Erklärung der Reichsvertretung der Juden
Jüdische Rundschau: Stellungnahme der Reichsvertretung der Juden in Deutschland vom 24. September 1935 zu den Nürnberger Gesetzen:
Die Reichsvertretung der Juden in Deutschland gibt folgendes bekannt:
„Die vom Reichstag in Nürnberg beschlossenen Gesetze haben die Juden in Deutschland aufs Schwerste betroffen. Sie sollen aber eine Ebene schaffen, auf der ein erträgliches Verhältnis zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volke möglich ist. Die Reichsvertretung der Juden in Deutschland ist willens, hierzu mit ihrer ganzen Kraft beizutragen. Voraussetzung für ein erträgliches Verhältnis ist die Hoffnung, daß den Juden und jüdischen Gemeinden in Deutschland durch Beendigung ihrer Diffamierung und Boykottierung die moralische und wirtschaftliche Existenzmöglichkeit belassen wird.
Die Ordnung des Lebens der Juden in Deutschland erfordert die staatliche Anerkennung einer autonomen jüdischen Führung. Die Reichsvertretung der Juden in Deutschland ist das hierzu berufene Organ. Hinter ihr steht bis auf geringe Ausnahmen die Gesamtheit der Juden und der jüdischen Gemeinden, insbesondere alle Landesverbände und alle Großgemeinden, sowie die freien jüdischen Organisationen: Zionistische Vereinigung für Deutschland, Centralverein der Juden in Deutschland, Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, Vereinigung für das religiös-liberale Judentum, die organisierte Gemeinde-Orthodoxie, Jüdischer Frauenbund, Reichsausschuß der jüdischen Jugendverbände.
Die dringendsten Aufgaben der Reichsvertretung, denen sie in energischer Verfolgung des bisher von ihr eingeschlagenen Weges mit aller Hingabe nachgehen wird, sind:
1. Das eigene jüdische Schulwerk muß der Erziehung der Jugend zu religiös gefestigten, aufrechten Juden dienen, die aus bewußter Verbundenheit mit der jüdischen Gemeinschaft, aus der Arbeit an jüdischer Gegenwart und dem Glauben an jüdische Zukunft die Kraft schöpft, den schweren Anforderungen zu entsprechen, die das Leben an sie stellen wird.
Über die Wissensvermittlung hinaus muß die jüdische Schule der planvollen Vorbereitung für den künftigen Beruf dienen. Mit Rücksicht auf die Auswanderungsfähigkeit, insbesondere nach Palästina, werden dabei die Hinführung zu handarbeitenden Berufen und das Erlernen der hebräischen Sprache im Vordergrund stehen. Die Erziehung und berufliche Ausbildung der weiblichen Jugend muß darauf hinzielen, sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben als Erhalterin der Familie und als Mutter der künftigen Generation vorzubereiten.
Ein eigenständiger Kulturaufbau muß den kunst- und kulturschaffenden Juden Betätigungsmöglichkeiten geben und dem kulturellen Eigenleben der Juden in Deutschland dienen.
2. Dem gesteigerten Auswanderungsbedürfnis ist mit einer großzügigen Planung zu entsprechen, die vor allem Palästina, aber auch alle anderen in Frage kommenden Länder einbezieht und besonders der Jugend gilt. Hierzu gehört die Sorge für die Vermehrung der Auswanderungsmöglichkeiten, Ausbildung in für die Auswanderung geeigneten Berufen, insbesondere Landwirtschaft und Handwerk, die Schaffung von Möglichkeiten zur Mobilisierung und Liquidierung des Vermögens wirtschaftlich Selbständiger, die Erweiterung bestehender und die Schaffung neuer Transfermöglichkeiten.
3. Die Erhaltung und Betreuung der Hilfsbedürftigen, der Kranken und Alten muß in Ergänzung der staatlichen Fürsorge durch weiteren systematischen Ausbau der von den Gemeinden getragenen jüdischen Wohlfahrtspflege sichergestellt werden.
4. Diesen vielfältigen und schwierigen Aufgaben ist eine verarmte Gemeinschaft nicht gewachsen. Die Reichsvertretung wird mit allen Mitteln versuchen, die wirtschaftliche Kraft der Juden dadurch zu sichern, daß die vorhandenen Erwerbsmöglichkeiten erhalten bleiben. Die wirtschaftlich Schwachen sind durch weitere Ausgestaltung wirtschaftlicher Hilfsmaßnahmen wie Arbeitsnachweise, Wirtschaftsberatung, sowie Personal- und Realkredithilfe zu stärken.
5. Kraft in der Gegenwart und Hoffnung für die Zukunft gibt das lebensvolle Fortschreiten im Aufbau des jüdischen Palästinas. Um das Judentum in Deutschland noch mehr als bisher in diese Entwicklung hineinzustellen, tritt die Reichsvertretung als solche dem jüdischen Aufbauwerk e. V. (Keren Hajessod) bei und fordert die jüdischen Gemeinden und Verbände nachdrücklichst auf, ihrem Beispiel zu folgen. Die Reichsvertretung erklärt sich bereit, die organisatorische Verbindung der Körperschaften der Judenheit in Deutschland mit dem Aufbauwerk in Palästina herzustellen.
Im vollen Bewußtsein der Größe der Verantwortung und der Schwere der Aufgabe ruft die Reichsvertretung alle jüdischen Männer und Frauen, die gesamte jüdische Jugend zur Einigkeit, zu jüdischer Haltung, strengster Selbstzucht und größter Opferbereitschaff auf.
Einem im Präsidialausschusse der Reichsvertretung gestellten Antrag entsprechend, werden Reichsvertretung, Landesverbände und Gemeinden ersucht, unverzüglich in enger Zusammenarbeit die organisatorischen und personellen Maßnahmen zu treffen, die in den jüdischen Körperschaften erforderlich sind, um eine kraftvolle und konsequente Durchführung des neuen Arbeitsprogramms durch alle jüdischen Instanzen sicherzustellen.“
Den vorstehenden Entschließungen des Präsidialausschusses der Reichsvertretung haben ihre ausdrückliche Zustimmung gegeben:
Preußischer Landesverband jüdischer Gemeinden durch Kammergerichtsrat Wolff und Dr. Alfred Klee; Verband bayerischer israel. Gemeinden durch Oberstlandesgerichtsrat Dr. Neumeyer-München; Sächsischer israel. Gemeindeverband durch Wilhelm Breslauer
- Leipzig; Landesverband der israel. Religionsgemeinden Hessens durch Kommerzienrat Mayer - Mainz; Oberrat der israel. Religionsgemeinschaft Württembergs durch Leopold Levi - Stuttgart; Oberrat der Israeliten in Baden durch Prof. Dr. Stein - Karlsruhe; die Gemeindevertretung der Hansestädte durch Rechtsanwalt David - Hamburg und Dr. Manasse - Altona; Oberrat der Israel. Landesgemeinde Mecklenburg-Schwerin durch Dr. Josephy -Rostock; jüdische Gemeinde Berlin durch Direktor Stahl; Jüdische Gemeinde Breslau durch Herrn Lachs; Jüdische Gemeinde Frankfurt a. M. durch Justizrat Blau; Jüdische Gemeinde Köln durch Dr. Callmann; Jüdische Gemeinde Mannheim durch Rabbiner Dr. Grünewald; Jüdische Gemeinde Essen durch Dr. Hirschland; Jüdische Gemeinde Nürnberg durch Kommerzienrat Rosenzweig; Jüdische Gemeinde Königsberg durch Geh.Rat Falkenheim; Zionistische Vereinigung für Deutschland durch Dr. Moses; Centralverein der Juden in Deutschland durch Justizrat Brodnitz; Reichsbund jüdischer Frontsoldaten durch Dr. Leo Löwenstein; Vereinigung für das religiös-liberale Judentum durch Rechtsanwalt Stern; Die organisierte Gemeinde-Orthodoxie durch Rabbiner Dr. Hoffmann – Frankfurt a.M.; Jüdischer Frauenbund durch Frau Ottilie Schönewald; Hilfsverein der Juden in Deutschland durch Max Warburg; Palästina-Amt der Jewish Agency durch Dr. Franz Meyer; Reichsausschuß der jüdischen Jugendverbände durch Dr. Friedrich Brodnitz.