange auch auf die Berichtszeit zu. Die Wanderbewegung hielt im letzten Jahr weiter an: sie war zum grössten Teil eine Binnenwanderung. Zu den Gemeinden, die durch Verminderung ihrer Seelenzahl die Gotteshäuser aufgegeben haben (Festenberg, Freystadt, Neusalz), ist im letzten Jahr Striegau dazu gekommen. Während es sich aber in den genannten Orten nur um gemietete Betstuben handelte, die nicht mehr aufrecht erhalten werden konnten, beabsichtigt jetzt eine Gemeinde (Winzig) ihr schönes Gotteshaus gerade im 75. Jahr seines Bestehens an die Stadt zu verkaufen, weil die dort wohnenden jüdischen Familien die erforderlichen Mittel für die Dachreparatur (400 Mark) nicht aufbringen können. Sehr erschüttert wurde in der Berichtszeit auch der Bestand der Gemeinden Gross-Wartenberg, Bernstadt und Sagan. Die Gemeinde Ohlau hat ihr Betlokal, das seit Jahrzehnten in einem städtischen Gebäude untergebracht war und vor einigen Jahren unter grossen Opfern der Gemeinde renoviert und neu eingerichtet wurde, eingebüsst, da sie den Raum der Stadt wieder freigeben musste. Hoffentlich gelingt es der Gemeinde, eine neue Betstätte zu bekommen, damit sie das bisher bestandene rege Gemeindeleben auch fernerhin aufrecht erhalten kann.

2.) In Oels:

Auch die hiesige Gemeinde ist in der Berichtszeit durch Abwanderung, Tod und Ueber tritt in die katholische Kirche (Zahnarzt Dr. Brieger) kleiner geworden. Dessen ungeachtet konnte das jüdische Leben in vollem Umfange aufrecht erhalten werden. Ich predigte hier an allen Festtagen, erteilte an zwei Nachmittagen in der Woche in drei Gruppen Religionsunterricht und leitete auch bis vor kurzem einen Kursus in Neuhebräisch für Erwachsene. (Leider nehmen die beiden Kinder des Rittergutsbesitzers Oliven in Buselwitz bei Oels seit Jahren am katholischen Religionsunterricht teil; alle meine bisherigen Bemühungen deswegen waren ohne jeden Erfolg.) Ich arbeitete ferner im Gemeindevorstand mit, indem ich an seinen Sitzungen teilnahm, betreute regelmässig die jüdischen Insassen des hiesigen Gefängnisses und stand den charitativen Vereinen und darüber hinaus vielen Gemeindemitgliedern mehrfach mit Rat und Tat zur Seite. Schliesslich wäre noch meine Beteiligung an der Sammlung für die Reichsvertretung, die hier einen ansehnlichen Betrag ergeben hat, zu erwähnen. Besondere Veranstaltungen in der Gemeinde waren ein Chanukkah-Gottesdienst für die Kinder mit Bewirtung und Geschenken an diese, ein Kulturabend des Preussischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden (Dr. Heinrich Stern) und zwei Vortragsabende (Direktor Dr. Abt und Frau Rose Blum) des Verbandes der Synagogengemeinden der Provinz Niederschlesien. Ueber die Bedeutung des Isaak Abarbanel sprach ich am zweiten Pessachtag im Rahmen meiner Festtagspredigt. Beide Vortragsabende sind von mir angeregt und geleitet worden.

3.) Im Bezirk:

Infolge des andauernden Schrumpfungsprozesses entstehen immer mehr Zwerggemeinden mit wenigen Familien, die ziemlich isoliert fast ohne jede jüdische Anregung und Belehrung leben müssen. Diesen Menschen das Gefühl des Verlassenseins zu nehmen und ihnen in ihrem schweren Existenzkämpfe mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, betrachtete ich als die wichtigste Aufgabe meiner Tätigkeit im Bezirk. Ich habe daher oft Reisen in derartige Zwerggemeinden gemacht, die wenigen Familien in ihren Wohnungen besucht und mit ihnen ausführlich ihre Lage besprochen. Diese Besuche stellten oftmals für längere Zeit die einzige Verbindung mit der jüdischen Aussenwelt dar und sind daher stets mit inniger Dankbarkeit begrüsst worden. Um aber diese Menschen auch durch das Wort der Lehre seelisch aufzurichten und innerlich zu stützen, habe ich gemeinsam mit einem Breslauer Kantor an zentralen Punkten (z. B. Löwen, Münsterberg, Strehlen, Sprottau, Städtel und Steinau) religiöse Feierstunden veranstaltet, an denen sich mehrere Gemeinden beteiligten und die sichtlich einen nachhaltigen Eindruck hinterliessen. Darüber hinaus habe ich in mehreren Gemeinden an Sonnabenden (wo die Möglichkeit einer rituellen Verpflegung vorhanden war) und an Sonntagen Predigtgottesdienste abgehalten. Gegen Ende der Berichtszeit hat mein Bezirk eine kleine Aenderung erfahren. Durch die Auflösung des Bezirksrabbinats in Gross-Strehlitz erhielt ich die oberschlesischen Gemeinden Konstadt, Kreuzburg, Landsberg und Pitschen, während die Gemeinden Brieg und Löwen in Zukunft vom Rabbinat in Oppeln betreut werden sollen. Die Betreuung des Bezirks wird ergänzt durch meine Beteiligung an den Sitzungen des Arbeitsausschusses des Verbandes der Synagogengemeinden der Provinz Niederschlesien in Breslau sowie durch eine umfangreiche Korrespondenz mit den Gemeinden, Verbänden, Behörden und Einzelpersonen der verschiedenen Orte. Im ganzen habe ich in der Berichtszeit 56 Dienstreisen unternommen und folgende Orte besucht: Bernstadt, Festenberg, Fraustadt, Gross-Wartenberg, Jauer, Kanth, Konstadt, Kraschnitz, Leubus, Löwen, Militsch, Neumarkt, Namslau, Obernigk, Ohlau, Sagan, Schweidnitz, Sprottau, Städtel, Steinau, Strehlen, Strie-gau, Trachenberg, Trebnitz, Winzig, Wohlau. Ferner habe ich in dieser Zeit 789 Schriftstücke abgesandt.

4.) Anstaltsseelsorge:

Während ich die Seelsorge in dem Gefängnis in Oels, der Strafanstalt Wohlau, der Provinzialheil- und Pflegeanstalt Leubus und dem Deutschen Samariterordensstift Kraschnitz von jeher ausübte, hat in der Berichtszeit meine Tätigkeit auf diesem Gebiete einen gros-sen Umfang erfahren. Durch einen Einzelfall hat sich die Notwendigkeit der Zentralisierung der Seelsorge in den Strafanstalten meines Bezirks ergeben. Auf Veranlassung des Verbandes der Synagogengemeinden der Provinz Niederschlesien ist mir durch Verfügung des Herrn Generalstaatsanwalts in Breslau die Seelsorge in allen Strafanstalten Niederschlesiens, die keinem Rabbinat unterstehen (einschliesslich Jauer) übertragen worden. Gerade die Strafanstalt Jauer, in der regelmässig 10-15 Insassen aus allen Teilen Preussens untergebracht sind, erfordert ihrer besonderen Struktur wegen (Frauenzuchthaus) eine intensivere Betreuung und einen umfangreichen Schriftwechsel mit den Angehörigen. Ich halte dort Religionsstunden ab (Vorlesung und Besprechung religiöser und allgemeinjüdischer Texte) mit anschließender Einzelsprechstunde. Mit Hilfe des Verbandes der Synagogengemeinden der Provinz Niederschlesien und des jüdischen Wohlfahrtsverbandes für Niederschlesien konnte ich an die Insassen der Strafanstalten mehrfach Gebetbücher, Chumoschim und Bibeln verteilen. Ebenso bekommen jetzt einige Anstalten, in denen Insassen mit längeren Haftstrafen vorhanden sind, regelmässig das Breslauer und Berliner Jüdische Gemeindeblatt zur Weiterleitung an die jüdischen Insassen. Desgleichen sind diese zu den Pessachfeiertagen mit Mazzoth versorgt worden.

5.) Jugendarbeit:

In allen Gemeinden des Bezirks ohne Ausnahme hat sich die Zahl der Jugendlichen vermindert. Dies wurde hervorgerufen zum Teil durch die Wanderbewegung (s. Nr. 1), zum Teil aber auch durch die Umschulung vieler Kinder in die jüdischen Schulen Breslaus. Vielfach bestehen die Gruppen für den Religionsunterricht aus je einem Kinde. Dessen ungeachtet wurde überall der Unterricht in der bisherigen Weise durchgeführt und von mir durch laufende Inspektionen überwacht. Eine besondere Hervorhebung verdient die grosse Jugendfeier in Breslau, die der Verband der Synagogengemeinden der Provinz Niederschlesien mit Unterstützung anderer Organisationen für die Kinder der Provinz am Sukkothfeste veranstaltete und an der ich auch mitwirken durfte. Sie war ein voller Erfolg und hat bei den Kindern einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.

6.) Archivalien:

Trotz mehrfacher Aufforderungen seitens der zentralen Verbände, entbehrliche Akten den jüdischen Archiven zuzuführen, sind immer noch in vielen Gemeinden Archivalien vorhanden, denen allmähliche Vernichtung droht, wenn sie nicht sorgfältig aufbewahrt werden. Auch in der Berichtszeit habe ich bei meinen Besuchen in den Gemeinden jeweils nach Archivalien geforscht, und es ist mir auch in einem Falle gelungen, beträchtliches Material dem Archiv der Synagogengemeinde Breslau zuzuführen (Gemeinde Fraustadt). In zwei Fällen sind durch meine Vermittlung dem Archiv Personenstandsregister zur Abschrift überlassen worden (Festenberg und Oels).

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