Bericht über 1938, das Pogrom und seine Folgen in Berlin und Hamburg
Paul Dreyfus de Gunzburg, am 13. November 1938 aus Deutschland nach Basel ausgereist, berichtet am 27. November 1938 über die Lage der Juden in Deutschland ab März 1938 und über den Pogrom in Berlin und Hamburg:
27. November 1938
Ein Tatsachenbericht
Vorbemerkung: Man muss davon ausgehen, dass stimmungsmäßig in Deutschland weder die Eroberung Österreichs noch die Inbesitznahme des Sudetenlandes lange gewirkt haben. Die Stimmung bzw. Befriedigung über Österreich hielt noch verhältnismäßig länger vor als beim Sudetenland. Denn die Angst vor dem Kriege war wirklich riesengroß, und die Freude im so genannten Altreich bezog sich auf die Abwendung der Kriegsgefahr und auf nichts anderes. Das alles muss man natürlich im Großen und Ganzen sehen; denn es gibt selbstverständlich immer noch eine Anhängerschaft großen Ausmaßes. Jedoch waren sich maßgebende Kreise, besonders der Propagandaminister, keineswegs im Unklaren über die wahre Stimmung in den Tagen der Kriegsgefahr. Wer persönlich sowohl an jenem Dienstag den Ausmarsch der Truppen aus Berlin, der stundenlang den Verkehr lahmlegte, beobachtet hat und bemerken musste, dass überall gleichmäßig die spalierbildende Bevölkerung mit steinernen Gesichtern dastand und sich auch keine Hand rührte, als auch am darauf folgenden Mittwoch sah, wie die Massen aus den Betrieben zum Lustgarten geführt wurden, ohne einen Laut von sich zu geben, der konnte sich über die Stimmung nicht im Unklaren sein. Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, dass man nach der Münchener Konferenz auf der einen Seite nach Sündenböcken wegen der mangelnden Begeisterung gesucht und auf der anderen Seite erwogen hat, wie die Stimmung wieder aufgebügelt werden könnte. Dazu kam, dass tatsächlich Lebensmittel wie Butter, Eier usw. in der letzten Zeit immer knapper wurden. Dementsprechend war schon im Oktober eine immer stärker werdende Welle gegen die Juden zu bemerken. Offen und geheim. Maßvoll denkende Persönlichkeiten schüttelten die Achseln, erklärten aber, nichts tun zu können. Den Radikalen aber musste wieder etwas geboten werden. In Berlin nahmen die Lokale zu, die das bekannte Schild »Juden unerwünscht« anmachten oder anmachen mussten. Es gab im Herbst keinen Platz, ja kein Plätzchen mehr, das nicht die Schilder mit den Judenbänken enthielt. Manchmal war es so, dass sich nur das Schild daran befand, aber keine so genannte Judenbank.
Die Tatsachen: Nachdem also seit langem etwas in der Luft lag, nachdem auch auf arischer Seite auffallend viel Verhaftungen (in kommerziellen Kreisen) vorgenommen worden waren, konnte kein Zweifel mehr sein, dass die Schüsse auf Herrn vom Rath ein Signal darstellen würden. Schon am darauf folgenden Morgen wurde ja das Augenmerk darauf gelenkt, dass dies nicht ohne Folgen für die Juden bleiben würde. Am Mittwoch, dem 9. November, waren in Berlin in den Zeitungen offiziell Mitteilungen über Angriffe gegen die Juden in Kassel und im Kurhessischen veröffentlicht. Das war offenbar schon das offizielle Signal. Und nun die Nacht vom 9. zum 10. November:
Punkt drei Uhr nachts erschütterte das Haus, in dem ich wohnte und in dem sich ein kleines jüdisches Geschäft befand. Die beiden Fensterscheiben waren eingeschlagen und auch der Inhalt der Auslagen ruiniert. Ob das gleich beim ersten Male der Fall war, kann ich natürlich nicht beurteilen. Ich wohnte im Kurfürstendammviertel. Da ich bei offenem Fenster zu schlafen pflege, so hörte ich alsbald das Klirren der Fensterscheiben aus dieser Gegend. Eine Stunde später wiederholte sich die Sache. Auch in dem Hause, in dem ich wohnte, wurde zum zweiten Male ein Bombardement auf die noch heil gebliebenen Teile der Auslagen veranstaltet. Hier sah ich nun von meinem Fenster aus, wie ein kleines Auto vorfuhr, zwei Männer in Zivil ausstiegen und die Scheiben einwarfen. Offenbar war das alles genau vorbereitet; denn die Männer stiegen wieder ein, um in der Nähe dasselbe zu tun. Gegen sechs Uhr früh kam dann eine dritte Kolonne, die ebenfalls noch einmal zerstörte, soweit es etwas zu zerstören gab. In diesen drei Stunden hörte man in gewissen Zeitabständen immer wieder die Feuerwehr durch die Straßen rasseln, und der Rauch aus der Fasanenstraße ließ schon ahnen, was passiert sein mochte. Jedenfalls handelte es sich um eine planmäßige, durch SA, SS und Hitlerjugend in Zivil durchgeführte Aktion. In einem Friseurgeschäft wurde von einem Beteiligten in meinem Beisein erzählt, dass sie bis gegen drei Uhr nachts gesoffen hätten, um sich auf die Aktion vorzubereiten. Bei der Durchführung seien viele Juden »vertobakt« worden. Am nächsten Morgen bot sich ein grauenhaftes Bild, und die rauchende Synagoge in der Fasanenstraße wirkte wie ein Fanal. Die Menschen sahen sich, soweit ich es beobachten konnte, die Verheerungen schweigend und wohl zum Teil auch mit innerer Bewegung an. Ja, es kamen auch ganz offen Meinungen der Entrüstung zum Ausdruck. Als ich am Vormittag über den Kurfürstendamm ging, sprach mich impulsiv ein alter Herr mit schneeweißem Haar an und erklärte seine Entrüstung, indem er von einer Kulturschande sprach, die das deutsche Volle noch zu büßen haben würde.
Am Nachmittag reiste ich ab. Ich habe daher die Vorgänge am Donnerstag, dem 10. November nachmittags in Berlin, die ja im Hausvogteiviertel grauenhaft gewesen sein sollen, nicht mehr erlebt. In Hamburg bot sich aber ein ähnliches Bild wie bei der Durchfahrt durch Berlin. Die großen Häuser wie Robinsohn waren völlig zerstört und auch ausgeraubt. Auch in Berlin war viel geraubt worden. In Hamburg wurden die Tempel, wie mir gesagt wurde, nicht angezündet, sondern »nur« zerstört. Jedoch soll nach dem Donnerstag in Hamburg in der Öffentlichkeit nichts mehr vorgekommen sein. Jedenfalls habe ich dort bei einem Gang durch die Stadt gehört, wie eine sehr gut gekleidete Dame ganz laut sagte, das sei von den Hamburgern nicht zu verstehen. Sicher ist es jedenfalls, dass es schon am Freitagabend bei der Abfahrt großer Schiffe Schwierigkeiten gab, Juden herauszubekommen. Schlussbemerkung: Das sind also einige persönliche Erfahrungen, die aber nicht auch ungefähr ein Bild der Wirklichkeit geben, da ja ich immer noch das unvorstellbare Glück hatte, aus Berlin zu entkommen und auch durch glückliche Zufälle überhaupt aus dem Lande zu kommen. Samstagnacht entschwand Deutschland unseren Blicken. Die große Frage, um die es meines Erachtens geht, ist die, ob sich die Welt nun wieder beruhigen wird oder ob nicht. Die eigentliche Polizei ist völlig ausgeschaltet, und der Terror hat auf der ganzen Linie gesiegt. Da weiteste Teile des deutschen Volkes nicht antisemitisch sind und auch immer noch mit Juden Geschäfte machten, war an sich nach den Junivorgängen vorauszusehen, dass in irgendeiner Form Schluss gemacht würde. Dass es so wie jetzt geschehen würde, konnte allerdings niemand voraussehen. Die Welle mag vielleicht vorübergehend abebben, aber sie wird immer sich geltend machen. Nur wenn die großen Mächte sich völlig von dem Regime loslösen, ist mit einem Ende zu rechnen. Das wird zwar auch ein Ende mit Schrecken sein, aber es erscheint mir immer noch besser als ein Schrecken ohne Ende.
Übermittelt v. Paul Dreyfus de Gunzburg, Basel