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Chronik und Quellen
1936
März 1936

Bericht aus Leipzig über die jüdische Auswanderung

Der Auswandererberater bei der Jüdischen Gemeinde Leipzig berichtet am 12. März 1936 über die Ratsuchenden und deren wirtschaftliche Lage:

Die Beratungsstelle Leipzig hat ihre Tätigkeit am 1.2.36 begonnen. Sie konnte sich leider nicht an eine bestehende Einrichtung der Gemeinde anlehnen. Das Büro musste erst rein technisch aufgebaut, Einrichtung musste beschafft werden, usw. Das hemmte zunächst die eigentliche Beratungstätigkeit.

Obwohl ich meine Sprechstunden zunächst nur der Gemeinde Leipzig mitgeteilt hatte, war der Andrang ein nicht unerheblicher. Seit Veröffentlichung in den jüdischen Blättern kommen auch Auswärtige, vor allem viele schriftliche Anfragen. Im Februar gingen 130 Briefe hinaus, darunter aber auch viele an den Hilfsverein mit mehreren Schreiben. Der Andrang wird sicherlich erheblich zunehmen, sobald, wie jetzt beabsichtigt ist, die Sprechstunden bekanntgegeben sind. Ein Bedürfnis nach einer solchen Beratungsstelle liegt zweifellos vor, umsomehr, als viele das Geld gar nicht haben, nach auswärts zu fahren. Zusammensetzung der Fragesteller,

a.) Staatsangehörigkeit.

Ein wesentliches Kontingent stellt zunächst der ostjüdische Teil der Gemeinde Leipzig. Die schlechte wirtschaftliche Lage am Brühl hat viele brotlos gemacht. Dazu kommt, dass eine grosse Anzahl Hausierer keinen Gewerbeschein mehr erhalten hat, dass anderen die Arbeitserlaubnis entzogen, anderen wiederum die Aufenthaltsgenehmigung genommen ist.

Eine besonders grosse Anzahl ist staatenlos, mehrfach weil sie der Militärpflicht in Rumänien und Polen nicht genügt haben. Ein nicht unerheblicher Teil waren polnische Staatsangehörige. Ein grösser Teil steht buchstäblich vor dem Nichts; ersparen konnten sie sich nichts, handeln dürfen sie nicht mehr; sie fallen der Gemeinde Leipzig zur Last, die bald Notstandsgemeinde werden dürfte. Wie diesen Leuten, auch vielen jungen Leuten, die nichts als den Handel gelernt haben, keine Sprachen, ausser deutsch und jiddisch kennen, geholfen werden soll und kann, ist z. Zt. unerfindlich. Es belastet stark die Beratungstätigkeit. Das Gefühl vollkommener Ohnmacht wirkt oft stark deprimierend.

b.) Beruflich.

Der grösste Teil der Fragesteller sind Kauf- und Handelsleute, Handelsangestellte.

Von Handwerkern sind [es] Schuhmacher, Schneider, Kürschner. Unter den Schuhmachern, Schneidern, vielfach ältere Leute, die bisher selbständig waren, aber arische Kundschaft hatten und diese verloren haben, die aber in der jüdischen Gemeinde nicht ausreichend Ersatz finden können. Kürschner und Pelzarbeiter sind durch den Niedergang des Rauchwarengeschäfts brotlos. Leider besteht keine Aussicht, sie nach dem neuen grösseren Centrum des Rauchwarenhandels wie London, New York zu bringen, obwohl es öfters tüchtige Fachleute sind.

Aus dem flachen Lande melden sich zunehmend Handelsleute, Inhaber kleiner Textilwarengeschäfte, die ein klägliches Dasein fristen, besonders z. B. aus der Rhön. Diese Leute sind geradezu am Ende. Der Aufenthalt in den kleinen Orten ist eine Qual, geschäftlich sind sie fast völlig boykottiert. Hier würde vielleicht ein Feld für Umschichtung in die Landwirtschaft sein, weil diese Leute sie öfters nebenbei betreiben; sie könnten ein kleines Vermögen flüssig machen, haben bisweilen aber auch nichts.

c.) Alterszusammensetzung.

Soweit ich es übersehen kann, kamen Leute allen Alters, bis zu 60 Jahren und vereinzelt darüber, vielleicht eine grössere Anzahl jüngere, weil viele ihre Stellung verloren haben oder das bevorsteht. Die begrenzte Einwanderung nach Palästina lässt auch viele, die schon auf Hachscharah waren oder noch sind, sich nach anderen Auswanderungsmög-lichkeiten umsehen.

Landwirtschaft

Auf dem Land gibt es m. E. unter Viehhändlern, Metzgern, auch Textilhändlern, eine gewisse Anzahl, die sich zur Familiensiedlung eignen. Ich schätze aus meinem Bezirk ganz oberflächlich genommen etwa 40-50 Familien. Ich beabsichtige das im Laufe der nächsten Monate durch Besuch des Landes genauer festzustellen, vor allem glaube ich aber, dass sich sehr viele junge Leute finden würden; deren Zahl schätze ich ganz unverbindlich auf 70-100.

Vermögen

Der grösste Teil der Fragesteher war leider völlig vermögenslos.

Es wird wirklich höchste Zeit, dass sich alle verantwortlichen Stehen, insbesondere im Ausland, darauf besinnen, dass die Not im Ansteigen ist und ein weiteres Zögern die Schwierigkeit, sie dereinst zu meistern, immer mehr vergrössert und zum Schluss dieses Meistern unmöglich macht, ungeheures Elend heraufbeschwört, wenn nicht bald etwas Durchgreifendes geschieht, bis dat, qui cito dat.

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