Schreiben des CV Berlin an den Reichsinnenminister
Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens berichtet dem Reichsinnenminister am 24. Juli 1935 über Gewalttaten in Ostpreußen, Mecklenburg, Hessen, Westfalen und Berlin:
Wir gestatten uns, dem Herrn Reichs- und Preussischen Minister des Innern eine Anzahl Vorgänge zu unterbreiten, die lediglich als Beispiele, also ohne geringsten Anspruch auf Vollständigkeit, die allgemeine Situation kennzeichnen sollen, in der sich die jüdischen Staatsangehörigen in verschiedenen Gegenden, insbesondere in Teilen von Ostpreussen, Mecklenburg und Berlin befinden.
I. In ungefähr dreissig ostpreussischen Orten werden seit Wochen die Häuser jüdischer Einwohner wiederholt mit beschimpfenden und entehrenden Aufschriften in Oelfarbe beschmiert und mit entsprechenden Zetteln beklebt. Die Kunden jüdischer Geschäfte werden photographiert, ihre Bilder zum Teil mit Namen und Adresse in den Zeitungskästen öffentlich ausgehängt. Vor den Geschäften werden Kauflustige durch Posten angesprochen und ihre Namen notiert. Gelegentlich sind sogar junge Menschen in jüdische Geschäfte eingedrungen und haben Kunden am Einkauf gehindert. Die betroffenen jüdischen Geschäftsinhaber haben in vielen Orten seit etwa 5 Wochen kaum noch 10 % der üblichen Tageseinnahmen.
Als in Osterode am 20. Juli 1935 ein jüdischer Kaufmann einen Jugendlichen, der derartige Zettel an seinem Grundstück anklebte, zur Rede stellen wollte, wurde er von Knaben im Alter von 12-14 Jahren unter Führung von zwei 18-19 jährigen in seinem eigenen Laden zunächst überwältigt und zu Boden geworfen, dann mit einem Plakat behängt, auf dem es hiess: „Dieser dreckige Jude hat einen deutschen Jungen geschlagen“, [und] unter Fusstritten etwa eine Stunde durch die Stadt geführt. Als die Knaben nach einstündigem Marsch den jüdischen Kaufmann zu einem Dauerlauf zwingen wollten, nahm ihn die Polizei in Schutzhaft.
Danach drang der Trupp in das Büro der Dampfmühle Gebr. Guttstein ein, durchwühlte die Korrespondenz und beklebte alle Büromöbel, Türen, Fenster usw. im Innern des Hauses mit Klebezetteln. Den Inhaber selbst holte er ohne irgendeinen Anlass aus seinem Betriebe heraus und führte ihn ebenfalls durch die Stadt, bis er von der Polizei in Schutzhaft genommen wurde. Anschliessend wurde die Schliessung der jüdischen Geschäfte erzwungen. Diese Vorgänge und eine vorausgehende schon 5 Wochen anhaltende völlige Lahmlegung des Einkaufs in jüdischen Geschäften durch Boykottposten, Photographieren, tätliche Behinderung der Kunden veranlasste eine Anzahl jüdischer Einwohner Osterodes, fluchtartig ihre Heimatstadt zu verlassen.
Die ostpreussischen Behörden sind mündlich und schriftlich über die Vorgänge unterrichtet worden. Die Staatspolizeistelle Königsberg als Leitstelle für Ostpreussen hat in der beigefügten Nummer 202 der Preussischen Zeitung vom 23. Juli zu einem Fensterscheibeneinwurf in Gerdauen Stellung genommen.
II. In Parchim/Meckl. wurde ein Vorfall vor dem Hause des jüdischen Ehepaares A. Anlass zu schärfsten Massnahmen gegen sämtliche jüdischen Einwohner. Nach der bei der Polizei zu Protokoll gegebenen Schilderung der arischen Hausangestellten R. des Ehepaares habe sie als Antwort auf Behelligungen durch Angehörige der Wehrmacht am 16. Juli abends von ihrem Fenster aus ein Glas Wasser herabgegossen. Die entgegengesetzte Darstellung, dass nicht Wasser sondern Urin herabgegossen [worden] sei, wurde Anlass zu Ansammlungen vor diesem Hause, zur Führung einer Anzahl jüdischer Einwohner durch die Stadt und dann zur Verhaftung fast der ganzen jüdischen Gemeinde mit Ausnahme nur weniger Frauen und Kinder. Das Geschäftshaus des Herrn A. wurde gleichzeitig in Anspielung auf den Vorgang verunstaltet. Die Verhafteten wurden bald wieder freigelassen, zuletzt das Ehepaar A. am 19. Juli. Bis zum 22. Juli blieben dann die jüdischen Einwohner auf Rat der Behörde von Parchim fern und hielten ihre Geschäfte geschlossen. Am 22. Juli wurden dann kurz nach der Wiedereröffnung der einzelnen Geschäfte die Schaufensterscheiben eingeschlagen und mit Warnungsplakaten versehen, nach denen sämtliche jüdischen Einwohner so schnell wie möglich Parchim wieder verlassen sollten. Am 23. Juli forderte dann die Polizei die Geschäftsinhaber auf, ihre Geschäfte geschlossen zu halten. Die seit Generationen in Parchim lebenden Juden wagen es z. Zt. nicht, sich in ihrem Heimatort aufzuhalten.
In Bad Arendsee wurden die Fensterscheiben der jüdischen Hausmann-Stiftung in der Nacht vom 20. zum 21. Juli zertrümmert. (Die Stiftung selbst ist danach besetzt worden). In Neustadt Glewe/Mecklenburg wurden zur gleichen Zeit die Fensterscheiben des Verwaltungsgebäudes der Lederfabrik Adler & Oppenheimer, die ungefähr 2.000 Arbeiter beschäftigt, eingeschlagen.
III. Am 22. Juli zog in den Orten Elsoss und Paecklhausen Krs. Wittgenstein/Westfalen eine etwa 100 Mann starke Formation des Arbeitsdienstes geschlossen vor die Häuser jüdischer Einwohner, begann mit Sprechchören, worauf ein gleichzeitiges Steinbombardement auf die Häuser erfolgte.
IV. In Wächtersbach Krs. Gelnhausen wurden die jüdischen Viehhändler, die zu dem am 17. Juli stattfindenden Viehmarkt gekommen waren, von einer etwa 40 Mann starken, von auswärts herbeigekommenen Gruppe mit Schlägen vom Viehmarkt gejagt. Ein Teil suchte in anliegenden Häusern Schutz, ein Teil wurde bis zum Bahnhofsgebäude verfolgt. Die verstärkte Gendarmerie griff nicht ein, während der ebenfalls verstärkte Bahnschutz die weitere Verfolgung auf Bahnhofsgelände unterband. Ein ähnlicher Vorgang trug sich anlässlich des im Juli stattfindenden Viehmarktes in Fulda zu.
V. In Berlin wurden auch im Juli laufend die jüdischen Geschäfte ganzer Strassenzüge mit beschimpfenden Inschriften in Oelfarbe beschmiert und mit Zetteln beklebt. Eine Anzahl von grossen Schaufenstern wurde eingeschlagen. Auf den Strassen wurden in den Abendstunden jüdische Passanten belästigt, in der unmittelbaren Umgebung Berlins wurden jüdische Schulkinder zum Abbruch ihrer Ferienlager gezwungen.
Es seien nur aus den letzten Tagen angeführt:
1) Die Vorderfront des Gotteshauses Prinzregentenstrasse wurde vollständig mit Beschimpfungen besudelt.
2) Bei der jüdischen Firma Herz-Licht hat man noch am 22. Juli die Schaufensterscheiben eingeschlagen.
3) In einem jüdischen Lokal in der Woltersdorfer Schleuse wurden die Gäste von Eindringlingen herausgetrieben. Sie wurden gehindert, ihre Zeche zu bezahlen.
4) Das gleiche erfolgte in dem in jüdischem Besitz befindlichen Café Hansa in der Flensburgerstrasse Abend für Abend. Die Eindringlinge stürzten sich dabei jedesmal mit dem Ruf „Die Nazis kommen“ auf die Gäste. Der Inhaber hat schliesslich, um vor weiteren Demolierungen geschützt zu sein, am 20. Juli sein Lokal schliessen müssen.
Auch andere jüdische Gaststätten Berlins sind infolge des Anhaltens derartiger Vorgänge z. Zt. dauernd geschlossen.
Da die Rechtssicherheit der jüdischen Einwohner in den genannten Gebieten und Städten auf’s äusserste gefährdet ist, bitten wir um rasche Massnahmen, die derartige gesetzwidrige Vorgänge abzustellen geeignet sind.