Abdruck einer Rabbiner-Rede in der „Jüdischen Rundschau“
Im April 1935 hielt der Berliner Rabbiner Joachim Prinz eine Rede über die soziale und kulturelle Isolation der jüdischen Bevölkerung:
Das Leben ohne Nachbarn - Versuch einer ersten Analyse. Ghetto 1935
(aus einer Rede: „Jüdische Situation - Heute“) von Joachim Prinz
Der folgende Abschnitt aus einem großen Vortrag gibt nur eine Analyse, ohne daß der — im Vortrag selbst vorgenommene - Versuch der Lösung hinzugefügt wurde.
Daß wir im Ghetto leben, das beginnt jetzt in unser Bewußtsein zu dringen. Dieses Ghetto freilich unterscheidet sich in vielem, im Begriff und in der Wirklichkeit, von dem, was wir bisher darunter verstanden. Gerade deshalb scheint eine Analyse des Ghettos als eines inneren und äußeren Zustandes, aber gerade in diesen inneren Qualitäten und Begriffsbestimmungen eine lohnende und für die Klärung der heutigen Situation wichtige Aufgabe zu sein.
Der innere Zustand, welchen wir „Ghetto“ heißen, offenbart sich in einer Tatsache, für die es freilich nur moralische Maßstäbe gibt, welche innen wachsen und deshalb keine generelle Geltung haben. Maßstäbe, welche also graduell verschieden sind, je nach der Empfindsamkeit des einen und des anderen, und je nach den Ansprüchen, die er an das Leben stellt. Sei dem aber wie immer, so nennen wir Ghetto aus unserem Empfinden und aus unseren Lebensansprüchen heraus den Tatbestand, daß wir in einem Lande leben, wir Juden in Deutschland, wo uns an vielen Stellen versichert wird, daß dieses unser Leben das deutsche Volk belaste. Faßt man all das, was in den letzten zwei Jahren in gesetzgeberischen Akten, in amtlichen Verlautbarungen, in wichtigen Reden und in wesentlichen Maßnahmen geschehen ist, zusammen, so bekommt man dieses Ghetto-Resultat: unabhängig von unserem Willen, unserer Güte, unseren Fähigkeiten und alldem, was wir leisten oder nicht leisten, empfinden uns viele Menschen dieses Landes als eine Belastung ihres Volkslebens. Häufig wird von ihnen gesagt, daß das Dasein unserer Rasse, die Existenz unseres Geistes, das Vorhandensein unserer Religion, die Physiognomie unserer Gesichter, der Habitus unseres Lebens das Volk unglücklich mache. Zu solchen Werturteilen gibt es keine „Stellungnahme“. Man kann sie nur zur Kenntnis nehmen; aber man kann sie unmöglich registrieren wie eine Tatsache, die „mich nichts angeht“. Wie oft ist schon gesagt worden, daß Liebe den Geliebten etwas angeht, und auch das Gegenteil von Liebe geht uns etwas an, sofern es uns zum Gegenstände hat. Diejenigen sind vielleicht glücklich, die nur registrieren können und dann hinzufügen: was geht’s mich an? Aber dieses Glück kommt aus einer flachen Seele und aus einem mangelhaften Gefühl für Ehre und Anstand. Diesem „Glück“ soll man nicht das Wort reden. Es ist ein unedles und falsches Glück. Wir anderen empfinden es als ein Unglück, und da wir nicht dem Willen des deutschen Volkes, welches uns als Belastung empfindet, raschestens und ohne Zögern haben entsprechen können, da viele Juden aus Rücksicht auch auf die ökonomische Situation des Volkes selbst, aber auch auf innere Vorgänge in uns selbst, hiergeblieben sind und in einer Anzahl von ein paar 100 000 Menschen hier sind, werden wir uns des inneren Ghettos bewußt, welches dieses Hiergebliebensein in uns zeugt. Freilich, man müßte uns freisprechen, wenn man uns wegen minderer moralischer Qualität vor Gericht stellte. Es ist nicht das, was uns den Aufenthalt verlängerte, aber unser Leben bleibt ein Ghettoleben, das Leben im Bewußtsein, für viele Millionen ein „Gast“ zu sein, dessen Leben, ja, dessen bloße Existenz dem Gastgeber nach seiner Aussage Licht, Luft und Freude einschränkt.
Zu diesem inneren Zustand, den wir „Ghetto“ nennen, kommen andere hinzu. Das mittelalterliche Ghetto wurde abends geschlossen. Hart und grausam fiel das Tor zu. Sorgsam wurden die Riegel vorgeschoben: man kam aus der „Welt“ und ging in das Ghetto. Heute ist es umgekehrt. Wenn sich unsere Haustür hinter uns schließt, kommen wir aus dem Ghetto und gehen in unser Heim. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Das Ghetto ist kein geographisch umgrenzter Bezirk mehr, wenigstens nicht in dem Sinne, wie es das Mittelalter kannte. Das Ghetto, das ist die „Welt“. Draußen ist das Ghetto für uns. Auf den Märkten, auf der Landstraße, in den Gasthäusern, überall ist das Ghetto. Es hat ein Zeichen. Das Zeichen heißt: nachbarlos. Des Juden Los ist: nachbarlos zu sein. Vielleicht gibt es das nur einmal auf der Welt, und wer weiß, wie lange man es ertragen kann: das Leben ohne Nachbarn. Ueberall kennt das Leben den nachbarlichen Menschen. Das ist nicht der Freund, aber einer, der gewillt ist, mit dem anderen das Leben zu tragen, es ihm nicht zu erschweren, sein Mühen und sein Hasten mit freundlichen Augen zu betrachten. Das fehlt. Die Juden der großen Stadt spüren das nicht so, aber die Juden der kleinen Städte, die am Marktplatz wohnen ohne Nachbarn, deren Kinder in die Schule gehen ohne Nachbarkinder, spüren die Isolierung, welche die Nachbarlosigkeit bedeutet, die grausamer ist als alles andere, und es ist vielleicht für das Zusammenleben von Menschen das härteste Los, das einen treffen kann. Wir würden das alles nicht so schmerzlich empfinden, hätten wir nicht das Gefühl, dass wir einmal Nachbarn besessen haben.
Noch etwas anderes sei hinzugefügt. Wir leben in einer sehr merkwürdigen Kultursituation. Nur der erblindete Blick kann das nicht erkennen, und der Betrieb, den wir um das alles machen, täuscht in der Tat darüber hinweg. Aber wer auch nur von oben her die kulturelle Situation der Juden in Deutschland betrachtet und nur ein ganz klein wenig den Firnis abschält, der sich über ein scheinbar gigantisches Gemälde hinzieht, weiß, daß das alles ein Torso ist von einer erschreckenden Dürftigkeit und mit einer klaffenden Wunde. Wenn man bedenkt, daß wir innerhalb des deutschen Kulturschaffens keinen legitimen Ort mehr haben, nicht so sehr von uns her, sondern von jener Kultur aus, dann entpuppt sich uns das alles, was wir so an Kultur „betreiben“. Wir spielen Beethoven, Bach und Mozart, wir kehren zu Goethe und Hölderlin zurück, wir lauschen sehnsüchtig den großen Offenbarungen dieser heiligen Deutschen. Das ist eine gute Sache, und die Rückkehr zu alten Dingen hat immer etwas Schönes und Ergreifendes. Aber welches Schauspiel, welche Tragödie für Menschen, die in einer Zeit leben, ohne in ihr zu leben. Wir haben keinen Zeitstellenwert in dieser deutschen Gegenwart. Wir sind auch kulturell aus den Angeln gehoben, und man hat uns ein Senkblei in die Hand gegeben, welches wir in den Ablauf der deutschen und europäischen Kulturereignisse hineinsenken, und mit einem raschen Schnitt trennen wir die große Literatur von einst, der wir uns hingeben, von der Literatur, Malerei, Musik von heute, der wir uns nicht hingeben dürfen. Die Tatsache, daß wir z. B. auf unseren Bühnen keinen heutigen deutschen Dramatiker spielen dürfen, die Tatsache, daß kein großes deutsches Orchester die Melodien, die Schöpfungen eines Juden von heute spielen würde, die großen Barrieren, die vor der Schöpfung unserer Maler stehen, verurteilen unsere kulturelle Situation zu einem Scheinleben von grausamer Wirklichkeitsferne. Da hilft auch kein Betrieb, kein Verein, kein Kulturbund. Denn es gibt keine „befristete Kultur“! Ich weiß nicht, wie lange man so leben kann. Ich weiß nicht, wie lange die Jugend so leben kann. Mit Erinnerungen kann man zwar überwintern, und die Erlebnisse an einst, an die Zeit, in der es wenigstens in etwa einen legitimen Anspruch der Juden auf die Mitarbeit und das Mitschaffen gegeben hat, an die Zeit, in der Gustav Mahler Musik schrieb und Gundolf3 Goethe deutete, sind der große und schöne Vorratsraum, in den man gehen kann, wenn man will. Aber wir haben ihn noch. Unsere Jungen haben ihn nicht. Das ist eine Frage. Es ist keine Antwort. Es gibt keine Antwort.
Zum Ghetto, zu unserem Ghetto von 1935, gehört auch neben der Kultursituation etwas, was man schwer bezeichnen kann, und was unser Leben in der deutschen Landschaft umschreibt. Tönende Worte braucht man darüber nicht zu machen. Man braucht nur einmal am Tage durch die deutschen Lande zu fahren, jetzt im Frühling, wenn das neue Leben sich regt, und das frische Grün die Wiesen überzieht, die Bäche im Gebirge silbern glänzen, die Bäume blühen und die Wälder auf den Bergen ringsum jung und frisch dastehen. Nur das braucht man, und man spürt es mit aller Gewißheit und mit einer elementaren Kraft, die stark ist wie ein Axiom: daß wir an diese Landschaft gebunden sind, gebunden sind bis in alle Zeit, und daß die Sehnsucht vieler Juden, die aus Deutschland in das karstige Palästina gingen, die Sehnsucht nach den rauschenden Wäldern und den fetten Wiesen, echt und sauber ist. In diese Landschaft sind wir hineingeboren. Ich will nichts von der Mystik oder dem Mythos einer Landschaft sagen. Ich kenne auf diesem Gebiete nicht die Grenzen. Aber abseits von alledem ist die Bindung groß, stark und echt. Und doch hat sie sich in den letzten zwei Jahren verwandelt. Denn Landschaft ohne Menschen gibt es nicht. Das ist eine Chimäre, ein Schatten, ein Bild, eine Wandtafel, nichts an deres. Zur Landschaft, zur wirklichen Landschaft gehören Menschen und ihr Leben, ihr Denken, ihre Art, zu reagieren, was sie empfinden, und welches die Formen ihres Lebens sind. Nie hat man zur nackten Landschaft eine Beziehung, der Landschaft ohne Menschen, und nie außerhalb der bloßen Ästhetik ist die Landschaft menschenleer. Ist das aber so, dann beginnt allmählich die Landschaft, in der wir leben, ihr Antlitz zu verändern. Denn wo in der Welt könnte die Beziehung noch ungestört sein, wenn es innerhalb dieser Landschaft Pfähle gibt. Barrieren, Schilder, die mir, dem in dieser Landschaft Lebenden, den Eintritt zu ihr verwehren. Das wird für mich zu einem Pfahl im Fleische der Landschaft, und ihr Körper wird ganz und gar verwundet. Denn zu wissen, dass Landschaften im Gebirge, in der Ebene und am Meere, kleine Dörfer und Städte den Eintritt des Juden, also meinen Eintritt, nicht wünschen, das macht nicht nur traurig. Es wäre zu wenig; sondern es verwandelt die Landschaft selbst auch, ihr objektives Bild, ihre Erscheinung, nicht nur meine Empfindung. Und Berge, Flüsse, Bäume und Wiesen beginnen in einer ungeahnten, nie geglaubten Verwandlung uns ihre Grimasse zu schneiden. An dieser Demaskierung einer Landschaft, die auch die unsere ist, zeigt sich unser Ghettobestand von neuem.
Das Ghetto 1935 hat seine Mauern zwar auch in dem Gefüge der Maßnahmen und Gesetze. Es ist aber gut, wenn wir die unsichtbaren Mauern sehen, die der Kultur, der Landschaft und des inneren Reagierens. Es ist gut für uns und für die anderen zu wissen, was das eigentlich heißt: Ghetto 1935.
Dies alles wird hier ohne jeden Groll und ohne den Ton der Anklage gesagt. Wir sind uns viel zu sehr der Größe des geschichtlichen Umbruchs bewußt, als daß wir auf dieses Schicksal mit unfruchtbaren Klagen reagieren sollten. Wir wissen nur das eine: die geschilderte Existenzform kann nicht die repräsentative jüdische Lebensform sein. Und wir wissen, daß im gleichen Zeitalter, das uns diese unerwartete Veränderung unseres Lebens gebracht hat, eine neue Form des jüdischen Lebens und eine Umformung des jüdischen Menschen im Lande der jüdischen Geburt und der jüdischen Wiedergeburt vor sich geht.