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Chronik und Quellen
1936
Juni 1936

Zeitungsartikel über Lage der Juden

Artikel über die Lage der deutschen Juden kurz vor den Olympischen Spielen in Berlin in der „Pariser Tageszeitung“:

Ein Paradies für Erpresser - Das Martyrium der deutschen Juden dauert an

London, 22. Juni. In den letzten Monaten war in der ausländischen Presse wenig über die Lage der Juden in Deutschland zu lesen. Das hat offenbar seinen Grund darin, dass die Presse in Deutschland angewiesen wurde, im Hinblick auf die bevorstehende Olympiade nicht viel über die antijüdische Bewegung in der Partei und die antijüdischen Massnahmen der Behörden zu berichten. Dass aber das Martyrium der etwa 480 000 jetzt noch in Deutschland lebenden Juden unter dem Regime der Nürnberger Gesetze keine Abschwächung, in mancher Beziehung sogar eine Steigerung erfahren hat und dass für die Zeit nach der Olympiade ein neuer antijüdischer Feldzug befürchtet wird, geht aus der nachstehenden Darstellung eines Sonderberichterstatters der Jüdischen Telegraphenagentur hervor; diese Darstellung stützt sich auf eine längere gründliche Beobachtung:

Ueber die wirkliche Lage der Juden in Deutschland dringt in letzter Zeit weniger als je in das Ausland. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass mit Rücksicht auf die bevorstehende Olympiade von Aktionen grösseren, nach aussen in die Erscheinung tretenden Stils abgesehen wird. Es kommt hinzu, dass das Netz der Geheimen Staatspolizei immer engmaschiger und somit die Weitergabe von Nachrichten schwieriger geworden ist. Immerhin lassen sich auch heute noch bei einer Reise durch Deutschland eine Reihe von nicht allgemein bekannten Feststellungen treffen. Zunächst: dass der Eifer der untergeordneten Organe der Partei gerade mit Bezug auf die Judenfrage nicht nachgelassen hat. Jeder Gaufürst regiert auf diesem Gebiet, wie er will, und die wirtschaftliche Existenz vieler Tausender Juden hängt viel weniger von den Richtlinien ab, die das Reichswirtschaftsministerium erlässt, als von dem Fanatismus der hundert und aberhundert Unter- und Unterunterführer.

Im Schatten der Nürnberger Gesetze

In den Mittel- und Kleinstädten ist fast durchweg eine weitere Verschlimmerung der Gesamtlage der noch dort wohnenden Juden festzustellen. Der Schatten der Nürnberger Gesetze lastet riesengross über ganz Deutschland, aber besonders über den Kleinstädten und den Orten mittlerer Grösse. Mit diesen Gesetzen, besonders dem über Rassenschande, ist Deutschland ein klassisches Land für Erpresser geworden. Die Natur der hier in Betracht kommenden Dinge und eine gewisse Scheu, die Intimitäten des geschlechtlichen Lebens der Oeffentlichkeit vorzusetzen, haben die ausführliche Erörterung bisher verhindert.

Von einem nur sehr geringen Teil der erfolgenden Verurteilungen berichtet in wenigen Zeilen die Presse Deutschlands und der verschiedenen Länder. Man weiss daher, dass Zuchthausstrafen nur so hageln. Aber von all den Tragödien im Bezirk der geheimsten Dinge des menschlichen Lebens, die in der viel grösseren Zahl nicht veröffentlichter Fälle beschlossen liegt, von der damit verbundenen wirtschaftlichen Vernichtung der Betroffenen, von der Zerstörung lang andauernder Beziehungen menschlicher Art, die aus nicht immer einfach mit einer Handbewegung abzutuenden Gründen nicht zur Legitimierung geführt haben, spricht niemand.

Verarmung der jüdischen Intellektuellen

Die wirtschaftliche Lage der Juden ist natürlich örtlich und den Berufen nach nicht einheitlich. Im allgemeinen folgt ihre Lage, aber um vieles verschlimmert, der ihrer Berufsgenossen. In der Anwaltschaft, die in früheren Zeiten einer erheblichen Anzahl von Juden eine gute Position gegeben hat, liegen die Dinge im allgemeinen schlimm. Man braucht nur auf eine einzige Ziffer hinzuweisen: in Berlin ist die Zahl der ordentlichen Prozesse, die im Jahre 1932 etwa 64000 betrug, für 1935 auf 14000 zurückgegangen! Die jüdischen Anwälte sind heute zum grössten Teil fast ohne jede Praxis. Jüdische Beamte, jüdische Notare gibt es nicht mehr. Unter den jüdischen Aerzten ist die Abwanderung besonders gross, da ihnen anders als z. B. den Juristen trotz aller Erschwerungen des Fortkommens in der Welt immerhin noch Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Auf manchen Spezialgebieten stellt sich bereits eine gewisse Knappheit an jüdischen Aerzten ein.

Auf dem weiten Gebiet der künstlerischen, literarischen Betätigung reichen die in Deutschland bestehenden jüdischen Organisationen, die Zeitungen, der Kulturbund natürlich bei weitem nicht aus, um allen Fähigen und Bedürftigen Arbeit und Brot zu geben. Auch aus diesen Berufen muss fortgesetzt eine weitere Abwanderung erwartet werden.

Wachsender Auswanderungswille

Aber es gibt für den, der einige Zeit von Deutschland abwesend war und jetzt wieder Gelegenheit hatte, den Seelenzustand der jüdischen Gemeinschaft zu beobachten, einen tiefgehenden Unterschied gegen das, was er vor Erlass der Nürnberger Gesetze und der Hetze, die ihrem Erlass vorausgegangen ist, bei den deutschen Juden feststellen konnte: der Auswanderungswille ist in ausserordentlichem Grade gewachsen. Während früher bei den zwischen den einzelnen Vorstössen der radikalen Wellen liegenden, etwas ruhigeren Zeiten sich sofort auch ein entsprechender Optimismus in den jüdischen Kreisen zeigte, ist die Ueberzeugung heute allgemein, dass der Vernichtungswille der nationalsozialistischen Bewegung gegen das deutsche Judentum und, wenn sie die Macht hätte, gegen das Judentum in der Welt, ungebrochen fortlebt und sich Einschränkungen nur insofern auferlegen lässt, als die innere ökonomische Lage und die Gebote der Aussenpolitik sie unabweisbar erscheinen lassen.

Es ist heute dem überwiegenden Teil der deutschen Juden klar geworden: der Nationalsozialismus wird nur einen völlig proletarisierten, aller seiner Rechte beraubten kleinen Teil des deutschen Judentums im Reich leben lassen, soweit er nicht durch die wirtschaftliche Lage des Landes oder durch internationale Interventionen gezwungen wird, anders zu handeln. Es ist darum ein verhängnisvoller Irrtum, zu glauben, die jüdische Auswanderung aus Deutschland sei schon zu Ende. Wahr ist vielmehr, und die Welt muss, ob sie will oder nicht, diesen Dingen ins Auge sehen, dass beim ersten Einsetzen einer neuen Verschärfungswelle mit einer zahlenmässig die der Jahre 1933 und 1934 noch übersteigenden Wanderungsbewegung zu rechnen ist.

Die Situation in Oberschlesien

Ein Problem besteht in Oberschlesien. Die deutsch-polnische Konvention ist an sich nur für 15 Jahre geschlossen. Durch die Verhandlungen in der Völkerbundsversammlung des Jahres 1933 anlässlich der Petition Bernheim i[st] Deutschland gezwungen worden, anzuerkennen, dass den Juden in Deutsch-Oberschlesien Minderheitenrechte zustehen. Der Zustand, der sich infolge dieses Anerkenntnisses dort herausgebildet hat, ist von dem des übrigen Deutschland so verschieden, dass sich die etwa 20 000 Juden in Oberschlesien mit Besorgnis fragen, welcher Rechtszustand ab 15. Juni 1937 dort herrschen wird. Die ganze Ariergesetzgebung ist dort nicht eingeführt, es gibt noch jüdische Richter, Beamte, Notare; die Nürnberger Gesetze gelten dort nicht. Kurz, es ist eine Art „Naturschutzpark“ geschaffen, den man nach den Aeusserungen von massgebender deutscher Seite so schnell wie möglich beseitigt haben möchte. Das wird aber angesichts der erworbenen Rechte, die den oberschlesischen Juden zustehen, nicht so leicht sein, zumal Deutschland an der Erhaltung eines Minderheitenschutzes in diesem Gebiet ein weit grösseres Interesse hat als Polen. Furchtbare Zahl der Selbstmorde

Noch auf einen psychologischen Vorgang sei zum Schluss hingewiesen. Die deutschen Juden stehen jetzt im vierten Jahr unter einem Ausnahmerecht, das das des Mittelalters weit hinter sich lässt. Die tiefen Demütigungen, die ihnen fortgesetzt zugefügt werden, haben ihre Spuren auch bei denen hinterlassen, die an sich entschlossen sind, in Deutschland solange auszuharren, wie dies überhaupt möglich ist. Sie bleiben also bewusst an der Front. Aber die Verbindungslinien zum Hinterland und zur Etappe existieren kaum mehr. Die weitaus grösste Zahl der in Deutschland wohnenden Juden hat von den Vorgängen in der Welt keine andere Vorstellung als die, die ihr aus den Zeitungen, deren strenge Zensur bekannt ist, übermittelt wird. Auch die jüdischen Zeitungen, deren Wirkungskreis durch mehrfache Eingriffe des Propagandaministeriums sehr beschränkt worden ist, können den Lesern nicht einmal andeutungsweise etwas von der Bewegung übermitteln, die es trotz allem in der gesamten Kulturwelt in der Frage der deutschen Judengesetzgebung noch gibt. Auslandsreisen sind nur einer kleinen Minderheit möglich. Dieser vorhandene Mangel an Fühlung mit der Welt vertieft die Verzweiflungsstimmung, von der manche Juden in Deutschland erfasst sind. Die schreckliche Zahl der Selbstmorde, über die nicht einmal eine Statistik geführt werden kann, spricht hier eine beredte und unwiderlegliche Sprache.

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