Antijüdische Vorurteile innerhalb der Bekennenden Kirche
In einem Brief äußert sich Studienrätin Elisabeth Schmitz gegenüber Walter Künneth am 28. Juli 1935 über Antijüdische Vorurteile innerhalb der Bekennenden Kirche:
Sehr geehrter Herr Doktor,
ich weiss nicht, ob Sie sich meiner erinnern. Wir haben uns im vorigen Jahr an Renate Ludwigs Geburtstag bei ihr gesehen.
Ich stelle absichtlich diese persönliche Bemerkung an die Spitze, weil es mir sehr schwer werden wird, diesen Brief ohne grosse Bitterkeit zu schreiben. Ich will es versuchen, aber Sie machen es einem fast unmöglich.
Es handelt sich um Ihre Aussagen über das Judentum in Ihrem Buch über den Mythus. Sie reden über unser heutiges deutsches Judentum nicht anders als mit den heute beliebten Schlagworten von „dekadentem Weltjudentum“ und „Asphaltjudentum“ usw., und Sie kriegen es wirklich fertig zu behaupten, das nachchristliche Judentum suche letztlich nur sich selbst, es missbrauche die Völker und werde zum „Keimträger“ der „Völkervergiftung“! Das heisst, Sie kennen überhaupt nur das Zerrbild des Judentums, wenigstens reden Sie nur davon. Das ist genau dasselbe, als wenn heute jemand die DC charakterisiert und dann behauptet, das ist das Christentum. Das alles ist „Schau“, ist „Mythus“, und hat mit historischer Wahrheit sehr wenig zu tun.
Es hat ja keinen Sinn, weil es wirklich allgemein bekannt ist, hier erst aufzuklären, was allein die deutsche Wissenschaft Juden verdankt - Naturwissenschaft, Mathematik, Medizin - wieviele Stiftungen in Museen und vor allem sozialer Art von Juden gemacht sind. Ich weiss nicht, ob das „zersetzend“ ist. Wie aber wollen wir denn den Hinterbliebenen der zwölftausend im Kriege gefallenen Juden (von 550 000 Juden in Deutschland) ins Gesicht sehen und den vielen Tausenden jüdischer Frontsoldaten, wenn wir durch solche Aussagen ihnen das höchste nehmen, das ein Mensch auf dieser Erde hat, die Ehre? Schon die Juden an der Front mussten sich wehren gegen die Verleumdung. „Ich bin glücklich, nun im blutigen Ernst für die heilige Wahrheit unserer Idee zeugen zu dürfen, und stärker als je lodert in uns die Liebe zum deutschen Vaterland. Dass leider Gottes in der Heimat die ehrlosen Stimmen der Verleumdung noch nicht verstummt sind, vermag uns nicht zu entmutigen. Nur traurig, furchtbar traurig macht uns dies. Was wollen sie denn mehr als unser Blut? (Kriegsbriefe gefallener deutscher Juden S. 54)
Wenn heute in einer nationalistisch überhitzten Welt auch ein jüdischer Nationalismus erwächst - ist es ein Wunder? Wenn aber heute nach 2½ Jahren schwerster Verfolgung, bei der es um Tod und Leben geht, noch immer der grosse Teil des deutschen Judentums sich zu Deutschland bekennt - dann ist es nahezu ein Wunder.
Ist es „Mangel an heldischer Gesinnung“, wenn bei den Verfolgungen des Mittelalters Juden sich und ihre Kinder in die Flammen warfen, um sie vor dem Abfall von ihrem Glauben zu bewahren? Aber es ist wohl sehr heroisch, wenn in Nürnberg zweimal die gesamte jüdische Gemeinde niedergemacht wurde, oder wenn heute 66 Millionen über eine halbe Million herfallen?
Ich habe oben gesagt, es wird mir sehr schwer werden, ohne grosse Bitterkeit zu schreiben, und ich muss offen gestehen, dass mich seit dem Schock des Boykotts vom 1.4.33 nichts mehr so erregt und so empört hat wie diese Stellen Ihres Buches. Wer heute derartige Dinge schreibt, muss wissen, dass er sich damit an die Seite einer gewissen, heute sehr verbreiteten Presse stellt. Und wenn im „Schwarzen Chor“ und im „Stürmer“ heute solche und - wie ich selbstverständlich weiss - noch sehr viel schlimmere Dinge stehen, so kann ich es nicht ändern, und es geht mich nichts an. Wenn das aber in der Bekennenden Kirche geschieht, dann geht es mich etwas an, und ich halte mich - erlauben Sie, dass ich das sage - vor Gott für verpflichtet, aus meiner Verantwortung als Glied der Kirche heraus und aus meiner Verantwortung für Menschen, die mir nahe stehen, heraus, dagegen mit letztem Ernst Verwahrung einzulegen.
Immer wieder, wenn ich Ihre Sätze lese, scheint mir, als hätten Sie von der tatsächlichen heutigen Lage der deutschen Juden oder Nichtarier, wie man eigentlich sagen müsste, keine wirkliche Kenntnis. Nur so kann ich mir die Möglichkeit erklären, heute solche Dinge zu schreiben. Sie wissen ja wohl, dass in dem schlimmsten Zentrum der Verfolgung, in der Gegend um Nürnberg, bereits Plakate mit der Aufforderung zum Pogrom angeschlagen waren, sodass selbst Herr Streicher gegen die „Disziplinlosigkeit“ (!) vorgehen musste. In einer kurhessischen Kleinstadt (auch protestantisch wie die Gegend um Nürnberg!) ist ein Jude buchstäblich totgetreten worden. Wer nun heute schreibt, dass das Judentum das Volk des Fluches und Keimträger der Völkervergiftung ist - der muss wissen, was er tut.
Woher wissen Sie eigentlich, dass die „Reinerhaltung des Blutes“ Pflicht ist? Die verantwortungsbewussten Genetiker wissen das noch keineswegs, da ja die Pflanzen- und Tierversuche wissenschaftlich gesehen noch in den ersten Anfängen stecken, geschweige denn, dass irgendetwas Abschliessendes über Menschenrassen zu sagen wäre.
Wenn Sie Rosenberg recht geben mit dem „Fluchcharakter“ des Juden, so bejahen Sie damit die Rassegebundenheit dieses „Fluchcharakters“, denn wie könnte Rosenberg sonst recht haben? Und wenn man das zusammenhält mit der „Pflicht zur Reinhaltung des Blutes“, so ist nicht recht einzusehen, mit welcher Stirn die Kirche dann Judenmission treibt. Sollen unsere evangelischen Gemeindemitglieder alle zum Cölibat verurteilt werden? Oder sollen sie konfessionelle Juden heiraten? Oder treten Sie für eine besondere Judenchristliche Kirche ein?
Ich will nur ganz kurz etwas Persönliches sagen. Ich lebe zusammen mit einer Freundin, die von Geburt Jüdin ist. Ich habe in ihrer Familie die bewusstesten und unbeirrbarsten Deutschen gefunden, die ich überhaupt kenne. Und nun erlebe ich seit zweieinhalb Jahren Tag für Tag die schweren seelischen und körperlichen Qualen mit, die die Folge dieser Zeit sind. Ich sehe die äussere Zerstörung der Existenz im engeren und weiteren Familienkreise, ich sehe überall bei Bekannten die Zerstreuung der Familie in alle Erdteile, ich sehe die Treulosigkeit und Feigheit weithin der „Arischen Freunde“, ich weiss von den Selbstmorden und den vielen Todesfällen, die die Folge dieser „unblutigen“ Verfolgung sind, ich sehe den Jammer und die Verzweiflung - und ich sehe die furchtbare Schuld der anderen Seite, der Seite, auf der wir stehen.
Meine Freundin ist seit langer Zeit getauft, aber sie hat aus ihrer tiefen Enttäuschung heraus den Weg zur bekennenden Kirche noch nicht gefunden. Immer wieder stehe ich den bitteren Fragen und Anklagen gegenüber: Warum tut die Kirche nichts? Warum lässt sie das namenlose Unrecht geschehen? Wie kann sie immer wieder Bekenntnisse zum Nationalsozialistischen Staat ablegen, die doch politische Bekenntnisse sind und sich gegen das Leben eines Teiles ihrer eigenen Glieder richtet? Warum schützt sie nicht wenigstens die Kinder? Sollte denn alles das, was mit der heute verachteten Humanität schlechterdings unvereinbar ist, mit dem Christentum vereinbar sein? Und immer wieder höre ich: Die katholische Kirche sorgt doch wenigstens für ihre Glieder, stellt nichtarische Aerzte und Schwestern z. B. ein - die evangelische Innere Mission hat Arierparagraphen! Aus den Reihen von nichtarischen Christen ist mir gesagt worden, sie fühlten sich von Kirche und Oekumene verlassen. Um ihre katholischen Mitglieder brauchten sie sich nicht zu sorgen, die gingen nicht zu Grunde, denn um sie kümmere sich die Kirche. Ueber die Haltung der evangelischen Kirche aber könne man nur sagen: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. - Die Kirche macht es einem bitter schwer, sie zu verteidigen. Ihr Buch habe ich glücklicherweise von vornherein eingeschlossen, damit meine Freundin es nicht findet. Ich wage nicht daran zu denken, was sonst die Folge wäre.
Das ist das wichtigste von dem, was ich zu sagen habe. Sollte es nun doch manchmal zu schroff gesagt sein, so wollen Sie das, bitte, entschuldigen. Es geht ja Ihnen und mir um die Sache.
Ihr Buch gilt als die Antwort der ev. Kirche auf den Mythus, ja, als die Antwort der Bekennenden Kirche, zumal da es mit dem Vorwort von Marahrens erschienen ist. Es ist schlimm für die Bekennende Kirche, dass es so ist. Daher ist es eine dringende, herzliche und sehr ernste Bitte, Sie möchten vor einer Neuauflage Ihres Buches diese Stellen einer umfassenden Umarbeitung unterziehen.