Schreiben des Schweizer Botschafters an den Chef der Abteilung für Auslandsangelegenheiten
Der Schweizer Botschafter in Berlin berichtet am 27. September 1935 über die Häufung von Einwanderungsgesuchen deutscher Juden:
Mit Schreiben vom 23. dieses Monats habe ich Ihnen kurz von meinen Befürchtungen hinsichtlich einer allzu weitherzigen Gewährung von Aufenthaltsbewilligungen an deutsche Staatsangehörige, die ihrer Konfession oder politischen Einstellung wegen Deutschland den Rücken zu kehren wünschen, Kenntnis gegeben. Ich habe inzwischen die in erster Linie in Frage kommenden Beamten dieser Gesandtschaft angewiesen, diesem für die Schweiz überaus ernsten Problem nach wie vor ihre Aufmerksamkeit zu schenken und mir in Zukunft von Fällen, die von besonderem Interesse sind, Kenntnis zu geben. In dieser Hinsicht möchte ich daraufhinweisen, dass namentlich seit dem Erlass des deutschen Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre naturgemäss kein Tag vergeht, ohne dass von Reichsangehörigen Anfragen nach der Möglichkeit einer Übersiedlung nach der Schweiz einlaufen. Die Passabteilung der Gesandtschaft bemerkt dazu, dass es auffalle, dass die Gesuche um Erteilung der Aufenthaltsbewilligung in den seltensten Fällen bei der Gesandtschaft direkt eingereicht werden. Die Interessenten äussern sich nach Inempfangnahme der Auskunft sehr off dahin, dass es ihnen zweckmässig erscheine, selbst nach der Schweiz zu fahren und die Verhandlungen um Erteilung einer kurzfristigen Aufenthaltsbewilligung dort persönlich zu führen. Es entzieht sich leider der Kenntnis der Gesandtschaft, in wieviel Fällen dieses Verfahren zum Ziel geführt hat. Immerhin ist festzustellen, dass es immer wieder vorkommt, dass Interessenten von kantonalen oder sogar von Gemeindebehörden Aufenthaltsbewilligungen erhalten und gestützt darauf bei der Gesandtschaft um die Ausstellung des erforderlichen Attestes für die zollfreie Einfuhr des Umzugsgutes Einkommen. Sofern die Aufenthaltsbewilligung von einer kantonalen Stelle ausgeht, muss das Attest nach den bestehenden Vorschriften ausgefertigt werden. Es liegt auf der Hand, dass Personen, die auf Grund einer kurzfristigen Aufenthaltserlaubnis mit ihren Möbeln nach der Schweiz übersiedeln, wohl nur selten unser Land nach Ablauf der Dauer der Bewilligung wieder verlassen werden. In den meisten Fällen dürfte davon abgesehen werden, sie zur Ausreise zu zwingen, da dies wohl eine noch viel grössere Härte bedeuten würde, als wenn man sie überhaupt nicht hereingelassen hätte.
Im Zusammenhang mit den Anfragen um Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen wird fast regelmässig um eine Auskunft darüber ersucht, innerhalb welcher Frist man sich in der Schweiz einbürgern lassen könne. Auch hier ist festzustellen, dass die Interessenten glauben, auf kürzerem Wege als dem gesetzlich vorgeschriebenen zu ihrem Ziel zu gelangen, wenn man sich nur an die richtige Adresse in der Schweiz wende. Ein Besucher stellte letzthin klipp und klar die Behauptung auf, er werde „nach seiner Information“ nicht sechs Jahre warten müssen, bis er Schweizerbürger werde.
Die Frage liegt nahe, ob nicht, namentlich bei den Juden, allenfalls jüdische Stellen in der Schweiz ihre Volksgenossen beraten. Es wäre dies allerdings ein grösser Fehler seitens der Schweizer Juden, denn, wenn eine antisemitische Tendenz auch in der Schweiz aufkommen sollte, zwischen schweizerischen und internationalen Juden bestimmt kein Unterschied gemacht werden wird.
Allein auch ganz abgesehen von den Juden, ist es mir nicht recht verständlich, dass man erwerbstätigen deutschen Staatsangehörigen nach wie vor in anscheinend nicht unbeträchtlichem Masse Aufenthaltsbewilligungen erteilt, während doch praktisch die Auswanderung von Schweizern nach Deutschland fast vollständig unterbunden ist.
Ich möchte daher mit vorliegendem Schreiben nochmals darauf hinweisen, dass ich die Entwicklung dieses Problems mit Besorgnis verfolge, was mir wohl nicht verübelt werden kann, wenn man weiss, in welchem Masse sich die Gesandtschaft mit der Interessenwahrung ihrer jüdischen Staatsangehörigen zu befassen hat, von denen die Allerwenigsten irgendwelche Beziehungen zu unserer Heimat haben, ausser dem Reisepass.
Ob nicht angesichts der gegenwärtigen Sachlage gegenüber deutschen Staatsangehörigen, die sich in der Schweiz niederlassen wollen, eine straffere Kontrolle eingeführt werden sollte, allenfalls unter Einschränkung der Kompetenzen der Kantone, muss ich den zuständigen Behörden überlassen.6 Jedenfalls erachte ich es als meine Pflicht, Sie auf diese Gefahren nochmals aufmerksam zu machen, die hinsichtlich der Gewährung von kurzfristigen Aufenthaltsbewilligungen durch die Kantone und auch der Einbürgerung von unassimilierbaren Ausländern unbedingt die grösste Zurückhaltung gebieten.
Zur Kennzeichnung der Mentalität der Interessenten diene der in Abschrift beiliegende Brief eines Herrn Kurt Werner in Kassel an die Gesandtschaft.7 Bei allem Verständnis für die überaus schwierige Lage der Juden in Deutschland können wir mit dem besten Willen nicht aus Humanitätsgründen allen diesen Leuten bei uns Asyl gewähren.