Tagebucheintrag von Werner Angress
Der sechzehnjährige Werner Angress beschreibt am 18. Februar 1937 seine Reaktion auf den Selbstmord seines Gruppenleiters im Umschulungslager Groß-Breesen:
Breesen, d. 18.2.37.
Hannio ist tot! Drei kurze, banal klingende Worte, und was für schwerwiegende Worte. Ich habe damals nicht gleich geschrieben, teils weil ich es nicht konnte, teils weil ich später nicht dazu kam. Hannio hat sich am 2. Februar, in der Nacht vom 1. zum 2., in einem Breslauer Hotel das Leben genommen. Es klingt ganz furchtbar roh und kalt, wie ich das hier schreibe, aber ich tue es, um nicht sentimental zu schreiben, was noch schlimmer war. Hannio war körperlich schwach, er war krank, hatte eine Nierenkrankheit, und fühlte sich nicht fähig, Siedler zu werden. Er hatte sein ganzes Leben endlich, nach vielen verunglückten Versuchen in anderen Berufen und Gemeinschaften, auf Breesen aufgebaut. Das war der innere Grund. Der Anlaß war, daß bei der Kantinenabrechnung aus seiner Zeit mehrere Hundert Mark fehlten. Er wurde zur Rede gestellt, beteuerte, daß er nicht wüßte, wo das Geld sei. Man glaubte ihm, aber trotzdem fehlte das Geld. In dieser Stimmung und dem Gefühl, daß er vielleicht nicht mitkommen könnte und siedeln könnte, daß er sowohl krankheitshalber als auch wegen der ungeklärten Kantinensache Groß Breesen verlassen müßte, daß er nicht [sehen] wollte, wie alle nach und nach rübergingen und er Zurückbleiben muß, weil er Gr[oß] Breesen liebte, nahm er eine Überdosis Schlafpulver, an der er am 2. Februar, Dienstag um fünf Uhr, starb.
Hannio war in der Kantinensache zwar schlampig und unordentlich gewesen, aber ehrlich. Hannio ist, das ist ganz gewiß, kein unehrlicher Mensch gewesen. Hannio war mein Führer, seitdem er mich Gerts Einfluß entriß, und in letzter Zeit war er mein Freund. Jetzt merkt man hier, äußerlich, kaum mehr etwas von diesem Verlust. Alles geht weiter. Nur in einem selbst ist eine leere Stelle, wie damals bei Stella. 2 Freunde, 2 Jungen der Gruppe, der Hanniotengruppe, in einem knappen halben Jahr. Hannio fehlt überall, die Gruppe führt Bondy. Jochen leitet den technischen Ordnungsteil. Aber Hannio fehlt. Daß wir ihn nicht vergessen, ist klar. Einen Menschen, den man gern hatte, dem man viel verdankt, und der einem fehlt, den kann man ja gar nicht vergessen. Hannios Wunsch war es, daß wir Weiterarbeiten, in der Gruppe und an uns, so wie er uns den Weg wies. Ich schreibe erst heute, weil ich heute ruhiger bin. Ich habe heute eine schwere Verantwortung, genauso wie alle anderen Jungen, die wichtig in der Gruppe sind, seine Gruppe. Wir bleiben weiter: „die Hannioten“, äußerlich, und hoffentlich auch innerlich. Wenn ich mir das eben Geschriebene durchlese, so habe ich das Gefühl, gar nicht das geschrieben zu haben, was ich denke. Aber das ist, glaube ich, gut so. Ich will hart werden. „Töp werde hart, Du mußt es!“, das war das Ende jedes Gesprächs mit Hannio. Ja, ich will es! Ich gehe und sehe vorwärts, ohne daß das jetzt phrasenhaft sein soll. Ich hoffe, daß die Gruppe klappt. Ich werde meinen Teil dazu tun. Ich glaube, daß die Freundschaft Prinz-Töpper-Stefan klappt. Auch dazu will ich alles tun. Hannio hat uns ja allen unsern Weg gezeigt, wir brauchen ihn nur zu gehen: „Der Weg von dem Mitglied der Gemeinschaft über die Härte sich selbst gegenüber zur Persönlichkeit!“ Das ist mein Weg, wie Hannio ihn mir zeigte. Ich will ihn gehen.
Hannio war nicht feige. Hannio hat aus keinem Impuls heraus gehandelt, sondern er war konsequent. Alles für Groß-Breesen! Als er sich dieser Idee verschworen hatte, und er sah sie für sich zerbrechen, da machte er Schluß, da er sein Leben für sinnlos hielt. Man lobt einen Toten immer. Ich tue es nicht. Ich kannte Hannios Fehler, aber ich kannte auch seine Stärken. Und eine davon war: „Was ich mir vornehme und als richtig erkannt habe, das führe ich aus.“ Mit diesem Gedanken führte er diesen Schritt aus. Nein, Hannio war nicht feige. Er bleibt mir Führer.