Schreiben des Reichsinnenministers (Stuckart) an Reichsärzteführer Wagner
Staatssekretär Stuckart erläutert Reichsärzteführer Wagner am 22. September 1935 Entwürfe der Ersten und Zweiten Verordnung zum Reichsbürgergesetz:
In der Anlage übersende ich die Neufassung der Ersten und Zweiten Verordnung zum Reichsbürgergesetz und der Ersten Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre. Gleichzeitig bestätigte ich den Eingang des Schreibens des Verbindungsstabes vom 21. September 1935, das die Entscheidungen des Führers zu diesen drei Verordnungen enthält.
Wegen der in Absatz 4 dieses Schreibens aufgeworfenen Fragen betreffend die jüdischen Rechtsanwälte und Aerzte habe ich mit Herrn Reichsjustizminister Dr. Gürtner und Herrn Staatssekretär Dr. Freisler verhandelt. Beide sind mit dem Herrn Reichsinnenminister und mir übereinstimmend der Auffassung, dass es nicht zweckmässig ist, die Zurückschraubung der Zahl der Anwälte usw. auf den verhältnismässigen Bevölkerungsanteil des Judentums etwa in der künftigen Rechtsanwaltsordnung vorzunehmen. Auch ist Herr Reichsinnenminister Dr. Frick der Ansicht, dass die Frage für die Aerzte zweckmässig nicht in der Aerzteordnung gelöst wird, sondern besser in einer zweiten Verordnung zum Reichsbürgergesetz. Ich füge demgemäss den Entwurf einer zweiten Verordnung zum Reichsbürgergesetz bei, die die Billigung des Herrn Reichsjustizministers und des Herrn Reichsinnenministers gefunden hat. Zu dem letzten Absatz dieser Verordnung bemerke ich, dass es sich bei den durch diesen Absatz betroffenen Berufen um die Prozessvertreter vor den Verwaltungsgerichten handelt, die z. B. in Preussen die Bezeichnung „Verwaltungsrechtsräte“ führen.
Wegen der in Absatz 6 des Schreibens aufgeworfenen Frage, ob das Auswärtige Amt die weitere Bestimmung zum Schutze der Reinheit des deutschen Blutes für tragbar hält, habe ich in Abwesenheit des Herrn Reichsaussenministers von Neurath und des Herrn Staatssekretärs von Bülow mit den Herren Ministerialdirektoren Gaus und Köppke des Auswärtigen Amtes verhandelt. Beide haben als zuständige Abteilungsleiter für das Auswärtige Amt erklärt, dass sie aussenpolitische Bedenken gegen die Aufnahme der fraglichen Bestimmung in die Blutschutzverordnung nicht zu erheben haben.
Bei den Besprechungen mit den Herrn Reichsministern Dr. Frick und Dr. Gürtner haben sich folgende neue Zweifelspunkte ergeben, die ich in den beigefügten neuen Entwürfen der ersten Verordnung zum Blutschutzgesetz zu klären versucht habe. Es handelt sich um folgende Punkte:
a) der Begriff des deutsch-jüdischen Mischlings war bisher nicht festgelegt; zwar war der Begriff des Juden in der ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz definiert und damit auf der einen Seite eine Grenze zwischen Juden im Sinne des Reichsbürgergesetzes und deutsch-jüdischen Mischlingen gezogen. Es fehlte aber eine Festlegung der Grenze auf der anderen Seite zwischen den deutschblütigen Staatsangehörigen und den Staatsangehörigen deutschjüdischen Mischlingen. Diese Grenze ist meines Erachtens zweckmässig und sinnvoll bei den Viertelsjuden zu ziehen, sodass Viertelsjuden und Mischlinge stärkeren Bluteinschlages bis zum Dreiviertelsjuden ausschliesslich die deutsch-jüdischen Mischlinge im Sinne des Gesetzes sind. Die gesetzliche Formulierung dieses Gedankens ist in I Absatz 3 der Blutschutzverordnung erfolgt.
Die Definition des deutsch-jüdischen Mischlings bedingte eine Fassungsänderung des Ehehindernisses für deutsch-jüdische Mischlinge, wie sie unter III erfolgt ist.
b) Dabei ergab sich ferner, dass der Begriff des Juden in § 3 Absatz 3 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz unter Einbeziehung der Dreivierteljuden gegenüber den übrigen deutsch-jüdischen Mischlingen durch die Fassung „mehr als zwei Großelternteile“ nicht scharf abgegrenzt war. Durch die Fassung mehr als zwei mussten sich in der Praxis erhebliche Schwierigkeiten für die Feststellung ergeben. Die schärfere Abgrenzung und technisch leichtere Feststellung in der Praxis ist in der neuesten Fassung dadurch erreicht worden, dass der Begriff des Juden in der ersten Verordnung des Reichsbürgergesetzes dahin definiert worden ist: „Jude ist, wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Grosseltern abstammt.“ Diese Begriffsbestimmung bedeutet, dass alle Mischlinge mit 75 % und mehr Judenblut einwandfrei und leicht feststellbar als Juden gelten; dass dagegen alle deutsch-jüdischen Mischlinge unter 75 % Judenblut Nichtjuden im Sinne des Gesetzes sind.
c) Die Bestimmung, dass auch dann eine Ehe nicht geschlossen werden soll, wenn mit einer die Reinheit des deutschen Blutes gefährdenden Nachkommenschaft gerechnet werden muss, hätte dazu führen können, dass der Standesbeamte eine Eheschliessung zwischen einem Vollarier und einem deutsch-jüdischen Mischling zwar nicht nach den ausdrücklichen Bestimmungen für Juden und deutsch-jüdischen Mischlingen verweigert, wohl aber die Schliessung der Ehe wegen Gefährdung der Reinheit des deutschen Blutes abgelehnt hätte. Es musste daher ausgesprochen werden, dass die Ehehindernisse wegen jüdischem Bluteinschlages in § 1 des Gesetzes und Nr. 2 und 3 dieser Verordnung erschöpfend geregelt sind. Daher die Bestimmung unter IV der Blutschutzverordnung.
d) Die Bestimmung Nr. 5 der Blutschutzverordnung in der neuesten Fassung unterlag ohne die Hinzufügung des letzten Satzes ferner dem Bedenken, dass sie die Beurteilung, wann eine die Reinerhaltung des deutschen Blutes gefährdende Nachkommenschaft zu erwarten ist, mindestens für die nächste Zukunft dem Standesbeamten überliess, der seiner ganzen Vorbildung nach dazu nicht geeignet ist.
Es wurde daher, um hier ein für allemal Klarheit zu schaffen und um die Frage, wann die Reinerhaltung des deutschen Blutes gefährdet ist, nicht zu einer Ermessensfrage des Standesbeamten zu machen, die Bestimmung aufgenommen, dass der Nachweis des Nichtvorhandenseins dieser Gefahr nur durch das vom Gesundheitsamt auszustellende Ehetauglichkeitszeugnis erbracht werden kann. Die Aufnahme dieser Bestimmung entspricht einem dringenden Wunsch des Herrn Reichsjustizministers. Ich halte sie ebenfalls im Interesse der Praxis für unumgänglich. Bedenken brauchen nicht deswegen erhoben zu werden, weil das Ehetauglichkeitszeugnis seinem Begriff nach erst durch das Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit eingeführt wird, es ist ja mit Sicherheit damit zu rechnen, dass dieses Gesetz in der Kabinettsitzung vom 18. Oktober verabschiedet wird. Zweifelsfälle, die in der Zeit vom Inkrafttreten der Blutschutzverordnung bis zum Inkrafttreten des Erbgesundheitsgesetzes auftauchen, können nach näherer Anweisung durch einen entsprechenden Erlass bereits vor Geltung des Erbgesundheitsgesetzes durch die Gesundheitsämter in der Form vorläufiger Ehetauglichkeitszeugnisse erledigt werden.
e) Zur Begriffsbestimmung des jüdischen Haushalts schlägt nunmehr der Herr Reichsinnenminister folgende Fassung vor:
„Jüdisch ist ein Haushalt, wenn ein jüdischer Mann Haushaltungsvorstand ist oder der Hausgemeinschaft angehört“.
Durch diese Fassung wird die alleinstehende jüdische Frau nicht getroffen, sofern in ihrem Haushalt kein männlicher Jude lebt. Diese Einschränkung lässt sich mit dem Zweck des Blutschutzgesetzes rechtfertigen, das eine Schutzmassnahme gegen Blutsmischung sein soll, die Gefahr der Blutsmischung besteht nicht, wenn eine alleinstehende Jüdin (ohne jüdische männliche Hausgenossen) eine deutschblütige Hausgehilfin hat. Wie sich bereits zeigt, ist mit einer sehr grossen Zahl von Anträgen alleinstehender Jüdinnen, die ihre weiblichen Hausangestellten behalten wollen, zu rechnen. Die eingeschränkte Fassung würde daher, ohne die Wirkung des Gesetzes abzuschwächen, eine erhebliche Entlastung der Behörden voraussichtlich bedeuten.
Die neugefassten drei Verordnungen bitte ich, im Auftrag des Herrn Reichsinnenministers dem Führer und Reichskanzler zur Entscheidung vorlegen zu wollen. Um etwa noch bestehende Zweifel zu klären, treffe ich am 24.9. vormittags 8.04 [Uhr] auf dem Münchner Hauptbahnhof ein und stehe bis zum Beginn der Tagung zur Verfügung. Ich wäre dankbar, wenn mich ein Wagen am Hauptbahnhof abholen könnte.
Heil Hitler!
gez. St
Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz. 6. Fassung
Vom............................................................. 22.9.
Auf Grund des § 3 des Reichsbürgergesetzes vom 15. September 1935 (Reichsgesetzbl. I S. 1146) wird folgendes verordnet:
§1
Bis zum Erlass weiterer Vorschriften über den Reichsbürgerbrief gelten vorläufig als Reichsbürger die Staatsangehörigen deutschen und artverwandten Blutes, die beim Inkrafttreten des Reichsbürgergesetzes das Reichstagswahlrecht besitzen.
§2
Nur der Reichsbürger kann als Träger der vollen politischen Rechte das Stimmrecht in politischen Angelegenheiten ausüben und ein öffentliches Amt bekleiden. Der Reichsminister des Innern oder die von ihm ermächtigte Stelle kann für die Uebergangszeit Ausnahmen für die Zulassung zu öffentlichen Aemtern gestatten. Die Angelegenheiten der Religionsgesellschaften werden nicht berührt.
§3
(1) Ein Jude kann nicht Reichsbürger sein. Ihm steht ein Stimmrecht in politischen Angelegenheiten nicht zu; er kann ein öffentliches Amt nicht bekleiden.
(2) Jüdische Beamte treten mit dem Inkrafttreten des Gesetzes in den Ruhestand. Das Dienstverhältnis der Lehrer an öffentlichen jüdischen Schulen bleibt bis zur Neuregelung des jüdischen Schulwesens unberührt. § 2 Satz 3 findet Anwendung.
(3) Jude ist, wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Grosseltern abstammt. Als volljüdisch gilt ein Grosselternteil ohne weiteres, wenn er der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat.
(4) Soweit in Reichsgesetzen oder in Anordnungen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei und ihrer Gliederungen weiter gehende Anforderungen an die Reinheit des Blutes gestellt werden, bleiben sie unberührt. Sonstige Anforderungen, die über die Bestimmungen dieser Verordnung hinaus gehen, dürfen nur mit Zustimmung des Reichsministers des Innern und des Stellvertreters des Führers gestellt werden. Die bestehenden Anforderungen dieser Art fallen am 1. Januar 1936 weg, so weit sie nicht von dem Reichsminister des Inneren im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers zugelassen werden; der Antrag auf Zulassung ist bei dem Reichsminister des Innern zu stellen.
§4
Befreiungen von den Bestimmungen dieser Verordnung kann der Reichsminister des Innern im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers bewilligen.
§5
Diese Verordnung tritt mit dem 30. September 1935 in Kraft.
Berlin, den.............................
Der Reichsminister des Innern.
Der Stellvertreter des Führers.
Zweite Verordnung zum Reichsbürgergesetz. 4. Fassung
Vom............................................................... 22.9.
Auf Grund des § 3 des Reichsbürgergesetzes vom 15. September 1935 (Reichsgesetzbl. I, S. 1146) wird folgendes verordnet:
§1
(1) Die Bestimmung des § 3 Abs. 1 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz über die Bekleidung öffentlicher Aemter gilt auch für die Stellung des nichtbeamteten Notars, des leitenden Arztes an öffentlichen Krankenanstalten und des Vertrauensarztes.
(2) Jüdische nichtbeamtete Notare scheiden mit dem Inkrafttreten des Gesetzes, jüdische leitende Aerzte an öffentlichen Krankenanstalten und jüdische Vertrauensärzte spätestens am 31. Dezember 1935 aus ihren Stellungen aus.
(3) Die Zahl der jüdischen Rechtsanwälte, Patentanwälte, Prozessagenten und Aerzte ist mit dem jüdischen Bevölkerungsanteil an der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reiches in Einklang zu bringen. Zu diesem Zweck kann der Reichsminister der Justiz die Zulassung jüdischer Rechtsanwälte, Patentanwälte und Prozessagenten, der Reichsminister des Innern die Bestallung jüdischer Aerzte zurücknehmen.
(4) Abs. 3 gilt auch für die nach Landesrecht den Rechtsanwälten gleichstehenden Berufe.
§2
Diese Verordnung tritt mit dem 30. September 1935 in Kraft.
Berlin, den.............
Der Reichsminister des Innern Der Stellvertreter des Führers Der Reichsminister der Justiz.