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Chronik und Quellen
1935
Dezember 1935

Artikel von Heinrich Mann in der „Weltbühne“

Die neue Weltbühne: Heinrich Mann protestiert im Dezember 1935 gegen die Judenverfolgung in Deutschland:

Die Deutschen und ihre Juden
von Heinrich Mann

Die deutschen Juden werden planmässig vernichtet, daran ist nicht mehr zu zweifeln. Vorsichtige ältere Juden sagten vor zwei Jahren: „Wir leben doch in einem Rechtsstaat“ -was sie für den unabänderlichen Schutz halten wollten gegen alle noch drohenden Ausschreitungen des Gefühls und der Propaganda. Damals waren die ersten Pogrome schon gewesen. Da dann Ruhe eintrat, konnte man sich einreden, das Gesetz wäre dennoch der stärkere Teil, nicht aber die Volksseele und ihre Lenker. Jetzt glaubt das niemand mehr. Es ist erwiesen, dass das nationalsozialistische Interesse über dem Gesetz steht und dass es Gesetze macht. Recht ist inzwischen geworden, was „dem deutschen Volke nützt“, auch das Bösartigste, auch das Infamste.

Es ist dahin gekommen, dass die Juden auf die Gewalttaten der ersten Zeit wahrscheinlich zurückblicken wie auf ein Idyll. Sie wurden manchmal niedergeschlagen, manchmal verhöhnt und mit Plakaten auf der Brust durch die Strassen gejagt. Ihre Läden wurden tageweise boykottiert und einmalig geplündert: das alles ging noch. Sie konnten es auf Rechnung der bewegten Umstände, überhaupt der „Bewegung“ setzen. Selbst die „Bewegung“ braucht auf die Dauer die Norm, anstatt der Willkür. Gewiss - und grade die Willkür ist seitdem normalisiert worden. Pogrom und Boykott sind in die regelmässigen sozialen Beziehungen eingeführt worden, sie haben jetzt ihre ordentliche Bestimmung sowohl im menschlichen Verkehr wie im Geschäftsleben. Der Jude, der 1935 mit einem sozusagen arischen Kaufmann über den Verkauf seines Geschäfts verhandeln muss, würde weit lieber den sozusagen arischen Janhagel von 1933 bei sich sehen. Der zertrümmerte die Einrichtung und stahl die Kasse; das lässt sich verschmerzen. Ein einsichtsvoller Jude, wie sie oft sind, erkennt darin die überschwengliche Laune eines Völkchens, das ihm wohlgefällig, ja, ein Gegenstand seiner wehmütigen Bewunderung wäre, wollte es nur nicht grade ihn als Opfer ausersehen. Aber der arische Kaufmann 1935 handelt bewusst, anstatt im Rausch, alkoholischer oder nationaler Rausch. Keine Rede kann davon sein bei dem arischen Kaufmann, der dem Juden sein Geschäft abnehmen will für ein Zwanzigstel des Wertes. Er drückt sich zwar aus, wie ein normaler Unterhändler jederzeit gesprochen hätte; in der ganzen Welt sind solche Abschlüsse mit ähnlichen Sätzen eingeleitet worden. Anzug und Manieren des arischen Kaufmanns entsprechen gleichfalls der Übung und Übereinkunft, - wodurch die Täuschung erhöht wird. Denn vom ersten Wort an und schon vorher hat der Jude durchaus gewusst, dass hier nicht Gleichgestellte eine gesittete Auseinandersetzung haben: sondern es wird vergewaltigt, es wird enteignet, und die Zustimmung des Verkäufers wird erpresst mit aussergeschäftlichen Machtmitteln. Es sind nicht die Machtmittel des einzelnen arischen Kaufmanns, - man kann höchstens fragen: woher nimmt er den Mut, vor zwei Jahren hätte er dem nicht geglaubt, der ihm die Szene und seine Rolle darin vorhergesagt hätte. Wer aber durch ihn eigentlich handelt, ist sein Verein, eine Organisation zum zwangsweisen Aufkauf der jüdischen Geschäfte, - dahinter steht drohend die Partei oder der Staat, man kann beides sagen, es ist dasselbe. Während kurzer Wochen hatten die Juden vielleicht gehofft, dass die „Judengesetzgebung“ das gegen sie erlaubte Unrecht festlegen und begrenzen würde. Es gibt eine Judengesetzgebung: so sieht jetzt der Rechtsstaat aus. Nein, auch die Judengesetze sagen nichts über die letzten wirklichen Erlebnisse der Juden, zum Beispiel über den Zwangsaufkauf ihrer Geschäfte. Ein Gesetz darüber wird vielleicht später erlassen werden, wenn das Verfahren alt genug ist und niemanden] mehr aufregt. Die Judengesetzgebung bleibt absichtlich hinter den Ereignissen zurück. Zuerst kommt jedesmal ein neuer Rechtsbruch, er wird geduldet, dringt in die Sitten und Gebräuche ein: dann folgt, in einem günstigen Augenblick, seine Rechtfertigung durch ein Gesetz. Die Welt muss gerade anderweitig stark beansprucht sein und darf nicht genau hinsehen. Zu der Zeit als in Nürnberg die ersten Judengesetze verkündet wurden, erregte Mussolini mehr Ärgernis bei der Welt als sie. Ausserdem betrafen sie nur die bürgerlichen Rechte der Juden, die allerdings auf nichts herabgesetzt wurden; praktisch waren sie aber schon vorher bei nichts angelangt. Die Stellung der Juden in der Wirtschaft dagegen ist gesetzlich auch jetzt noch gar nicht berührt worden, bis vor kurzem wurde sie sogar amtlich für unberührt erklärt. Inzwischen werden sie, unter Mitwirkung der Partei und des Staates, von sogenannten Ariern einzeln enteignet. Auch „Rassenschande“ war lange nur der Vorwand dirigierter Ausschreitungen, bevor der Staat sie ordentlich in Paragraphen fasste. Der nationalsozialistische Staat hatte den Begriff der Rassenschande selbst aufgebracht und seinem Anhang eine neue Betätigung verschafft, Lynchjustiz gegen Rassenschande. Dann greift er ein und übernimmt die gesetzliche Bestrafung. Neuerdings wird die Bevölkerung angeregt, an Juden nichts Essbares abzugeben. Vorbehalten bleibt, etwa infolge der Knappheit von Lebensmitteln, die vollständige, gnadenlose Aushungerung der Juden zum öffentlichen Recht zu erheben.

Das wäre der letzte Schritt. Sie sind keine Bürger mehr, haben keinen Anspruch auf die freie Geschlechtswahl, haben in Wirklichkeit auch die Freizügigkeit verloren, da jeder Ort einzeln sie mit der Aufschrift „unerwünscht“ empfängt. Die Sicherheit des Eigentums ist nur für sie allein beseitigt worden, wenigstens offenkundig geschieht es vorerst nur ihnen. Die körperliche Sicherheit wird ihnen nicht mehr verbürgt: wer sie angreift, handelt in Notwehr, ihre Gefährlichkeit gilt für bewiesen durch ihr blosses Dasein. Ihr Geld liegt fest, grössere Abhebungen von einem jüdischen Guthaben werden verfolgt. Sie können das Land nur als Bettler verlassen, und können auch das nicht, denn alle Länder haben Bettler genug. Auf den ersten Blick erscheint das Schicksal dieser Menschen ausserhalb jedes Vergleichs, ihr Lebensgefühl nahezu unvorstellbar. Das ist es aber mitnichten. Ihre Erlebnisse liegen durchaus auf dem deutschen Weg, und was jüdisch ist, das heisst in einem verkürzten, zusammengerafften Sinn: deutsch.

Die deutschen Juden sind, abgerechnet dass sie auch Juden sind, so deutsch wie alle anderen - und sind es mehr als manche Deutsche, die nicht in der tiefen Mitte der Nation sitzen, wie sie. Das sind lauter Kleinbürger und beflissene Schüler des deutschen Wesens, wenn nicht einfach seine unwissenden Erzeugnisse. Sie kennen kein anderes Wesen als das deutsche, keinem andern Schlag als dem deutschen haben sie sich auf Erden verbunden gefühlt. Die Kategorien des deutschen Denkens, nicht weniger als alle Gemeinplätze und Besonderheiten der deutschen Lebensgemeinschaft, die Juden sind darin völlig befangen. Eigentümlichkeiten zu pflegen, hatten sie schon längst weder Sinn noch Beruf. Eigentümlich, im Verhältnis zu Europa, sind die Deutschen selbst, und ihre Juden waren es mit ihnen. Grössere Begabtheit, gesetzt, die Juden hätten sie oft, stempelt noch niemanden zur nationalen Ausnahme. Intellektualismus überhaupt ist eine soziale Tatsache, er ist nur das. Er kann so wenig „artwidrig“ als „artgemäss“ sein. Bedauerlich genug, dass Wahrheiten wie diese erst noch vorgetragen werden müssen.

Wären die deutschen Juden weniger deutsch, dann hätten sie es gerade dem Dritten Reich beweisen können - durch Widerstand gegen seine Angriffe. Das sollte nicht gehen? Sie wären zu wenige? Aber die rumänischen Juden zum Beispiel sind nicht zahlreicher; sie sind nur aufgewachsen in Gewohnheiten, die nichts Deutsches haben und weder von Gesetzfrömmigkeit noch vom Vertrauen auf den Staat bestimmt werden. Ein rumänischer Jude hat zu einem deutschen gesagt; „Ihr macht uns Schande, wie viel ihr euch bieten lasst. Bei uns zu Lande kommen Pogrome vor. Aber wenn die Leute eindringen in mein Haus, auf meinen Hof, ruf ich: Halt! Oder alles fliegt in die Luft, mit mir und mit euch.“ -“Bluff“, war bei dieser Erzählung der erste Gedanke des deutschen Juden. „Es wäre nichts aufgeflogen.“ Der Rumäne aber: „Doch. Alles.“ Nun ist dies eine exotische Art, das Leben zu nehmen; es wäre ungerecht, sie von jedem zu verlangen; in deutschen Bureaus, an deutschen Stammtischen ist sie bis gestern nicht gediehen. Die deutschen Juden hatten keine Zeit gehabt, sie sich anzueignen, als es nützlich gewesen wäre. Die Nationalsozialisten haben sie in einem gesitteten Zustand der Wehrlosigkeit vorgefunden, wie übrigens alle anderen Deutschen. Darum eben besteht das Dritte Reich.

Das Schicksal der deutschen Juden ist furchtbar; verfolgt man indessen seine Fortsetzung, dann hat man das der Deutschen, ihrer untrennbaren Gefährten. Die Ausführungsbestimmungen der „Judengesetze“ sind genau so kleinlich und peinlich, wie alles was durch die Hände des deutschen Spiessers geht, besonders auf dem Gebiet des Grausigen. Die Einzelheiten der Hexen-Prozessordnung überliessen damals auch nichts dem Zufall; festgelegt war, wie die Fingernägel der Frauen beschaffen sein müssten, damit sie als Hexen verbrannt würden. Das ist deutsch, nur deutsch, die Genauigkeit im Abscheulichen. Derart sind jetzt die Blutmischungen sortiert, dreiviertel jüdisches, halbjüdisches, einviertel jüdisches Blut, und jede Sorte wird besonderen Befehlen oder Verboten unterworfen. Viertelsjuden dürfen nur arisch heiraten, - als ob der Rassenzüchter vorhersehen könnte, was dabei herauskommt. Nachdem aber alles pedantisch eingereiht ist, erscheint ein einzelner Herr und behält sich vor, „Dispense“ zu erteilen. Der einzelne Herr kann machen, dass ein Jude kein Jude mehr ist. Sein Belieben stösst die Natur um, es siegt über die „Rasse“, um derentwillen das Gesetz vorgeblich beschlossen ist. Das ist deutsch, nur deutsch, der Trick und die Ungläubigkeit angesichts beschworener Grundsätze.

So wird mit allen Deutschen umgesprungen, keineswegs nur mit Juden. Die Menschenmenge, die das Objekt der Judengesetzgebung geworden ist, besteht nicht entfernt aus Juden: ein „Arier“ wird wegen Verkehrs mit Jüdinnen eingesperrt. Schon im „Rassischen“ sind die Grenzen überschritten. Wie erst, was die bürgerliche Entrechtung betrifft, wie erst in Hinsicht der willkürlichen Enteignungen. Die grosse Mehrheit der Deutschen unterliegt Gesetzen, die den „Judengesetzen“ kaum nachstehen. Aber sie stehen ihnen um etwas nach. Man könnte daher meinen, dass die „Judengesetze“ nur gemacht worden sind als Entschädigung der Deutschen für ihre eigene Knechtschaft. Zwölf Millionen Vollbürger spielen in Deutschland eine Herrenkaste, ihnen unterworfen sind vierundfünfzig Millionen, einschliesslich der Juden. Über das ersparte Vermögen der vierundfünfzig Millionen wird verfügt von denen, die sich Schlösser bauen und Leibwachen halten, aber ihre Lehr- und Wanderjahre vergingen einst in Anstalten für Minderwertige und Asylen für Entgleiste. Die Deutschen, denen ihre Ernährung täglich mehr erschwert wird, müssen sich sagen lassen, dass Kanonen wichtiger sind als Butter. „Weltherrschaft“, auf so etwas vertröstet man eine heruntergekommene Gesellschaft von Deutschen, die noch nicht einmal sich selbst haben beherrschen können, und grade darum sind sie in solche Hände gefallen.

Wahrhaftig, die Deutschen nehmen den Weg ihrer Juden, erkennen sich übrigens in ihnen genau. Selbst unterworfen, selbst rechtlos, der äussersten Armut nahe und vernichtenden Katastrophen entgegengetrieben - geht eine grössere Zahl von ihnen in der sittlichen Entartung weit genug, um das alles zu rächen an den noch Gequälteren. Grade dies war auch die Absicht ihrer Erzieher. Die Juden, sie müssen Ungeheures erleiden, weil die übrigen Deutschen vieles erleiden. Alle zusammen sind dahin gelangt - nicht unvermittelt, nicht von gestern auf heute, sondern ausführlich und planmässig bearbeitet durch eine Schicht, ach, zuerst war es nicht mehr als ein Haufen Ungeziefer. Aber die Schicht hat sich eingefunden und gebildet; sie ist keine Klasse, einige Klassen haben zu ihr beigetragen. Die Schicht, die jetzt herrscht, versammelt in sich alles, was bei den Deutschen durchaus schlecht und zweifellos lebensfeindlich ist. Das regierende Ungeziefer und seine zwölf Millionen Vollbürger: das konnte zur Macht kommen - musste es sogar, weil lebensfeindliche Instinkte, mehr als anderswo, in Deutschland herangezogen worden sind, durch lange Jahrhunderte einer unglücklichen Geschichte. Jetzt leidet! Eure Juden machen es euch vor, sie sind durch Leiden um einiges über euch erhöht. Der Berg des Leidens, den sie bewohnen, verläuft aber in das Land, und einmal höher, einmal tiefer, es ist dasselbe überall.

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