Vermerk des Reichsfinanzministeriums
Ministerialvertreter diskutieren am 17. Dezember 1935 wirtschaftliche und finanzielle Vor-und Nachteile der jüdischen Emigration:
Sitzungsvermerk:
Ministerialdirektor Wohlthat betonte einleitend, daß es sich nicht darum handeln könne, eine Entscheidung zu treffen, ob und wie die jüdische Auswanderung gefördert werden solle. Zweck dieser Besprechung sei vielmehr nur, die Wege zu suchen, auf denen eine Förderung der jüdischen Auswanderung überhaupt möglich sei, und ihre Vor- und Nachteile unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu untersuchen. Das RWM beabsichtige, zum Problem der jüdischen Auswanderung dem Führer eine Aufzeichnung über die rein wirtschaftlichen Gesichtspunkte vorzulegen und eine abschließende Entscheidung zu erbitten.
Die Darlegungen des Vertreters des Stellvertreters des Führers und des Vertreters des Reichsinnenministers über die bisherigen Entschließungen des Führers zur jüdischen Auswanderungsfrage waren nicht einheitlich. Beide meinten zwar übereinstimmend, daß der Führer einen Druck auf die Juden, auszuwandern, nicht ausgeübt wissen möchte. Während jedoch der Vertreter des Reichsinnenministers als die letzte ihm bekannte Meinungsäußerung des Führers mitteilte, daß die Juden in der Wirtschaft nicht oder möglichst wenig behelligt werden sollten, legte der Vertreter des Stellvertreters des Führers dar, dieser habe sich dahin schlüssig gemacht, man solle den Juden durch Eröffnung von Möglichkeiten zur Vermögensmitnahme zunächst einen Anreiz zur Auswanderung geben und schließlich einen Zwang zur Auswanderung auf sie ausüben, sobald sich ein Weg als gangbar erwiesen habe, den Juden die Vermögensmitnahme, wenn auch unter Verlusten für sie, zu ermöglichen. Hiermit habe sich der Führer einverstanden erklärt.
Die Wege, auf denen nach Meinung des RWM, den Auswanderern die Möglichkeit eröffnet werden kann, wenigstens einen Teil ihres Vermögens bald oder allmählich ins Ausland zu überführen, sind folgende:
1. begünstigte Verwendung der zurückgelassenen Auswanderersperrguthaben für Reise zwecke oder für Warenlieferungen; da indes die Auswanderer etwa V3 bis % ihres Vermögens verlieren, soll auf die Erhebung der Reichsfluchtsteuer verzichtet werden;
2. Bezahlung von Warenbezügen zur eigenen Verwendung oder für eigene Rechnung mit eigenen Auswanderersperrguthaben bis zu 50 % des Rechnungsbetrags; dies allerdings nur dann, wenn es sich um zusätzliche Warenbezüge handelt, Verrechnungsabkommen nicht entgegenstehen und die Gewähr gegeben ist, daß der Auswanderer im Ausland die ausgeführten Waren nicht verschleudert und damit die normalen deutschen Ausfuhrbeziehungen nicht stört;
3. Gründung von ausländischen Vertriebsstätten, sofern der Auswanderer an den inländischen Unternehmungen kapitalmäßig beteiligt bleibt und Vermögensverschiebungen mittels künstlich niedrig gehaltener Ausfuhrpreise durch Einschaltung zuverlässiger Personen in den inländischen Betrieb vorgebeugt wird (die Zulassung der Gründung von ausländischen Herstellungsstätten erscheint aus handelspolitischen Gründen nicht möglich);
4. Verwendung von Auswanderervermögen zur inländischen Finanzierung langfristiger großer Ausfuhraufträge, die sonst Schwierigkeiten begegnet, Überlassung eines Teils der anfallenden Devisen und damit Ermöglichung der Aufnahme langfristiger Darlehen im Ausland durch die Auswanderer;
5. Ablösung jüdischer Beteiligungen an inländischen Unternehmungen durch ausländische Sperrmarkbesitzer;
6. Verrechnung des Vermögens von Rück- und Einwanderern mit Auswanderersperr-markguthaben.
Wirklich reizvoll und vielleicht auch erfolgversprechend scheint der Weg unter Ziff. 4 zu sein. Allerdings ist nach Meinung des RWM die Schaffung einer Stelle in Deutschland notwendig, die die Liquidation der jüdischen Vermögen durchführt. Alsdann könnten auch mittlere und kleine Vermögen einbezogen werden. Verhandlungen über Schaffung einer solchen Stelle sollen bereits stattfinden.
Wenig Aussicht auf Erfolg hat nach den Ausführungen des RWM der Weg unter Ziff. 2, da die Frage der Zusätzlichkeit große Schwierigkeiten biete und vor allem die Gefahr der Störung der Auslandsmärkte ungeheuer groß sein soll. Diese Beurteilung ist deshalb von Bedeutung, weil es sich um den Weg handelt, der dem Stellvertreter des Führers in erster Linie vorschwebt und den er auch auf Grund eines praktischen Falles dem Führer vorgetragen hat.
Ganz allgemein wurden - immer vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt aus - gegen die Erzwingung jüdischer Auswanderung folgende Bedenken festgestellt:
1. Zur Auswanderung entschließt sich nur der Jude mit Vermögen, nicht dagegen der arme Jude, der schließlich Deutschland zur Last fällt.
2. Mit der Auswanderung vermögender Juden verliert Deutschland Steuerzahler. Dies erschwert auch den Verzicht auf die Erhebung der Reichsfluchtsteuer.
3. Der Auswanderung der Juden geht die Versilberung ihres Vermögens voraus. Die Folge ist, daß Grundstücks-, Effektenmärkte usw. noch auf längere Zeit unter Druck gehalten werden.
4. Jede noch so verfeinerte Vermögensübertragung ins Ausland verzögert die Verminderung der Auslandsverschuldung, bringt sie unter Umständen sogar wieder zum Steigen.
5. Die jüdische Auswanderung hat nicht unbedingt die Überführung jüdischer Vermögen in arische Hände zur Folge. Vielmehr werden vielfach an die Stelle der auswandernden Juden ausländische Juden treten, besonders dann wenn die ausländischen Sperrguthaben nutzbar gemacht werden sollen.
Schließlich wurde noch die Möglichkeit erörtert, die Auswanderung junger Juden durch Unterstützung der Berufsumschichtung zu fördern. In Frage kommt die Ausbildung junger Juden als Landwirte oder Handwerker. Gegen die Ausbildung als Landwirte hat sich der Reichsernährungsminister aus rassepolitischen Gründen ausgesprochen. Gegen die Ausbildung als Handwerker hat sich das Handwerk zur Wehr gesetzt, insbesondere deshalb, weil eine bevorzugt schnelle Ausbildung der Juden verlangt wurde.
Kurz besprochen wurde zum Schluß noch die Entziehung der Pässe, damit den Juden die Möglichkeit genommen wird, ihr Vermögen ins Ausland zu verschieben. Gegen die Entziehung der Pässe sprach sich der Sachbearbeiter des Reichswirtschaftsministeriums aus, da durch diese Maßnahme die wirtschaftlichen Fäden zum Ausland zerrissen werden.