Referat auf SD-Tagung
Am 9. Juni 1938 hielt SD-Mann Hagen auf einer Tagung der Hauptabteilungsleiter des SD-Abteilung II folgendes Referat:
Mit den auf der II/112-Tagung im vergangenen Jahre gegebenen Arbeitsrichtlinien auf dem Gebiete des Judentums wurde versucht aufgrund des Funktionsbefehls des Chefs der Sicherheitspolizei v. 1.VII.37 aus dem Stadium der passiven in das Stadium einer aktiven Methodik in der Bearbeitung der Judenfrage überzutreten. Dabei lag der Gedanke zugrunde, daß eine endgültige Lösung der Judenfrage - die in den Nürnberger Gesetzen nicht einbeschlossen lag - nur durch systematische Durchführung des Auswanderungsgedankens auf organisatorischen wie auf propagandistischem Gebiete herbeigeführt werden könne.
Daraus ergab sich notwendigerweise die laufende direkte Fühlungsnahme des SD mit den Leitern der jüdisch-politischen und Hilfsorganisationen. Unzuverlässige und assimilatorisch eingestellte Funktionäre wurden von ihren Ämtern ausgeschlossen und müssen auch zukünftig von einer Einflußnahme auf die Gestaltung der Organisationen ausgeschaltet werden bzw. bleiben.
Gegenüber dem Weiterbestehen der existierenden jüdischen Organisationen wurde der Standpunkt eingenommen, daß sie, auch wenn sie früher absolut assimilatorisch eingestellt waren, zweckmäßigerweise nicht aufgelöst werden, da sonst die Ausrichtung der Judenschaft immer schwieriger wird. Es wurde aber Wert darauf gelegt, daß sie organisatorisch und personell so ausgerichtet wurden, daß sie sich - selbst wenn sie noch ideell anders ausgerichtet waren oder sind - in ihrer Arbeit ausschließlich der Förderung der jüdischen Auswanderung widmen. Unter diesem Gesichtspunkt ist insbesondere die Behandlung des „Jüdischen Centralvereins" und des „Reichsverbandes Jüdischer Frontsoldaten“ zu verstehen. Beide sind heute einschließlich ihrer Unterorganisationen mit geringen Abweichungen ausschließlich um die Auswanderung bzw. Unterstützung ihrer Mitglieder bemüht.
Wenn demnächst die Auflösung der „Staatszionistischen Vereinigung“ erfolgen wird, die allerdings noch der endgültigen Genehmigung durch den Chef der Sicherheitspolizei bedarf, so bedeutet das keine Abweichung von dieser Grundeinstellung. Die Auflösung soll vielmehr wegen der einwandfrei festgestellten Verbindungen zu der sehr stark gegen Deutschland arbeitenden Jabotinski-Gruppe der Neuzionisten erfolgen. Außerdem besteht der begründete aber nicht erwiesene Verdacht, daß die von dieser Organisation in Deutschland ausgebildeten Jugendlichen zur Ergänzung der palästinensischen Wehr- und Nachrichtenorganisationen Hagana eingesetzt wurden.
Grundsätzlich gesprochen, kommen also auch für die nächste Zeit Auflösungen größerer jüdisch-politischer Organisationen nicht in Frage. Dagegen soll versucht werden, einige kleine der Auswanderung dienende Organisationen in die Zentralorganisationen zu überführen, um so eine Vereinfachung und Verbilligung des Gesamtapparates herbeizuführen. Anweisung hierüber ergeht nach Klärung der Angelegenheit mit den zentralen Organisationen. Örtlich notwendige Maßnahmen gegen bestimmte jüdisch-politische Gruppen bleiben selbstverständlich von Fall zu Fall zu entscheiden.
Die Vereinfachung des Verwaltungsapparates der jüdischen Organisationen in der Provinz wie in Berlin ist um so notwendiger, als die Einnahmen der jüdischen Gemeinden ständig im Abnehmen begriffen sind. In besonders starkem Maße haben sich hier die in den letzten Monaten erlassenen Gesetze und Verordnungen über die Betätigungseinschränkung der Juden in der Wirtschaft ausgewirkt.
Eine grundsätzliche Änderung der rechtlichen Stellung der jüdischen Kultusgemeinden wurde zudem durch das seit dem 31.III.38 wirksame Gesetz über die „Veränderung der Rechtsstellung der jüdischen Kultusgemeinden“ herbeigeführt, durch das die Gemeinden zu eingetragenen Vereinen wurden. Sie verloren damit automatisch die den Körperschaften öffentlichen Rechts von Staatswegen zugestandenen Sonderrechte. D. h. sie haben heute weder steuerliche Sonderrechte, noch sind sie der jüdischen Gemeindemitglieder zur Zahlung der bisherigen Kultussteuern verpflichtet. Hier darf jedoch bemerkt werden, daß durchaus Interesse daran besteht, daß die jüdischen Gemeindemitglieder regelmäßig ihre nun rechtlich als Vereinsbeiträge bezeichneten Kultussteuern bezahlen, da andernfalls die Gemeinden jede sichere finanzielle Basis verlieren. Es sind deshalb auch alle Bestrebungen der Leiter der jüdischen Gemeinden zur Einziehung der Beiträge zu unterstützen. Die Reichsvertretung hat auch von sich aus gleich nach Veröffentlichung des Gesetzes auf die Notwendigkeit dieser Zahlungen hingewiesen.
Aus dieser gesetzlichen Neuregelung ergeben sich auch einige Änderungen in der sicherheitspolizeilichen Arbeit, die insbesondere die Überwachung des Versammlungswesens in den Synagogen und sonstigen Kultushäusern betreffen. Die Neuordnung wird auch in nächster Zeit aufgrund hiesiger Vorschläge in Erlaßform durch das Gestapa geregelt werden. Die Mitwirkung des Sicherheitsdienstes hierbei ist unerläßlich, da erfahrungsgemäß die Überwachungsbeamten der Stapostellen nicht immer über die nötige Sachkenntnis verfügen können, um Verstöße gegen die Linie der Judenpolitik in den Versammlungen zu bemerken. Das Gestapa begrüßt bei dieser Arbeit die Mitwirkung der O. A.-Referenten soweit das arbeitstechnisch möglich ist. Erwünscht ist die Teilnahme an Versammlungen der Judenschaft außerdem deshalb, weil nur aufgrund des persönlichen Eindrucks eine einwandfreie Beurteilung über die Entwicklung des jüdischen Lebens möglich ist.
Unabhängig von diesem Erlaß ist es aber auch jetzt schon notwendig, sich um das immer mehr auf die Synagogen konzentrierende Versammlungswesen zu bekümmern, damit sich nicht unter dem Druck der augenblicklichen Verhältnisse, die sich infolge der schlechten Auswanderungsmöglichkeiten einseitig auswirken, nicht wieder assimilatorische Tendenzen breitmachen. Dabei ist als Assimilation bereits das Bemühen zum Verbleiben in Deutschland anzusehen. Derartige Bestrebungen sind eintretendenfalls unverzüglich abzustellen. Bei wichtigen Veränderungen ist an das SD-Hauptamt zu berichten.
Es ist nicht übersehen worden, daß durch die auf wirtschaftlichem Gebiet gegen die Judenschaft erfolgten Maßnahmen, durch die außenpolitischen Veränderungen in den früher für Juden zugänglichen Ländern und nicht zuletzt durch die Angliederung des Landes Österreich an das Reichsgebiet, das Judenproblem eine erhebliche Verschärfung erfahren hat und die Auswanderungsmöglichkeiten in erheblichem Maße eingeschränkt worden sind.
Da es sich bei diesen Schwierigkeiten neben den außenpolitischen Veränderungen fast ausschließlich um Schwierigkeiten wirtschaftlicher Natur handelt, ist deshalb auch schon mit dem Wirtschaftsministerium verhandelt worden, um zu erreichen, daß insbesondere den minder- und unbemittelten Juden unabhängig von dem jeweiligen Stand des Devisenangebotes die Auswanderungsmöglichkeit offengehalten wird. Es ist zu erhoffen, daß aufgrund dieser Verhandlungen in absehbarer Zeit eine grundsätzliche Regelung getroffen werden kann.
Zusammengefaßt stehen auf dem Gebiete der Abteilung II112 folgende Aufgaben zur Lösung bzw. Fortführung:
1. Es ist im Einvernehmen mit den Stapoleit- und Stapostellen Sorge zu tragen für die endgültige Abwicklung der Maßnahmen zum Ausschluß der Juden ausländischer Staatsangehörigkeit aus den Ämtern der jüdischen Gemeinden und Organisationen.
Ausnahmen sind nur zulässig bei Unersetzlichkeit, über die das SD-Hauptamt im Einvernehmen mit dem Geh. Staatspolizeiamt entscheidet, oder wenn die in Frage stehenden Juden in untergeordneten Angestellten- bzw. Arbeitsverhältnissen stehen. Aber auch hierbei ist jeder Einzelfall zu überprüfen.
2. Die Auswanderungswilligkeit der Juden ist in jeder Weise zu fördern. Eine beständige Fühlungsnahme mit den Leitern der jüdischen Organisationen durch den SD ist deshalb unerläßlich. Sie sind laufend im Einvernehmen mit den örtlich zuständigen Staatspolizeistellen vorzuladen und über ihre Arbeit zur Förderung der Auswanderung zu befragen. Sie sind durch mindestens monatlich einzureichende Rechenschaftsberichte, die sowohl über die organisatorische und propagandistische wie auch über die finanzielle Gebarung Aufschluß geben müssen, an ihre Arbeitsverpflichtung zu binden. Die Etatgestaltung darf ausschließlich durch die Auswanderung bestimmt sein. Desgleichen ist dafür Sorge zu tragen, daß durch den Ausbau des jüdischen Unterstützungswesens für diejenigen Personen, die für eine Auswanderung nicht mehr in Frage kommen, die deutschen Fürsorgebehörden weitgehend entlastet werden.
3. Dem jüdischen Versammlungswesen in den Synagogen ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
4. Bekanntwerdende Zuwanderung aus dem Lande Österreich sind an das SD-Hauptamt zu melden, da grundsätzlich eine Abwanderung von Juden ins Reichsgebiet untersagt wurde.
5. Gegen die Staatszionistische Vereinigung ist vor Erhalt des Erlasses nichts zu unternehmen. Zu melden sind plötzliche Veränderungen, die darauf schließen lassen, daß von der Organisation Maßnahmen erwartet werden.
6. Der zunehmenden Ausbürgerung von Juden polnischer Staatsangehörigkeit aufgrund des neuen polnischen Staatsbürgergesetzes ist erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Ein Vorschlag, der das Verbleiben solcher Ausgebürgerter in Deutschland nach Möglichkeit unterbindet, wurde dem Gestapa bereits unterbreitet. Die Entscheidung muß noch abgewartet werden.
Bei Bekanntwerden einer größeren Anzahl von Ausbürgerungen von Juden polnischer Staatsangehörigkeit, ist an das SD-Hauptamt zu berichten.
7. Allgemein wird gebeten, die zuständigen Referenten zu einer laufenden Fühlungsnahme mit den zuständigen Stapostellen anzuhalten.
Dabei sollen sowohl Beobachtungen als auch Meldungen ausgetauscht werden, damit Doppelmeldungen unter Berücksichtigung des Personalmangels unterbleiben.