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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bericht über das Pogrom und seine Folgen in Berlin und München

Ein Herr Oppenheim, nach dem Pogrom aus Berlin nach Amsterdam geflüchtet, berichtet 1945 über die Verschärfung der antijüdischen Politik in Deutschland seit Anfang 1938, die Lage der jüdischen Organisationen in Berlin nach dem Pogrom, insbesondere beim Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, bei dem er bis dahin tätig gewesen war, die Zerstörung der Synagoge und des Gemeindehauses in München und den wirtschaftlichen Zusammenbruch des deutschen Judentums infolge des Pogroms:

Delft, den 22. November 1938

Ich bin am 13. November im Flugzeug mit meiner Frau von Berlin nach Amsterdam gekommen und versuche im Folgenden, aus dem Gedächtnis Tatsachen wiederzugeben, die ich in den letzten Monaten selbst erlebt oder wahrheitsgetreu berichtet erhalten habe. Da es unmöglich war, über diese Vorgänge Notizen zu machen, müssen sie trotz allem mit einem gewissen Vorbehalt niedergeschrieben werden.

Der Wille, das Judenproblem einer endgültigen Liquidation in Deutschland zuzuführen, war seit Anfang 1938 erkennbar und fand seinen ersten entscheidenden Ausdruck in der Vermögenserklärung vom Anfang dieses Jahres. Die Art und Weise, in der die Angaben von den Juden verlangt wurden und in der die Kapitalisierung kleiner und kleinster Renten einen wesentlichen Bestandteil bildete, zeigte, dass man gewillt war, das jüdische Vermögen so hoch wie nur irgend möglich zu schätzen. Es folgten die Aberkennung von Steuererleichterungen jeder Art für Juden (Abschläge für Kinder, Besteuerung der jüdischen Wohlfahrtseinrichtungen etc.), die Aberkennung der öffentlich-rechtlichen Eigenschaft der jüdischen Gemeinden und der damit im Zusammenhang stehende nicht mehr mögliche zwangsweise Einzug der jüdischen Steuern, die zu einer freiwilligen Leistung wurden. Die Aufstellung der so genannten »gelben Bänke« war nur ein kleiner Nadelstich.

Ihren eigentlichen Auftrieb erhielt die radikale Strömung durch den Einmarsch in Österreich. Der Zuwachs der jüdischen Bevölkerung und die Tatsache, dass alle die Maßnahmen, welche im alten Reich im Verlauf von fünf Jahren eingeführt worden waren, dort in wenigen Wochen und im »Siegesrausch« nachgeholt wurden, griffen auf das Altreich über. Es kam zu dem bekannten Wiederaufleben des Boykotts, zu der Kennzeichnung der jüdischen Geschäfte durch Aufschrift der vollen Namen der jüdischen Inhaber auf die Schaufensterscheiben und Auflegen von Listen bei den Polizeirevieren. Der nächste Schlag war die Verhaftungsaffäre von Mitte Juni, durch die etwa 3000 Menschen ins Konzentrationslager verbracht wurden, von denen im Lager Buchenwald bei Weimar allein bis zum 30. September 146 gestorben waren. Weitere Maßnahmen führten zur Ausschaltung der jüdischen Ärzte, von denen insgesamt etwa 1200 (davonje ca. 400 in Berlin und Wien) als jüdische Krankenbehandler wieder zugelassen wurden oder werden sollen und von denen jetzt wiederum ein großer Teil verhaftet wurde. Der Entzug der so genannten Legitimationskarten, Stadthausierscheine etc. ver nichtete die Existenz weiterer Tausender von Familien. Zum i. Dezember erfolgte die Ausschaltung der Anwaltschaft, zum 1. Januar die Untersagung des Einzelhandels und des Gewerbebetriebs. Nebenher liefen Maßnahmen verwaltungsmäßiger Natur wie die Entziehung der Pässe, die Abstempelung der Auswandererpässe mit einem großen roten J, die Entziehung der Waffen, die besondere Kennzeichnung von Autos in jüdischem Besitz, die zwangsweise Einführung der Vornamen Sara und Israel und die Einführung der Kennkarte mit Fingerabdruck und deutlich sichtbarem linken Ohr.

Ohne Zweifel ist in dieser Aufstellung eine große Zahl minder wichtiger Maßnahmen nicht enthalten. Ich gehe nunmehr dazu über, die entscheidende Entwicklung der letzten Wochen darzustellen. Das tschechoslowakische Problem, das gleichzeitig durch die im sudetendeutschen Gebiet vorhandenen jüdischen Gemeinden eine neue »Belastung« mit Juden zu bringen versprach, hat sichtlich zu abschreckenden Maßnahmen geführt, um die jüdische Bevölkerung zu einer freiwilligen Evakuierung zu veranlassen. Aus glaubwürdiger Quelle stammen Nachrichten, wonach im Falle einer Mobilisierung am Mobilisierungstag der SA eine »Nacht der langen Messer« zugebilligt werden sollte. Die Beschlüsse hierüber sollen auf dem Parteitag im September gefasst worden sein. Dass diese Nachricht begründet ist, geht daraus hervor, dass es an dem geplanten Mobilmachungstag, nämlich in der Nacht vom 28. zum 29. September, an kleineren Plätzen, wohin die Nachricht von der abgesagten Mobilmachung sichtlich nicht rechtzeitig gedrungen war, zu pogromartigen Ausschreitungen kam, die besonders schwer in Bayern (Rothenburg ob der Tauber) und im Gebiet von Flessen und Hessen-Nassau waren. In Rothenburg und anderen bayrischen Orten und auch im Hessischen kam es zu schweren Misshandlungen. Aus Rothenburg und anderen Orten wurden die Juden innerhalb von 24 Stunden ausgewiesen und fanden in größeren Städten des Reiches bei Freunden oder Verwandten Zuflucht.

In einem kleinen Städtchen in der Mark wurde die Synagoge völlig zerstört, und die gesamte Gemeinde, bestehend aus 21 Familien, wurde verhaftet und erst nach etwa acht Tagen wieder freigelassen. Man begründete die Maßnahme damit, man wolle verhindern, dass Nachrichten hierüber in die Auslandspresse gelangten.

In Langen bei Frankfurt am Main wurde nachts die Synagoge erbrochen, die Kultgegenstände geraubt und die Eingangstür vermauert. Am nächsten Vormittag erschien ein Polizist bei dem Vorsteher der Gemeinde und teilte mit, man habe einem Maurermeister Auftrag gegeben, die Tür wieder zu öffnen, der Vorsteher solle den Schlüssel zum eisernen Tor aushändigen. Dies geschah auch. Kurze Zeit danach erschien die Staatspolizei und verhaftete den Vorsteher, weil er eigenmächtig die Synagoge wieder habe öffnen lassen. Es liegt kein Anhaltspunkt dafür vor, dass die Polizei etwa mit der Stapo Hand in Hand gearbeitet hat. Es scheint vielmehr so zu sein, dass die Polizei durchaus gutwillig war. In einem anderen Ort in der Nähe von Frankfurt am Main, wenn ich nicht irre, Seligenstadt am Main, spannte man am Freitagabend über die Straße, durch die die Juden zur Synagoge gingen, Stricke, sodass sie zur Erheiterung der halbwüchsigen Zuschauer stolperten und hinfielen.

Gleichzeitig begann vor allem in bayrischen Gebieten die mehr oder minder zwangsweise Enteignung von Grundstücken zu den lächerlichsten Preisen. Man schickte irgendeinen angeblichen Käufer zu dem betreffenden jüdischen Grundbesitzer und zwang ihn, sein Grundstück zu dem angegebenen Preis zu verkaufen, indem man ihm androhte, man werde ihn sonst verhaften. Selbst in einer Stadt wie Würzburg wurden diese Methoden angewandt. Auf diese Weise wurden auch zahlreiche Grundstücke, die jüdischen Gemeinden gehörten, enteignet. Synagogen wurden beschlagnahmt und zu Getreidespeichern verwandt usw.

In Berlin hatte man sich in jenen Tagen eine besondere Methode ausgedacht, um die jüdische Bevölkerung in ständiger Unruhe zu halten und sie mürbe zu machen. Einmal geschahen zahlreiche Cafehausrazzien, auch [eine] Razzia in dem einzigen Freibad bei Berlin (Stölpchensee), das Juden noch den Zutritt erlaubte. Personen, die sich legitimieren konnten, wurden im Allgemeinen nicht behelligt, jedoch war es vollkommen unterschiedlich, was man als Legitimation gelten ließ. In manchen Fällen genügte das Vorzeigen auch abgelaufener Pässe. In anderen Fällen sah man hierin ein schweres Vergehen, das zur Verhaftung führte, obwohl eine Anordnung zur Ablieferung abgelaufener Pässe damals noch nicht ergangen war; sie erfolgte erst am 15. Oktober. Diejenigen Personen, die man verhaftete, wurden im Allgemeinen nach zwei bis drei Tagen wieder freigelassen.

Im Hinblick auf solche Razzien tat sich besonders der Leiter des Polizeireviers Grolmannstraße in Berlin-Charlottenburg hervor, ein Polizeihauptmann Schneider, von dem man sagt, dass er ein Schwager des Chefs der deutschen Polizei, General Daluege, sei. Er war auch der Erste, der die so genannten Verkehrsfallen für Fußgänger einrichtete. Sie befanden sich an besonders verkehrsreichen Punkten, wie Kurfürstendamm, Ecke Uhlandstraße, Kurfürstendamm, Ecke Leibnizstraße, Kurfürstendamm, Ecke Wilmersdorferstraße. Fußgänger, die die Straße falsch oder, was meistens der Fall war, angeblich falsch überquerten, wurden angehalten und gefragt, ob sie Juden oder Nichtjuden seien. Waren es Nichtjuden, so ließ man sie laufen oder verhängte über sie die übliche Polizeistrafe von RM 1.-. Waren es dagegen Juden, so wurden sie mit zur Wache genommen, mindestens einen halben Tag festgehalten und erhielten dann einen Strafbefehl zwischen RM 50 - und 300-, womit sie als vorbestraft galten und in ständiger Angst lebten, bei einer Razzia als »Verbrecher« verhaftet zu werden.

Dies war nämlich die Begründung für die Verhaftungen im Juni dieses Jahres, die sich auf ein Gesetz stützten, wonach Schwerverbrecher jederzeit in Vorbeugungshaft genommen werden können. Die damals Verhafteten mussten ein Formular dieses Inhalts unterschreiben! Die gleiche Kontrolle erstreckte sich auf jüdische Autos, die, um sie sofort kenntlich zu machen, die Nummern über 350000 erhalten hatten. Die meisten jüdischen Autobesitzer stellten daher ihre Wagen ein, was bei den Entfernungen in Berlin im Geschäftsverkehr eine erhebliche Belastung bedeutete. Diese Verkehrsfallen im Westen machten Schule, und es wurden neue bezeichnenderweise am Antonplatz in Weißensee, wo die jüdischen Friedhofsbesucher die Straße überqueren mussten, und in der Iranischen Straße vor dem Jüdischen Krankenhaus eingerichtet. Man kann sich leicht vorstellen, wie zahlreich hier die Verstöße gegen die Verkehrsordnung waren, wenn die von Leid und Sorgen erfüllten Menschen zum Friedhof oder zum Krankenhaus gingen oder von da zurückkamen. Auch die Einrichtung der gelben Bänke erfuhr eine Verschärfung. Während an den Plätzen, wo solche Bänke nicht vorhanden waren, die Juden nach wie vor die allgemeinen Bänke benutzen konnten, ging man nun dazu über, Schilder aufzustellen mit folgender Aufschrift: »Für Juden sind im Verwaltungsbezirk... nur die gelben mit J bezeichneten Bänke zur Benutzung freigegeben«. Damit waren sie also auf die Benutzung der wenigen gelben Bänke angewiesen.

Als es zu dem Zwischenfall in Antwerpen kam, sah es schon damals so aus, als ob man diesen Anlass benutzen wolle, um die geplante große Aktion ins Werk zu setzen. Man beschränkte sich aber dann zunächst auf das Verbot sämtlicher jüdischer Veranstaltungen. Darunter fielen auch die Kurse und Sprachkurse der Lehrhäuser, die gerade ihr Herbstsemester beginnen wollten und zu denen schon zahlreiche Hörer aus der Provinz in die Städte gereist waren. Es handelt sich hierbei meist um so genannte Intensivkurse, in denen täglich vier Wochen hindurch acht Stunden gearbeitet wird. Nur das Kulturbundtheater durfte seine Vorstellungen fortsetzen.

Es begann auch die Aktion der Kündigung von Wohnungen. Sie erfolgten nach dem Wiener Muster zu Tausenden und brachten die größte Verwirrung in jüdische Kreise, da Ersatzwohnungen bei dem herrschenden Mangel an Räumen kaum zu erhalten waren. Besonders erschwerend wirkte sich eine Aktion aus, die die Arbeitsfront einleitete und die unter mehr oder minder großem Zwang die Inhaber jüdischer Pensionen zum Verkauf zwang, wodurch vor allem zahlreiche ältere Leute obdachlos wurden und wodurch den zahlreichen Ärzten, denen bekanntlich durch Sondergesetz die Wohnungen innerhalb von sechs Wochen gekündigt worden waren, die vorläufige Zuflucht in Pensionen fast unmöglich gemacht wurde.

Alle diese Maßnahmen hatten in der jüdischen Bevölkerung bereits zu einer völligen Verzweiflung geführt. Die Sprechstunden der jüdischen Hilfsorganisationen (Hilfsverein, Central-Verein, Palästina-Amt) waren von Menschen überfüllt, denen kaum ein Rat erteilt werden konnte, da sich inzwischen durch den verschärften Auswanderungsdrang und durch die erzwungene illegale Auswanderung die Einwanderungsländer eines nach dem anderen verschlossen hatten. Die Berater in den jüdischen Institutionen wurden immer mehr zu Seelsorgern, die Menschen vor verzweifelten Schritten abhalten mussten. In dieser Situation erwies es sich als nicht ungünstig, dass die drei oben genannten Institutionen nebeneinander, aber in ihrer Arbeit aufeinander abgestimmt, noch arbeitsfähig waren.

Der letzte Akt der deutschen Judentragödie wurde durch die Polenaktion eingeleitet. In der Nacht vom 27. zum 28. Oktober wurden in der Zeit zwischen 4 und 7 Uhr morgens sämtliche männlichen jüdisch-polnischen Staatsangehörigen von etwa 16 Jahren aufwärts verhaftet (in der Provinz teilweise auch Frauen und Kinder) und in Sammeltransporten zur Grenze befördert. Die deutschen Juden sahen hierin nur ein Vorspiel für das ihnen selbst drohende Schicksal. Umso erstaunlicher ist es, dass diese gleiche Gemeinschaft es innerhalb von wenigen Stunden ermöglichte, Tausende von polnischen Juden vor ihrem Abtransport an die Grenze z.B. in Hamburg und Berlin auf den Bahnhöfen zu verpflegen und dass das Gleiche geschah, als ein Teil dieser unglücklichen Menschen durch die inzwischen eingeleiteten Maßnahmen der polnischen Regierung in völlig erschöpftem Zustand wieder zurücktransportiert wurde. Die jüdische Gemeinde Berlin übernahm es sogar, einen Teil der Transportkosten (wenn ich nicht irre, RM 60000.-) aufzubringen und diese Menschen wieder in ihre Wohnsitze zurückgelangen zu lassen. Es dürfte fast einzigartig in derjüdischen Geschichte sein, dass sich Hilfsbereitschaft solcherweise äußerte, wobei auch nicht vergessen werden soll, dass der Niveauunterschied zwischen west- und osteuropäischen Juden und die dadurch bestehende Spannung selbstverständlich auch in Deutschland keineswegs geschwunden war.

In diese erregte Atmosphäre fiel das Attentat von Paris. Kein Jude in Deutschland war sich im Zweifel, dass nunmehr die schlimmsten Ereignisse zu erwarten seien. Kein Jude jedoch konnte auch nur ahnen, dass die Folgen derartig grausam vernichtend sein würden. Die ersten Tage nach dem Attentat verliefen bekanntlich ruhig. Es kam zu keinerlei Ausschreitungen. Die Rede, die Hitler am Abend des 8. November im Bürgerbräukeller in München hielt, erwähnte das jüdische Problem mit keinem Wort, sodass man hoffen konnte, die zu erwartenden Maßnahmen würden zwar nicht ausbleiben, aber nicht in der ersten Erregung, sondern mit Überlegung diktiert werden. Am Dienstag, den 8. November, erfolgte das Verbot der gesamten jüdischen Presse in Deutschland, die an diesem Tage aus den drei großen Zeitungen: CV-Zeitung (Auflage 40000), Jüdische Rundschau (Auflage 26000), Israelitisches Familienblatt (Auflage 25000), etwa 25 Gemeindeblättern, darunter das von Berlin mit einer Auflage von 40000, vier Blättern der jüdischen Kulturbünde (Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, Köln), den Blättern des jüdischen Frauenbundes, des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten, dem »Morgen«, der historischen »Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland«, dem »Makkabi« und einigen anderen kleineren Blättern bestand. Solche Verbote der jüdischen Presse pflegten antisemitischen Exzessen im Allgemeinen vorauszugehen, weil dadurch die Verbindung der Juden untereinander gelöst, jede Informationsmöglichkeit unterbunden wurde. Am Mittwoch, dem 9. November, wurden die Chefredakteure der in Berlin erscheinenden jüdischen Zeitungen auf Donnerstag, den 10. November, vormittags 10 Uhr zur Stapo nach dem Alexanderplatz bestellt.

Am Mittwochabend starb vom Rath. Am Mittwochabend und in der Nacht von Mittwoch zu Donnerstag bewegte sich der organisierte Mob in Zivil vom Osten Berlins ins Zentrum und nach dem Westen und demolierte systematisch sämtliche jüdischen Geschäfte. Da sie gekennzeichnet waren, war dieses vandalische Vernichtungswerk leicht ohne Gefährdung nichtjüdischer Geschäfte durchzuführen. Die Zerstörung war gründlich. Kein Stück blieb auf dem anderen. Die Waren wurden auf die Straße geschleudert, sie wurden zerrissen und zum großen Teil geraubt. Fast zur gleichen Stunde gingen die Synagogen in Berlin und im Reich in Flammen auf. Die Feuerwehr beschränkte sich darauf, die umliegenden Gebäude zu schützen, und überall da, wo die randalierende Menge erschien, verschwand die Polizei, um die Plünderer nicht an ihrem Werk zu hindern. Das Publikum verhielt sich in den meisten Fällen vollkommen still, d. h. ablehnend. Zu Missfallenskundgebungen kam es vereinzelt. Sie wurden unterbunden, da man solche Personen verhaftete. Die Zerstörungswut setzte sich in Berlin und im Reich am Donnerstag noch fort. Sie wurde abgelöst durch die Welle der Verhaftungen, von der meiner Schätzung nach mindestens 10000 jüdische Männer im Alter zwischen 16 und 60 Jahren betroffen wurden.

Am Donnerstagvormittag hatten die jüdischen Organisationen in Berlin freiwillig ihre Räume geschlossen, nachdem man in der Nacht ins Palästina-Amt und die Räume der Zionistischen Vereinigung für Deutschland eingedrungen war und sie teilweise zerstört hatte. Nur der Central-Verein erhielt mit etwa 15 Leuten einen Notdienst aufrecht. Von seinen Dezernenten waren an diesem Vormittag Dr. Alfred Hirschberg, Dr. Ernst G. Loewenthal, Frau Dr. Eva Reichmann-Jungmann als Vertreter der Presse wie oben erwähnt zur Staatspolizei bestellt. Der Berichterstatter sowie der zweite Syndicus des Vereins, Dr. Hans Reichmann, und die Kollegen Dr. Werner Rosenstock, Amtsgerichtsrat a. D. Dr. Fritz Goldschmidt, Regierungsdirektor i. R. Friedländer versahen den Dienst. Es mehrten sich stündlich die Meldungen über schwere, auch körperliche Ausschreitungen in der Provinz, teilweise mit tödlichem Ausgang. Kurz nach 13 Uhr erschienen drei Beamte der Staatspolizei in Zivil, besetzten die Telefonzentrale und holten die Anwesenden aus sämtlichen Räumen.

Sie mussten Hut und Mantel anziehen, wurden kurz visitiert und dann einzeln entlassen. Die Räume des CV wurden versiegelt, die Schlüssel zu den Räumen und die Schlüssel zum Safe den Beamten übergeben. Keiner der Anwesenden wurde verhaftet. Der Ton bei der Durchführung der Aktion war energisch, aber korrekt. Es fielen lediglich hier und da Worte wie »das Weitere werden Sie sehen«, »das Lachen wird Ihnen noch vergehen« (es hatte natürlich kein Mensch gelacht) und Ähnliches.

Der Berichterstatter begab sich in die Wohnung von Dr. Hirschberg und erwartete dort seine Rückkehr. Sie erfolgte gegen 16 Uhr. Auch alle anderen Redakteure waren entlassen worden. Man hatte sie von 8 Uhr vormittags bis zu diesem Zeitpunkt festgehalten, ohne dass irgendeine Vernehmung oder sonst etwas geschah, sie dann nach Hause geschickt und auf Freitagvormittag um 10 Uhr wiederum bestellt. Inzwischen stellte sich heraus, dass die zahlreichen Verhaftungen vor allem begüterten Personen galten, Anwälten, Ärzten und führenden jüdischen Persönlichkeiten. Man wollte also sichtlich alle die Menschen, welche in diesen aufgeregten Tagen die jüdischen Menschen hätten beraten oder beruhigen können, beseitigen. Es begann die Flucht der jüdischen Männer aus ihren Wohnungen. Sie schliefen meistens in männerlosen Haushalten, verreisten in die Provinz, hielten sich in den Wäldern verborgen, fuhren die Nacht hindurch auf den Untergrund- und Stadtbahnen hin und her.

Am Freitagvormittag erfolgte die Entlassung der Redakteure gegen 13 Uhr. Sie hatten ein Revers unterschreiben müssen, wonach ihre Zeitung auf drei Monate verboten sei. Während wir in der Wohnung von Dr. Hirschberg auf seine Rückkehr warteten, erleichtert, weil er soeben telefoniert hatte, erschien die Kriminalpolizei, um ihn zu verhaften. Während wir noch mit ihr verhandelten und persönlich wiederum visitiert wurden, erschien Dr. Hirschberg in der Wohnung. Er erklärte, dass er soeben entlassen worden sei, und auf seine Vorstellung hin telefonierten die Beamten mit dem Polizeipräsidium. Allerdings vergeblich. Dr. Hirschberg wurde verhaftet. Schon am Tage zuvor war Dr. Hans Reichmann, den man am Vormittag freigelassen hatte, aus der Wohnung abgeholt worden. Im Laufe des Freitag wurde trotzdem von der Kriminalpolizei noch zweimal bei ihm in der Wohnung nach ihm gefahndet.

In Berlin sind nicht alle Männer zwischen 16 und 60 Jahren verhaftet worden. Es scheint auch diesmal wie im Juni den Polizeirevieren die Auflage gemacht worden zu sein, aus ihrem Bezirk eine bestimmte Anzahl von Menschen zu verhaften und sich diesmal an Intellektuelle und Vermögende zu halten. Diese Auffassung findet u. a. ihre Bestätigung in folgendem Vorfall: Einer meiner Kollegen war am Freitag in seiner Wohnung gesucht und dort nicht angetroffen worden. Man hat seiner arischen Frau damit gedroht, sie zu verhaften, falls der Mann nicht bis zum nächsten Vormittag zur Stelle sei. Auf mein Anraten begab sich der Mann auch nach Hause und wartete auf seine Verhaftung. Er wurde j edoch nicht abgeholt, und ich habe mit dem Datum vom 20. November einen Brief von ihm hierher erhalten. Wahrscheinlich hat man an seiner Stelle einen anderen geholt, um die Quote aufzufüllen. Jüdischen Blinden, auch Kriegsblinden, hat man vor einiger Zeit die Vergünstigungen auf die öffentlichen Verkehrsmittel entzogen. Die jüdische Blindenanstalt in Berlin musste zum 1. Oktober ihre jüdischen Stadtvertreter, die bei der jüdischen Kundschaft Korb- und Flechtwaren absetzten, entlassen, da sie keine Legitimationslcarte mehr erhielten. Die Blindenanstalt wurde aufgefordert, arische Vertreter zu engagieren.

Die Abgabe der Waffen, die generell ja erst durch ein Gesetz nach dem 9. November angeordnet wurde, vollzog sich seit etwa Anfang Oktober in den verschiedensten Formen. Im Allgemeinen erfolgte eine Vorladung zu einem bestimmten Zeitpunkt auf das Polizeirevier. Manche Reviere bestellten aber mehrere 100 Menschen auf einmal und ließen sie in Turnhallen oder Höfen stundenlang warten, bis an jeden die Frage nach der Waffe, dem Führerschein für Autos und sonstigen Legitimationspapieren gerichtet wurde. Ein Polizeirevier im Nordosten Berlins bestellte zur Zeit der hohen jüdischen Feiertage im September die Männer täglich mehrmals morgens um 7, mittags um 12 und nachmittags zur Meldung. Dadurch war es kleineren Geschäftsleuten, die während dieser Zeit natürlich ihren Laden schließen mussten, oft tagelang nicht möglich, ihren Geschäften nachzugehen. Bei der Abgabe der Waffen, unter die auch Mensurdegen, Turnsäbel und Armeerevolver fielen, die während des Krieges zwangsweise von den Besitzern erworben werden mussten, musste ein Revers unterschrieben werden, dass die Abgabe freiwillig erfolge. Irgendeine Entschädigung ist selbstverständlich nicht bezahlt worden. Es bedarf wohl keines Hinweises, dass jeder Jude, der noch im Besitz einer Waffe war, den dazu erforderlichen Waffenschein besaß.

Man muss sich darüber klar sein, dass die Gesetze vom 12. November den vollständigen materiellen Ruin des deutschen Judentums bedeuten. Wie sich dieser Zusammenbruch selbst in Kleinigkeiten auswirkt, soll an einem Beispiel gezeigt werden. Auswandernde Familien pflegten im Allgemeinen ihre Möbel zu verkaufen. Aus dem Erlös erwarben sie entweder kleine speziell für die Auswanderung geeignete neue Möbel, oder sie bezahlten davon Passage und Fracht ins neue Land. Allein die Auflösung von Haushalten in dem bisher üblichen Rahmen hatte in den letzten Jahren die Preise am Altmöbelmarkt erheblich gedrückt. Durch die Polenaktion trat eine abermalige Baisse ein. In diesen Tagen dürften in Deutschland wohl Tausende von Haushalten plötzlich zur Auflösung gelangen, für Möbel, Bücher, Bilder, Teppiche etc. überhaupt keine Preise mehr zu erzielen sein, wodurch bei zahlreichen Familien die materiellen Grundlagen der Auswanderung zerstört wurden. Es ist leicht, sich auf Grund dieses Beispiels Parallelfälle auf anderen Gebieten zu konstruieren.

Über den Abbruch der Münchener Synagoge und des Münchener Gemeindehauses in der Herzog-Maxstraße sind mir folgende Einzelheiten bekannt. Oberstlandesgerichtsrat Neumeyer wurde ins Innenministerium gebeten, wo man ihm er-öffnete, dass am darauf folgenden Tag mit dem Abbruch der Synagoge begonnen werde. Man verlangte von ihm bzw. von der Gemeinde bis zum Abend eine Erklärung darüber, dass die Gemeinde mit dem Abbruch der Synagoge einverstanden sei. Diese Erklärung wurde in der verlangten Form nicht abgegeben. Es blieben knapp zwölf Stunden Zeit in der Nacht, um die Kultgegenstände aus der Synagoge zu holen. Man bot damals der Gemeinde einen Kaufpreis für Synagoge und Gemeindehaus in Höhe von, soweit ich mich erinnere, RM 300000-, während allein die Baukosten der Synagoge ohne den Grund und Boden seinerzeit eine Million Reichsmark betragen hatten. Da diese Gebäude an einer besonders günstigen Stelle der Stadt liegen, war der Wert des Grundstückes von Jahr zu Jahr gestiegen. Der Abriss der Synagoge selbst wurde in knapp 14 Tagen vollendet, und es wurde dort zur Eröffnung der Deutschen Kunstausstellung ein Autoparkplatz errichtet.

Stimme aus dem Volke: An einem der Feiertage im September verließ eine junge jüdische Frau die Synagoge und streichelte auf der Straße einen kleinen Hund. Die Hundebesitzerin schrie hierauf: »Waldi, lass dich nicht mit den Juden ein und bleibe ein anständiger Hund.«

In den letzten Monaten mehrten sich die Fälle, in denen man die arischen Frauen jüdischer Männer zur Staatspolizei vorlud, um sie dort unter mehr oder minder großen Druck zu setzen, damit sie sich von ihren Männern scheiden ließen. Auch hierzu ein kleines Beispiel: In dem bekannten Geschäft von Rosenhain in Berlin am Kurfürstendamm hatte man bei der Arisierung des Geschäftes die arische Angestellte eines jüdischen Mannes, die bei der Eheschließung zum Judentum übergetreten war, veranlasst, aus dem Judentum wieder auszutreten, damit sie ihre Stellung behalten konnte. Wenige Tage darauf wurde sie trotzdem entlassen, weil sie die Ehe nicht gelöst hatte und infolgedessen an dem Betrieb nicht das Schild »Wir marschieren geschlossen in der Arbeitsfront« angebracht werden konnte. Ihre Aufnahme in die Arbeitsfront konnte deswegen nicht erfolgen, weil sie noch mit einem Juden verheiratet war. Auf der anderen Seite hatte sich die Jüdische Gemeinde geweigert, dem jüdischen Mann eine Aushilfsbeschäftigung zu geben, weil seine Frau aus dem Judentum ausgetreten war. Im Hinblick auf die Jüdische Gemeinde konnte die Angelegenheit natürlich nach einiger Zeit geklärt werden.

Herr Oppenheim, jetzt (1945) New York

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