Pogrom in Kassel, Berlin und anderen Städten
Nach dem 24. November 1938 verfasste ein Unbekannter folgenden Vermerk über den Beginn des Pogroms in Kassel und Umgebung und den Verlauf der Ausschreitungen in Berlin und anderen Städten:
Zur Spontaneität der Aktion des 10. November
m Sonnabend, den 5. November, wurde in Kassel versucht, die Synagoge zu demolieren. Hitlerjugendtrupps zogen vor die Synagoge, suchten über das Gitter in das Gotteshaus einzudringen, warfen Steine in die Fensterscheiben, zogen dann aber bei Eintreffen der Polizei ab. Am Sonntag, dem 6. November, wurde dieser Versuch wiederholt. Hierbei gelang es, in das Gemeindehaus einzudringen, die Akten auf die Straße zu werfen und Zerstörungen großen Umfangs anzurichten, insbesondere mit Steinen die Synagogenfenster einzuwerfen. Über diese schweren Ausschreitungen wurde in der »Kurhessischen Landeszeitung« (Zeitungstitel nicht unbedingt richtig, vielleicht »Kurhessische Zeitung«) vom Montag, dem 7. oder 8. November berichtet. Gleichzeitig erschienen in der Zeitung Notizen über judenfeindliche Ausschreitungen im Bezirk Hessen-Kassel. In Kassel selbst wurde das Gebiet um die Synagoge in weitem Umkreis abgesperrt und dem Vorstand der Zutritt zu dem schwer demolierten Gebäude nicht gestattet.
Es ist dies einer der durch einen Zeitungsbericht eines nationalsozialistischen Blattes festgelegten Vorläufer der Aktion vom 9. und 10. November. Übrigens ist auch hier Feuer anzulegen versucht worden. Der Kasseler Beginn mehrere Tage vor dem Tode des Legationsrats vom Rath beweist, dass von einer Spontaneität der Pogromvorgänge nicht die Rede sein kann. Im Übrigen haben nach dem Tode des Herrn vom Rath am 9. November ausländische Journalisten bei der Pressekonferenz den Vertreter des Propagandaministers Prof. von Böhmer nach den Folgen des Grynszpan-Attentats für die Lage der Juden gefragt. Prof. Böhmer antwortete wörtlich, dass die Frage nunmehr zu einer Radikallösung dränge. Der »Völkische Beobachter« vom 9. November führt dann eine Anzahl von wirtschaftlichen Maßnahmen auf, die nun bei der »Radikallösung« zur Verwirklichung reif seien. (Verschwinden jüdischer Geschäfte aus den Ladenstraßen pp.)
Alle diese aufgeführten Maßnahmen waren harmlos gegenüber dem, was dann eingetreten ist: ein Beweis, dass zunächst zwar scharfe Maßnahmen im Vergleich zu der bisher betriebenen wirtschaftlichen Judenpolitik geplant waren, dass aber die Radikalen diese Maßnahmen für nicht weitgehend genug hielten und rasch eine Aktion von bisher unbekannter Vehemenz durchsetzten. Der Befehl zum Pogrom dürfte erst am Abend des 9. November gegeben worden sein. Ein glaubwürdiger Gewährsmann berichtet, von einem polnischen Postbeamten gehört zu haben, dass er in der Nacht vom 9. zum 10. November im Rundfunkabhördienst beschäftigt war und, ohne es zu wollen, zufällig eine Anweisung auffing, die an die deutschoberschlesischen Partei- oder SA-Stellen gerichtet war. Der Beamte tat in ICattowitz Dienst. Der Inhalt der Anweisung entsprach dem, was später geschehen ist.
Der Annahme, dass die Anweisung erst in der Nacht vom 9. zum 10. November erfolgt ist, widerspricht eine Mitteilung aus Krefeld, nach der bereits am 9. vormittags das Gemeindehaus besichtigt worden ist. In dem Gemeindehaus befindet sich das Gemeinde-Restaurant, [das] Kohlensäurebehälter für die Bierdruckapparate hat. Diese Behälter wurden dann unter sachverständiger Leitung eines Gastwirts in der Nacht vom 9. zum 10. weggeschafft, damit beim Abbrennen keine Explosionen erfolgen.
Ausschreitungen im Einzelnen
In Beuthen/Oberschlesien wurden die Juden in der Nacht vom 9. zum 10. November aus ihren Betten geholt, Frauen und Männer vor die brennende Synagoge gebracht, wo man ihnen hohnlachend das repräsentative brennende Gebäude zeigte. Man zwang sie, viele Stunden vor der Synagoge zu stehen, um sich das Niederbrennen der Kuppel mit anzusehen. Ein polnischer Jude wurde gezwungen, vor der brennenden Synagoge zu knien. In dieser Stellung wurde er von SS-Leuten fotografiert. Die Leitung der Beuthen-Aktion hatte der Kreisleiter Röhl, der sich auch beim Eindringen in die Wohnungen in Brutalitäten, Zerstörung von Möbeln pp. hervortat. Im Übrigen scheint der Zwang zur Besichtigung der brennenden Synagogen nicht vereinzelt gewesen zu sein.
In Landeck/Westpreußen wurde die Synagoge niedergebrannt. Am Tage nach dem Brand erschienen Nationalsozialisten beim Vorstand der Jüdischen Gemeinde und legten die Benzin-Rechnung vor.
In Rätzeburg (Pommern oder Westpreußen) war die Synagoge verkauft. Es sollte in ihr die Eierstelle des Kreises untergebracht werden. Das Verbleiben des Gebäudes erregte jedoch bei örtlichen Parteikreisen heftigen Anstoß, weil in den Nachbarorten überall die Synagogen heruntergebrannt waren. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde wurde gezwungen, den Kaufvertrag rückgängig zu machen, den Kaufpreis zurückzuzahlen, und es wurde dann die Synagoge angezündet, nachdem die Eierstelle sie geräumt hatte.
In einzelnen Orten, wie z.B. Oppeln und Beuthen, sind die Brände so sachverständig angelegt worden, dass an der Beteiligung der Feuerwehr bei der Brandstiftung für Eingeweihte kein Zweifel besteht.
Die Löscharbeiten sind überall saumselig so vorgenommen worden, dass nur die Nachbargebäude geschützt wurden. Auf direkte Anfrage bei einzelnen Feuerwehrleitungen wurde erklärt, dass die Feuerwehr nur in der Lage sei, die Ausdehnung der Brände auf die Nachbargebäude zu verhindern.
In Chemnitz wurde bei der Brandstiftung des Gemeindehauses der Gemeindesekretär Grünberg angeschossen. Er lag im Garten. Die Brandstifter kamen zu der Frau und erklärten ihr: »Ihr Mann ist tot, er liegt im Garten.« Etwa einen Tag lang hat die Ehefrau glauben müssen, dass ihr Mann tot sei, während er in Wirklichkeit nur schwer verletzt war und mit dem Leben davongekommen ist.
In Berlin geschahen die Brandstiftungen der Synagogen in der Nacht vom 9. zum 10. November morgens zwischen 3 und 4 Uhr. Um die gleiche Zeit wurden die Scheiben sämtlicher Geschäfte, die die Firmeninhaber mit weißen Buchstaben be-zeichneten, eingeschlagen. Schon im Sommer, als der Polizeipräsident die Kennzeichnung der jüdischen Geschäfte mit weißen Buchstaben angeordnet hatte, erschien manchem diese Anordnung als »Pogromwegweiser«. Am Morgen des 10. November lagen in ganz Berlin die Splitter der Schaufensterscheiben auf der Straße, dagegen waren Plünderungen nicht vorgekommen.
Während in den ersten Vormittagsstunden die Geschäftsinhaber sich anschickten, den Schutt aufzuräumen, und die Versicherungsgesellschaften in Kenntnis setzten, z. T. auch sich anschickten, neue Scheiben einsetzen zu lassen, begann am Nachmittag etwa um 4 Uhr ein neuer Sturm auf die demolierten Geschäfte. Hierbei wurden die Geschäftsregale umgeworfen, die Ware, Bücher auf die Straße geschleudert. In einem jüdischen Kaufhause, dessen große und zahlreiche Schaufensterscheiben sämtlich zertrümmert waren, wurde an mehreren Stellen versucht, Brände anzulegen, was misslungen ist.
Die Büros der Zionistischen Vereinigung in der Meinecke-straße wurden demoliert, Schreibmaschinen aus dem Fenster geworfen, während der Versuch, Büros anderer jüdischer Organisationen zu zerstören, daran scheiterte, dass die Büroräume schon vorher durch die Geheime Staatspolizei geschlossen und versiegelt waren. Die Attentäter zogen ab, als sie die Siegel der Geheimen Staatspolizei sahen.
Im Allgemeinen sind in Berlin Wohnungen nicht demoliert worden. Man führt die Unterlassung einer solchen Woh-nungszerstörungs-Aktion darauf zurück, dass sich in Berlin zahlreiche jüdische Ausländer aufhalten; angeblich soll auch diplomatische Intervention erfolgt sein. Es ist auch in bestimmten Villenvororten von Berlin nicht einmal eine Verhaftung vorgenommen worden, angeblich deshalb, weil zahlreiche Villen von Diplomaten bewohnt sind (Wannsee). In Dahlem ist eine große Anzahl von Juden festgenommen, auf das zuständige Polizeirevier gebracht und bis zum Abend dabehalten worden. Der Reviervorsteher hatte keine Anweisung erhalten, die Verhafteten weiterzutransportieren, und er entließ sie deshalb am späten Abend, worauf sich die Mehrzahl aus ihren Wohnungen entfernte und sich so der Verhaftung am nächsten Tage entzog. Die Zahl der in Berlin verhafteten Juden dürfte nicht größer als 3000 sein. Gesucht sind erheblich mehr worden, aber es bestand in Berlin die Möglichkeit, sich zu verbergen, und es haben in den Tagen zwischen dem 10. und 20. November Tausende jüdischer Männer das Dasein eines gehetzten Wildes geführt.
Einzelne sind Tag und Nacht unterwegs gewesen, fuhren in den Verkehrsmitteln auf und ab, nächtigten täglich anderwärts, off in den Wohnungen schon verhafteter Juden, oft bei Ariern, die sich teilweise sehr hilfsbereit benahmen. In einer Villa eines arischen Kaufmannes wohnten elf jüdische Männer, die dem Villenbesitzer z. T. überhaupt nicht bekannt und durch Freunde empfohlen waren. In einem kleinen Zigarrengeschäft eines arischen Besitzers, das etwa 9 qm groß ist, nächtigten 14 Tage hintereinander zwei Juden auf Stühlen. Eine arische Pensionsinhaberin veranlasste - um einen besonders grotesken Fall zu berichten - zwei bei ihr wohnende SA-Leute, in einem jüdischen Club zu übernachten, der sich im gleichen Haus befand. Die Zimmer der SA-Leute wurden »Juden auf der Flucht« eingeräumt.
Die Auswahl der in Berlin verhafteten Juden dürfte nach folgenden Gesichtspunkten erfolgt sein:
1. Grundlage war das bei der Polizei befindliche Register der Juden, die ein Vermögen von mehr als RM 5000 - besaßen, also vermögensanmeldepflichtig waren.
2. Die Geheime Staatspolizeileitstelle Berlin ordnete die Verhaftung aller führenden Persönlichkeiten des jüdischen Organisationslebens an, mit Ausnahme des Gemeindevorstandes und des Rabbiners Dr. Baeck.
3. Es wird behauptet, ist aber nicht nachprüfbar, dass die ärztlichen und anwaltlichen Standesorganisationen für die Auswahl der zu verhaftenden Juden herangezogen worden sind. Vermögenslose Juden sind in Berlin kaum festgenommen worden. Fast jeder der im Konzentrationslager Sachsenhausen untergebrachten Häftlinge besaß ein Vermögen von mehr als RM 5000.-. Einige wenige sind zufällig »mitgenommen« worden.
Im Gegensatz [dazu] sind - wie bekannt - in der Provinz alle Juden mit Ausnahme der ganz alten festgenommen worden, z. T. sind in Hamburg, Breslau und Baden-Baden Juden aus den Hotels, von der Straße, in den Eisenbahnzügen verhaftet worden. In Hamburg wurde z. B. ein jüdischer Arzt, der schwerkrank zu Bett lag und nicht transportierbar war, in seiner Wohnung belassen; die Beamten fragten den Diener, der sie in das Zimmer des erkrankten Hausherrn führte, ob er Jude sei. Er bejahte dies und wurde mitgenommen. So wurden z.B. auch Verwandte, die sich in jüdischen Haushalten aufhielten, ohne aus der Stadt zu stammen, in der die Verhaftung vorgenommen wurde, »mitgenommen«.
Gelegentlich schützten wohlwollende Polizeiärzte festgenommene Juden vor dem Abtransport ins Lager. In einer westfälischen Großstadt suchte sich der Polizeiarzt seine ärztlichen Kollegen heraus und suggerierte ihnen Krankheiten, auf Grund deren er sie »nicht lagerfähig« schrieb.
In Berlin wurden am 11. und 12. November Verhaftete mit dem E.K. 1, Schwerkriegsverletzte und sichtbar Schwerkranke nicht in das KZ Sachsenhausen weiterbefördert, während am ersten Tag der Massenverhaftung niemand dem Abtransport entging. Im Lager selbst wurde auch auf sichtbare Krankheiten keine Rücksicht genommen, und eine Entlassung vom Lager aus nicht angeregt, sodass Krüppel mit allerschwersten Schädigungen den Aufenthalt im Lager wochenlang über sich ergehen lassen mussten. U. a. war ein Studienrat mitgeschleppt worden, der infolge Kinderlähmung auf beiden Beinen sich allein nicht fortbewegen konnte und von zwei Häftlingen auf den Schultern hängend zum Appell getragen werden musste.