Bericht über Ängste des jüdischen Bürgertums
Ernst Marcus berichtet über die Ängste des jüdischen Bürgertums im Breslau der Jahre 1936/37:
In den Jahren 1936/37 hat sich der „Lebensraum“ unseres Daseins ständig verkleinert, die Beängstigung und Gefährdung von Tag zu Tag vergrößert. Wir wußten, daß jede unvorsichtige Äußerung am Telefon, jede unbedachte Bemerkung in einem Brief Vernehmungen bei der Staatspolizei, Verhaftungen, Konzentrationslager zur Folge haben konnte. Ein Breslauer Kaufmann wurde auf die Staatspolizei geladen und einem stundenlangen Verhör über angebliche kommunistische Beziehungen unterworfen. Man bedrohte ihn mit Verhaftung; er beteuerte, nie Kommunist gewesen zu sein. Schließlich stellte sich folgen des heraus: Der Betreffende war einige Zeit vorher in einem schlesischen Gebirgsort gewesen. Er führte von dort einige Ferngespräche mit seinem Büro und fragte gelegentlich nach einer Sendung, die er aus Muskau, einer kleinen Stadt in Niederschlesien, erwarte. Die Fernsprechbeamtin, die das Gespräch mithörte, verstand statt Muskau Moskau und erstattete Anzeige.
Es kam damals das Gerücht auf, daß die Arbeiter des Telefonamtes, die gelegentlich zur Revision der Apparate kamen, eine Abhörvorrichtung einbauten, so daß also alles gehört werden könne, was in der Nähe des Apparates, auch wenn dieser nicht benutzt wurde, gesprochen wurde. Es wurde erzählt, daß auf diesem Weg Gespräche belauscht und die Beteiligten verhaftet worden seien. Ich habe nie erfahren, ob an diesen Gerüchten etwas Wahres sei. Genug, daß dadurch schon die bloße Existenz eines Telefons zur Quelle der Angst wurde. Viele wagten nicht, in dem Zimmer, in dem sich das Telefon befand, laut zu sprechen.
Eine Idee von der Unsicherheit des Lebens kann man sich machen, wenn man bedenkt, daß wir uns auch im Ausland nicht mehr sicher fühlten. Es wurden Leute, die von Auslandsreisen zurückkehrten, bezichtigt, deutschfeindliche Zeitungen, z. B. das „Pariser Tageblatt“, gelesen zu haben und man hielt ihnen, wenn sie leugneten, Fotografien vor, die im Ausland von Spitzeln aufgenommen [worden] waren. Im Jahre 1936 wollte ich in Marienbad eine soeben erschienene Broschüre lesen, in der sich ein früherer Nazi mit dem Reichstagsbrand, den Vorgängen vom 30. Juni 1934 usw. beschäftigte. Ich wagte nicht, die Broschüre in Marienbad zu kaufen, sondern benutzte dazu einen vorübergehenden Aufenthalt in Karlsbad, las sie hinter verschlossenen Türen und entledigte mich ihrer dann im Wald. Unsere letzten Reisen ins Ausland waren für meine Frau infolge dieser Beängstigungen und infolge des Schocks, den die Rückreise jedesmal darstellte, kaum noch eine Erholung.
Auch das Zusammensein mit Freunden war nicht mehr wie früher Erholung und Entspannung. Nur wenige brachten es fertig, sich wenigstens für einige Stunden von den Schrecknissen des Tages und der Sorge um die Zukunft zu distanzieren.