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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bericht des Oberstaatsanwalts in Köln an den Reichsjustizminister

Am 22. November 1938 berichtete der Kölner Oberstaatsanwalt an den Reichsjustizminister über einen Todesfall, der eine direkte Folge des Pogroms war. Das anschließende Verfahren zog sich über nahezu zwei Jahre hin, wird hier jedoch en bloc dokumentiert:

Die Jüdin Frau Spiro in Köln hat bei der Kriminalpolizei Anzeige wegen Totschlags ihres Ehemanns, des jüdischen Friseurs Moritz Spiro, in Köln erstattet. Danach seien am 10. November 1938, nachmittags zwischen 17 und 17.30 Uhr zwei Männer in die Wohnung der Eheleute Spiro eingedrungen. Sie hätten dort den 17jährigen Sohn Erich getroffen, der seine Eltern herbeigerufen habe. Kurz darauf wären vorn im Ladenlokal Scheiben und Einrichtungsgegenstände zertrümmert worden. Die Eheleute Spiro hätten sich in den Laden begeben und dort einen Mann in grauem Anzug mit Schlägermütze bemerkt. Als der Ehemann Spiro gebeten habe, von weiteren Zerstörungen abzusehen, habe er einen Schlag über den Schädel erhalten. Spiro habe: „Oh mein Kopf" gerufen und sei ohnmächtig zusammengebrochen.

Der Friseur Spiro ist am 18. November 1938 an einer Schädelzertrümmerung im israelitischen Krankenhaus in Köln gestorben.

Der Vorgang ist von der geheimen Staatspolizei an mich abgegeben worden. Im Einvernehmen mit dieser habe ich zunächst beim Gericht Leichenöffnung zur Feststellung der genauen Todesursache beantragt.

Die Täter sind bisher nicht ermittelt.

Bericht des Oberstaatsanwaltes in Köln an den Reichsjustizminister, 1. Dezember 1938

Die, wie im Vorbericht bereits mitgeteilt, beantragte Leichenöffnung hat ergeben, daß der Tod des Friseurs pirot größter Wahrscheinlichkeit auf die am 10. November 1938 erlittene Schädelzertrümmerung zurückzuführen ist. Da die Ermittlungen keine Anhaltspunkte dafür ergeben haben, daß der Tat eigensüchtige Motive zugrunde gelegen haben, beabsichtige ich, gemäß lit. d. der Rundverfügung vom 21. November 1938 - Illg 10b 893/38 - von weiteren Ermittlungen Abstand zu nehmen und das Verfahren einzustellen.

Sichtvermerk des Generalstaatsanwalts in Köln, 6. Dezember 1938

Der Stellungnahme des Oberstaatsanwalts trete ich bei.

Bescheid des Reichsjustizministers, 10. Februar 1939

Ich bitte, gemäß den inzwischen bekanntgegebenen allgemeinen Richtlinien zu verfahren.

Bericht des Oberstaatsanwalts in Köln an den Reichsjustizminister, 14. März 1939

Gemäß den inzwischen bekannt gegebenen Richtlinien habe ich die Staatspolizeistelle Köln um Aufklärung der Sache ersucht. Am 9.3.1939 hat die Staatspolizeistelle die Akten zurückgesandt mit folgendem Vermerk:

Unabhängig von diesen Ermittlungsverfahren - lb Js 585/38 - wurden hier in dieser Sache Ermittlungen durchgeführt, die sich gegen den Bürogehilfen Norbert H(), geb. am 5.1.1906 in Köln, richten. Die Ermittlungen werden von hier als abgeschlossen angesehen. Die hier geführten Ermittlungen wurden dem Gaugericht der NSDAP zur Vorentscheidung überlassen, das die Sache zur Entscheidung dem Obersten Parteigericht in München vorgelegt hat.

Von dort sind diese Vernehmungsniederschriften hier noch nicht eingegangen.

Bericht des Oberstaatsanwalts in Köln an den Reichsjustizminister, 1. August 1939

Die weiteren Ermittlungsvorgänge der Stapo Köln, die sich bis jetzt bei dem Obersten Parteigericht in München befunden haben, sind mir nunmehr mit Schreiben des Zentralamtes des Obersten Parteigerichts in München vom 20. Juli 1939 vorgelegt worden. Dieses Schreiben hat folgenden Wortlaut:

„Auf das dortige Schreiben vom 28.6.1939 werden anliegend die angeforderten Akten der Staatspolizeistelle Köln übersandt. Eine Entscheidung ist hier noch nicht ergangen. Es wird gebeten, falls dort eine Anklageerhebung beabsichtigt ist, eine kurze Benachrichtigung nach hier zu geben, da evtl. die Niederschlagung des Verfahrens durch den Führer veranlaßt werden soll."

Nach den angestellten Ermittlungen steht fest, daß der am 10. November 1938 bei Gelegenheit der Judenaktion verletzte und am 18. November 1938 verstorbene Friseur Moritz Spiro aus Köln-Ehrenfeld von dem Bürogehilfen Norbert H() aus Köln-Ehrenfeld niedergeschlagen worden ist.

Der Vorfall hat sich nach der Darstellung des Beschuldigten, H(), wie folgt abgespielt: Der Beschuldigte hatte am 10. November 1938 zusammen mit dem Zeugen Sch() und noch mehreren unbekannten Personen an der Aktion gegen die jüdischen Geschäfte teilgenommen. Nachdem sie zunächst auf der Venloerstraße die Schaufenster der jüdischen Geschäfte eingeschlagen hatten, begaben sie sich zur Synagoge in Köln-Ehrenfeld, die sie in Brand steckten, und anschließend zu einer Gipsfabrik in der Overbeckstraße, wo ebenfalls die Fensterscheiben eingeschlagen wurden. Als der Beschuldigte und die übrigen an der Aktion beteiligten Personen später in die Wirtschaft Ussner gegangen waren, um dort ein Glas Bier zu trinken, fiel dem Beschuldigten H() ein, daß in der Sömmeringstraße in Ehrenfeld noch ein Friseurladen sei, dessen Inhaber ein Jude war. Dieser Jude - es handelt sich um Moritz Spiro - war dem Beschuldigten nicht näher bekannt. Er machte nun den Vorschlag, noch zu dem Juden in die Sömmeringstraße zu gehen, welchem Vorschlag sich die übrigen Beteiligten anschlossen. Der Beschuldigte, Sch() und noch eine unbekannte Person, die sich ihnen angeschlossen hatte, gingen nun durch den Hof des Hauses Sömmeringstraße() und die Wohnung des Juden Spiro in den Frisiersalon, wo sie die Fensterscheiben einschlugen und die Einrichtung beschädigten. Nach der Behauptung des Beschuldigten ist der Jude Spiro nun auf ihn zugesprungen, hat ihn auf die Füße getreten und wollte ihn von dem Vorhaben, die Scheibe einzuschlagen, abhalten. Der Beschuldigte gab darauf dem Juden zu verstehen, daß mit ihm keine Ausnahme anderen Juden gegenüber gemacht werden könne, er sei ebenso wie die anderen für den Mord in Frankreich mitverantwortlich. Darauf soll der Jude wütend aus dem Verkaufsraum gelaufen, aber sofort wieder zurückgekehrt sein und sich gegen den Beschuldigten gewandt haben. Der Beschuldigte will dabei gesehen haben, daß der Jude etwas in der Hand hielt. Zur Abwehr habe er dem Juden einen Schlag mit der Faust ins Gesicht versetzt und hierbei noch gerufen: „Der Jude will mich angreifen". Der Beschuldigte will dann durch das Verhalten des Juden Spiro derartig in Erregung versetzt worden sein, daß er zu einem in dem Frisiersalon stehenden Besen gegriffen habe. Als der Jude nun geflohen sei, sei er ihm gefolgt und habe ihn zwischen Küche und Frisiersalon erreicht. Dann habe er mit dem Besenunterteil den vor ihm fliehenden Juden von hinten auf den Kopf geschlagen. Der Jude sei alsdann noch ein Stück gelaufen und am Tisch in der Wohnküche zusammengebrochen. Ob der Beschuldigte dann noch weitere Beschädigungen der Wohnungseinrichtung vorgenommen hat, darauf will er sich nicht mehr besinnen können. In dem Augenblick, als der Beschuldigte H() den Schlag gegen den Juden führte, befand er sich noch allein in der Wohnung; die anderen an der Aktion beteiligten Personen hatten das Haus des Spiro bereits verlassen. Einen Augenblick danach hat dann auch der Beschuldigte durch die Ladentür das Lokal verlassen. Draußen begegnete den an der Aktion Beteiligten bereits die Polizei, die dann bekannt gab, daß die Aktion beendet sei. Einer der Polizeibeamten fragte, was vorgefallen sei, worauf der Beschuldigte sagte, daß die Scheiben zertrümmert worden seien. Von einem tätlichen Vorgehen gegen den Juden hat er den Beamten gegenüber nichts erwähnt. Als der Beschuldigte und die anderen Personen sich über die Sömmeringstraße entfernten, sahen sie noch an der Ecke Sömmering- und Vogelsangerstraße den Juden Spiro am Arm seiner Frau gehen, wobei der Beschuldigte zu Sch() gesagt haben will: „Sieh, Karl, da geht der Jude, dem ich eins versetzt habe". Auf die Frage des Sch(), was da vorgefallen sei, daß der Jude geschrieen habe, will der Beschuldigte geantwortet haben: „Er wollte mich tätlich angreifen". Weiter sei über den Vorfall nicht gesprochen worden. Der Beschuldigte erklärt, daß persönliche Motive seinem Vorgehen gegen den Juden Spiro nicht zu Grunde gelegen hätten. Wenn der Jude Spiro nicht in der drohenden Haltung auf ihn zugekommen wäre, würde er nicht nach ihm geschlagen haben. Er habe auch keineswegs die Absicht gehabt, den Juden niederzuschlagen, sondern er habe ihn lediglich kampfunfähig machen wollen, um sich den Juden vom Leibe zu halten. Der Jude habe ihn durch sein anmaßendes Verhalten derartig in Erregung gebracht, daß er sich zu diesem Schlage habe hinreißen lassen. Er glaube nicht, daß der von ihm ausgeführte Schlag so wuchtig gewesen sei, daß er hierdurch den Mann habe töten können. Keinesfalls habe er trotz seiner Erregung den Vorsatz zur Tötung gehabt.

Der Jude Moritz Spiro ist, nachdem ihn seine Frau unmittelbar nach dem Vorfall in das Israelitische Asyl in Köln-Ehrenfeld gebracht hatte, dort nach voraufgeganger Operation am 18. November 1938 verstorben. Von der im Israelitischen Asyl tätigen Ärztin Dr. Sch() ist in der Todesbescheinigung als Todesursache Kopfverletzung, Schädelzertrümmerung und Hirndruck aufgeführt.

Die Leichenöffnung hat am 23. November 1938 stattgefunden. Das von dem Gerichtsarzt, Med. Rat. Dr. SchQ, erstattete vorläufige Gutachten lautet wie folgt:

„I. Der Tod ist infolge eines großen Erweichungsherdes im Gehirn, beginnende Infektion der Hirnhäute und einer doppelseitigen Lungenentzündung eingetreten.

II. Soweit man es noch nach der Operation beurteilen kann, ist der Erweichungsherd auf eine Zertrümmerung des Schädeldachs zurückzuführen, die durch Einwirkung einer stumpfen Gewalt hervorgerufen war.

III. Ein abschließendes Gutachten wird man erst nach Zuziehung der Krankenblätter, Abschluß der Ermittlungen und mikroskopischer Untersuchung der asservierten Leichenteile abgeben können."

Hiernach dürfte - vorbehaltlich des etwa noch einzuholenden endgültigen Gutachtens - anzunehmen sein, daß der Tod des Spiro auf die am 10. November 1938 erfolgte Gewalteinwirkung durch Schlag mit einem Besenunterteil zurückzuführen ist.

Die Einlassung des Beschuldigten, nicht die Absicht gehabt zu haben, den Juden Spiro zu töten, wird sich kaum widerlegen lassen. Danach liegt Körperverletzung mit Todeserfolg - Verbrechen gegen § 226 StGB - vor. Eine Notwehr gegen einen tätlichen oder vermeintlichen Angriff des Juden Spiro dürfte, da sich dieser, wie der Beschuldigte selbst einräumt, bereits auf der Flucht befunden hat, nicht in Frage kommen.

Ich habe jedoch geglaubt, zunächst von etwa noch erforderlichen weiteren Ermittlungen Abstand nehmen und die Vorgänge vorerst, um der dortigen Entscheidung nicht vorzugreifen, im Hinblick auf das eingangs wiedergegebene Schreiben des Zentralamts des Obersten Parteigerichts München vom 20. Juli 1939 dort vorlegen zu sollen, da hiernach evtl. die Niederschlagung des Verfahrens durch den Führer veranlaßt werden soll.

Der Beschuldigte ist am 5. Januar 1906 in Köln geboren, verheiratet und hat 1 Kind im Alter von 4 Jahren. Er ist bisher nicht bestraft. Über seine persönlichen Verhältnisse hat er selbst folgendes angegeben:

„Bis zu meinem 14. Lebensjahre besuchte ich zuletzt die Volksschule An der Rechtsschule. Nach meiner Schulentlassung kam ich zu dem Installateur Schatz & Esser in die Lehre. Hier bin ich nur 3/4 Jahr geblieben. Ich habe die Lehre wegen des großen Krieges abgebrochen. Mein Vater wurde eingezogen und mußte ich Geld verdienen. Ich habe dann anschließend auf verschiedenen Büros als Bote gearbeitet. Diese Beschäftigungen habe ich bis 1924 ausgeübt. Von 1925 bis 1929 war ich am Schlacht- und Viehhof als Bahnrottenarbeiter tätig. Zu dieser Zeit habe ich mich schon zum Nationalsozialismus bekannt. Hierdurch wurde ich auch stellenlos. Vom 1.1.1932 bis Dezember 1936 gehörte ich der SA an und zwar zur Standarte 16, Sturm 22/16. Mein letzter Vorgesetzter der SA war Sturmführer Walter H(), beim Finanzamt Köln-Altstadt tätig. Ich hatte zuletzt den Grad als SA-Oberscharführer, war aber diensttuender Truppführer. Am 28.10.1932 wurde ich anläßlich einer Versammlung der NSDAP im Westpalast Köln-Ehrenfeld, zu der der Gaupropagandaleiter Dr. Toni Winkeinkemper sprach, von Kommunisten, die die Versammlungen zu stören versuchten, durch einen Schlag mit einem Stuhl an der Schädeldecke verletzt. Die Bescheinigung von Dr. Winkeinkemper habe ich hier vorgelegt. Aus diesem Grunde mußte ich auch den SA-Dienst einstellen. Seit 17.3.1932 bin ich Mitglied der NSDAP und habe die Mitgliednummer 876840.

Wegen der zugezogenen Verletzung für die nationale Erhebung wurde ich auch in der NSKOV als Mitglied eingereiht. Besondere Ämter bekleide ich bei der Partei zur Zeit nicht."

Schreibanweisung des Generalstaatsanwaltes in Köln, 5. August 1939

1.) Die Reinschrift des Berichts des OStA. in Köln vom 1.8.1939 ist mit folgendem Vermerk versehen:

Gesehen und unter Bezugnahme auf den Sichtvermerk vom 1.7.1939 - einr. Aktz. wie oben - weitergereicht.

Den Berichtsausführungen trete ich mit folgender Maßgabe bei:

Nach der Sachlage und den Einlassungen des Beschuldigten (...) halte ich es für durchaus möglich, daß dem Beschuldigten Tötungsvorsatz (Eventualdolus) nachzuweisen ist. Es käme dann eine Strafverfolgung wegen Totschlags (§ 212 StGB) in Betracht. Wenn ich in meinem Sichtvermerk vom 6.12.1938, mit dem ich den Bericht des OStA. in Köln vom 1.12.1938 weitergereicht hatte, dem Einstellungsvorhaben des OStA. beigetreten war, so beruhte diese Stellungnahme auf den Richtlinien der RV. (Rundverfügung) vom 21.11.1938 - IIIgl0b893/38g -, wonach Tötungen, denen keine eigensüchtigen Motive zu Grunde lagen, nicht ohne weiteres zu verfolgen waren. Nach den bei der Zusammenkunft der Generalstaatsanwälte vom 23. bis 26.1.1939 ergangenen neuen Richtlinien halte ich jedoch die Verfolgung geboten, zumal der Beschuldigte in besonders roher und hinterhältiger Weise den Juden Spiro zu Boden geschlagen hat. Außerdem erscheint mir die Verfolgung der Straftat aber auch deshalb erforderlich, weil inzwischen in nicht wenigen Fällen Verurteilungen wegen Straftaten aus Anlaß der antisemitischen Kundgebungen erfolgt sind (Plünderungen usw.), die in ihren Folgen weit weniger schwerwiegend waren. Falls nicht, was ich hier aus nicht zu beurteilen vermag, politische Gesichtspunkte für eine Niederschlagung des Strafverfahrens maßgeblich sein sollten, schlage ich vor, die Straftat wegen Totschlags zur Verfolgung zu bringen.

Bescheid des Reichsjustizministers, 11. Oktober 1940

Das Verfahren ist durch Erlaß des Reichsministers der Justiz -IllglOb 1621/38g - vom 2. Oktober 1940 niedergeschlagen.

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